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4. Kapitel

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Ötztal, Tirol

26. August 2017

Das alte Bauernhaus hatte einen aus Stein gemauerten Keller mit rohem Erdboden, auf den er nachträglich eine Bodenplatte betoniert hatte. Das Außenmauerwerk hatte er erst kürzlich freilegen lassen, es wurde entfeuchtet, mit einer dicken Dämmung und einer Abdichtung versehen und der Arbeitsraum im Erdreich war mit grobem Kies hinterfüllt worden. So verhinderte er, dass sich das Gemäuer wieder mit Feuchtigkeit vollsog, da das Wasser durch den groben Kies schneller absickern konnte. Die Elektroleitungen und die sanitäre Installation waren ebenfalls brandneu, auch die morsche Holztramdecke über dem Keller war durch eine Betondecke ersetzt worden. Eine massive und gedämmte Eisentür verschloss den Zugang zur gewendelten Kellerstiege aus behauenen Granitblöcken.

Der Raum, den er sich für seinen Gast ausgesucht hatte, verfügte gleich über mehrere Vorzüge, die Berger besonders gefielen. Das Wichtigste war wohl, dass der Raum kein Fenster hatte und nur durch einen kleinen, in der Decke eingelassenen Ventilator mit Frischluft versorgt wurde. Ebenfalls hervorragend war der Umstand, dass die Kelleraußenwand in diesem Bereich fast vier Meter hoch mit Erdreich hinterfüllt war. Dies und die 40cm starke Kellerdecke verhinderten, dass auch nur der geringste Ton nach draußen gelangen konnte. Zu guter Letzt verschloss den Raum eine fast zwölf Zentimeter dicke Eichentür, die Berger liebevoll restauriert hatte und die mit massiven Eisenbändern in den Steinwänden befestigt war. Es fehlte außerdem nicht an Steckdosen und ein schlichtes, weiß emailliertes Waschbecken diente der Wasserversorgung und der Reinigung.

In der Mitte des Raumes, direkt unter einer einzelnen LED-Birne, die in eine schmucklose Fassung geschraubt war, stand ein einfacher Holzstuhl, der mittels Stahllaschen auf die harten, weißen Fliesen gedübelt worden war. Und auf diesem Stuhl saß, fein säuberlich gefesselt, ein kleiner dicker Mann und weinte. Sein spärliches Haar klebte wirr an seinem fleischigen Kopf, geronnenes Blut verkrustete an mehreren Wunden, die nicht versorgt worden waren. Das rechte Auge war völlig zugeschwollen und schimmerte in einem satten, bläulichen Ton. Rotz lief ihm aus der gebrochenen, geschwollenen Nase und färbte den Kragen seines weißen Unterhemdes schmutzig gelblich ein.

Außer diesem Unterhemd trug der Mann nichts. Er wusste nicht, wo seine restliche Kleidung war, in dem kleinen Raum war sie jedenfalls nicht zu entdecken. Einmal hatte er bereits urinieren müssen und sich dabei selbst beschmutzt. Das Rinnsal zog sich von seinen Knöcheln etwa einen Meter weit, bis es in einem Gully verschwand, der in den Fliesen eingelassen war. Der Mann konnte sich nur verschwommen daran erinnern, was ihm widerfahren war. Seine trägen Gedanken, die sich seit ein paar Stunden nur mit Schmerz und Angst befasst hatten, versuchten nun langsam herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Eben hatte er noch in dem Heuschober gesessen und sich die nackte Frau angesehen, dann war ihm plötzlich und aus heiterem Himmel ein LKW gegen den Kopf gefahren. So hatte es sich jedenfalls angefühlt, und als er wieder zu sich gekommen war, hatte er sich in dieser misslichen Lage wiedergefunden.

Mit der Spitze seiner geschwollenen Zunge betastete er die Innenseite seiner Zähne. Stechender Schmerz durchzuckte ihn und ließ ihn aufstöhnen, als er an die Ruine dessen stieß, was einst seine durch teure Zahnspangen ordentlich gerichteten Schneide- und Eckzähne waren. Eine Welle von urplötzlicher Übelkeit überkam ihn und er übergab sich würgend und röchelnd auf seine Oberschenkel.

„Wahhh, Scheiße, nein…“, stammelte er und würgte erneut, als der Gestank des klebrigen Breis in seine lädierte Nase stieg. Sein ganzer Kopf pochte rhythmisch zu seinem Herzschlag, ausgelöst durch die heftige Bewegung, als er sich übergeben hatte. Dann hörte er die Schritte draußen und als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, erstarrte der kleine dicke Mann. Der Schlüssel drehte sich und die Tür schwang auf. Geschockt und völlig unfähig, sich zu bewegen, erkannte der kleine Mann die ganz in schwarz gekleidete Gestalt, die mit langsamen Schritten auf ihn zukam. Mit panischen, weit aufgerissenen Augen starrte der Gefesselte in die Augen seines Peinigers, denn nur die konnte er im durch eine Sturmhaube verhüllten Antlitz erkennen.

Berger schüttelte angewidert den Kopf, als er die Kotze und die Pisse roch und sich das widerliche Etwas ansah, dass da vor ihm kauerte. Er griff nach einem Gartenschlauch, der aufgerollt über einem Metallhaken hing, und steckte die Kupplung an einen Wasserhahn. Dann drehte er den Hahn voll auf und richtete den Schlauch auf sein Opfer. Höchste Zeit, hier etwas aufzuräumen, dachte er, und betätigte den Pistolengriff an der Schlauchspritze. Bei diesem Gestank kann ich nicht arbeiten, dachte er weiter, während der andere Mann wie am Spieß schrie, weil ihn eiskaltes Wasser mit brutaler Gewalt mitten ins geschundene Gesicht traf. Berger ließ eisiges Wasser auf sein Opfer prasseln und wusch die ganze Sauerei in den Gully. Er ignorierte das Geschrei des kleinen Mannes so lange, bis dieser schließlich aufgab und nur mehr leise vor sich hin wimmerte.

Schließlich ließ er von ihm ab, rollte den Schlauch wieder zusammen und hängte ihn auf den Haken. Er drehte sich um und betrachtete das zitternde, weinende Stück Fleisch, das seltsam schräg verkrümmt auf dem Holzstuhl kauerte. Berger beobachtete den Mann und forschte in seinen eigenen Gefühlen nach so etwas wie Mitleid und Güte, fand aber stattdessen nur Abscheu und Wut. Er wusste, dass er es mit diesem Typ schon fast zu weit getrieben hatte, und er kannte sich selbst lange genug, um zu wissen, dass er nun einen Gang zurückschalten musste.

Diesen Mann – nein, Mann war nicht der richtige Ausdruck für dieses feige Stück Scheiße – diesen Perversling einfach zu töten hätte ihm nicht das Geringste ausgemacht. Er hätte ihn ganz einfach an seinem fetten Hals packen können, um ihm die Luft ganz langsam, mit stets steigendem Druck seiner Finger, abzuschneiden. Der Todeskampf hätte lange gedauert und dann wäre es vorbei gewesen. Nichts leichter als das. Doch Berger hatte schon oft getötet. Viel zu oft. Und so sehr er das wimmernde Etwas vor sich auf dem Stuhl auch verabscheute, den Tod hatte es wohl nicht verdient. Er entschied sich dafür, diesen Stalker und Triebtäter noch ein paar Tage zu quälen und seiner Wohnung einen folgenschweren Besuch abzustatten. Vermutlich hatte dieser Typ ohnehin belastendes Material auf seinem PC gespeichert, doch falls dem nicht so war, so wusste Stefan Berger, wie dies zu ändern war. Ein paar Anrufe bei den richtigen Stellen und einer Anzeige wegen Kinderpornografie stand nichts mehr im Wege. Das würde diesen Verbrecher ausreichend beschäftigen und ihn wohl davon abhalten, erneut unschuldige Frauen zu belästigen. Vorher würde er ihn heimlich zu Hause abliefern, einen Einbruch vortäuschen und die Wohnung etwas verwüsten. Ein Raubüberfall sollte leicht darzustellen sein. Und beim Ermitteln würde dann das belastende Material auftauchen. Einfach, aber wirkungsvoll.

Der Plan erhielt eben seinen letzten Schliff in Bergers Kopf, als sein Smartphone in seiner Hosentasche vibrierte. Er zog es heraus und drehte sich um. Der Mann sah aber ohnehin nicht zu ihm hoch, sein Kopf war gegen die Brust gesunken und er stöhnte vor sich hin. Berger sah, dass seine Überwachungskamera, die er am Dachgebälk zur Observierung seines Eingangsbereichs montiert hatte, eine Kontaktmeldung abgesetzt hatte. Berger lud die Bilder, die die Kamera automatisch an sein Telefon gemailt hatte. Er erkannte einen etwas kurz geratenen Mann mit breiten Schultern und grauen, kurzen Haaren. Die Türglocke, die der Mann auf den Fotos der Kamera gerade drückte, konnte Berger hier unten nicht hören, deshalb schaltete er die Kamera auf Livestream um, wartete einige Sekunden, bis das gestochen scharfe Bild erschien, und beobachtete den Mann vor seiner Türe. Fast eine halbe Minute lang drückte der Unbekannte immer wieder auf den Knopf der Türklingel und wartete darauf, dass ihm geöffnet wurde. Schließlich ließ er ab und setzte sich auf die Bank neben der Haustüre. Es sah ganz so aus, als würde sich dieser Besucher nicht davon abhalten lassen, Berger zu erwischen.

Verdammt, dachte Stefan, ausgerechnet jetzt. Er dachte kurz nach, dann verstaute er sein Smartphone wieder in der Hosentasche. Der Stalker wimmerte immer noch auf seinem Stuhl und Berger entschied, dass er sich wohl zuerst um seinen Besucher würde kümmern müssen. Danach konnte er hier unten seine Arbeit fortsetzen. Also schaltete er das Licht im Keller aus und verschloss die schwere Holztür, ging die Wendeltreppe nach oben und verriegelte auch die dicke Stahltür. Schließlich entledigte er sich seiner Sturmhaube und der Latexhandschuhe, besah sich kurz im Spiegel, kontrollierte, ob irgendwo Blut an ihm klebte, und öffnete schließlich die Haustür.

„Sind Sie Mr. Steven Crowe?“, fragte der ältere Mann in einem amerikanischen Englisch, als Berger durch die Tür ins Freie trat. Berger überspielte gekonnt seine Überraschung, sein Gesichtsausdruck war unbewegt, als er sein Gegenüber neugierig musterte. Der andere Mann war Anfang sechzig, etwas kleiner als Berger und hatte breite Schultern und einen ordentlichen Bauchansatz. Er trug eine etwas altmodische Anzughose, dazu ein hellgelbes, durchgeschwitztes Hemd und schwarze, robuste Lederschuhe mit dicker Sohle. Aus seinem leicht geöffneten Hemdkragen quollen graue Brusthaare, das kantige, blasse Gesicht und der breite, fleischige Hals waren frisch rasiert. Ein kleines Pflaster klebte an seinem Hals, wo er sich wohl beim Rasieren geschnitten hatte. Der Gesichtsausdruck war von grimmiger Entschlossenheit, die Augen des Mannes funkelten in einem hellen Grau. Irgendetwas in Stefan Bergers Gehirn wurde beim Anblick dieses Mannes aktiviert. Er blickte in diese klaren Augen und hätte schwören können, wenn sie braun, statt grau gewesen wären, dann…

„Sind Sie Steven Crowe, Junge?“, herrschte ihn der Mann unwirsch an, als Berger ihm nicht antwortete, und riss ihn aus seinen Überlegungen. Diesen Namen führte Berger nicht mehr, genauso wie sein früheres Leben. Zumindest hatte er dies ernsthaft versucht. Dieser Mann, der nun hier vor ihm stand und ihm diesen Namen an den Kopf warf, bewies, dass die Vergangenheit wohl nicht zu ruhen gedachte.

„Wer möchte das wissen?“, fragte Berger in amerikanischem Englisch. Der Mann holte tief Luft und streckte Berger seine Hand entgegen.

„Master Chief Ian Williams“, sagte er wieder etwas ruhiger.

„Ich bin Ninas Vater“, ergänzte er. Nun war es mit Bergers Pokerface vorbei und er ergriff die ihm dargebotene Hand. Williams Händedruck war kräftig und knackig, Berger ließ sich nicht anmerken, dass seine Finger geknackt hatten, als der alte Chief zugedrückt hatte. Stattdessen trat er zur Seite und deutete auf die Haustür.

„Wir gehen wohl besser ins Haus, Master Chief“, sagte er. „Nennen Sie mich Ian, Junge“, knurrte Ninas Vater.


Master Chief Ian Williams setzte die Bierflasche ab, die er in einem Zug fast zur Hälfte geleert hatte. Er war wahnsinnig durstig gewesen und draußen war es brütend heiß. Den angebotenen Kaffee hatte er dankend abgelehnt, die gekühlte Flasche des deutschen Weißbiers war hingegen höchst willkommen. Der Geschmack erinnerte ihn an seine Zeit der gemeinsamen Manöver mit der deutschen Marine in der Nordsee und im Nordatlantik. Damals hatte es auch diese Art von Bier gegeben, wenngleich das im Norden beheimatete Pils von den meisten seiner Kameraden vorgezogen worden war, so hatte der alte Chief auch damals schon den besonderen Geschmack dieses Gerstensafts zu schätzen gelernt.

Seine Gedanken kehrten urplötzlich aus der so tröstlich wirkenden Vergangenheit in die brutale Gegenwart zurück. Während sich die Kühle des Bieres in seinem Magen ausbreitete, überlegte er, wo er anfangen sollte.

„Was ist mit Nina?“, fragte Berger angespannt. Sein Bier stand unberührt auf dem rustikalen Holztisch. Master Chief Ian Williams räusperte sich und begann schließlich, zu erzählen.

„Sie wissen, dass Nina zum Ersten Offizier auf der USS Stockdale befördert worden ist?“, fragte er und Berger nickte.

„Sie hat mir darüber geschrieben“, antwortete er leise, „in einem ihrer Mails.“

„Sehr gut“, brummte der Chief und nahm noch einen tiefen Schluck.

„Ist ein Aegis-Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse, ganz tolles Schiff mit allem möglichen technischen Schnickschnack, offensive und defensive, topmoderne Systeme…“

„Ich kenne diesen Schiffstyp“, unterbrach Berger den älteren Mann. Sein umfangreiches Wissen über die militärische Leistungsfähigkeit der Vereinigten Staaten umfasste auch deren Marine und dabei die wichtigsten Schiffstypen. So wusste er ziemlich genau, was die Stockdale konnte und was nicht.

„Hmm“, brummte der Chief und sah Berger in die Augen. Er sah Aufmerksamkeit und auch Nervosität, also fuhr er fort.

„Die Stockdale steht unter dem Kommando der 7. US Flotte und ist in Okinawa stationiert, aber das wissen Sie wahrscheinlich auch schon.“ Berger nickte.

„Gut. Das Schiff wurde also Mitte Mai ins Ostchinesische Meer abkommandiert, in die Nähe der Senkaku-Inseln. Sollte dort Flagge zeigen, wie man so sagt. Den Chinesen vor Augen führen, dass sie da unten nicht tun und lassen können, was sie wollen.“

„Davon wusste ich nichts“, sagte Berger einsilbig.

„Sie hat mir nichts davon erzählt.“

„Kein Wunder, Junge“, schnaubte der Chief.

„War ein geheimer Einsatz, Top Secret.“

„Und warum wissen Sie es dann?“, wollte Berger wissen. Sein schlechtes Gefühl wuchs von Minute zu Minute, er wollte endlich wissen, was los war.

„Ich hab da so meine Kontakte, Crowe“, brummelte der Chief und trank sein Bier.

„Also, am 18. Mai dampfte die Stockdale auf nordöstlichem Kurs durch das Ostchinesische Meer. Um etwa 23:30 Ortszeit wurde die letzte Positionsmeldung des Schiffes empfangen.“

Berger spürte, wie sich trotz der hochsommerlichen Temperaturen eisige Kälte in seinem Inneren ausbreitete. Der Chief fuhr fort.

„Seitdem: Nichts mehr. Keine Meldung, keine Sichtung, nicht der geringste Hinweis auf das Schiff und seine Besatzung.“

Berger sagte nichts, glaubte nicht, was er hörte. Der alte Mann verschwand aus seinem Gesichtsfeld, das sich seltsam einengte. Er vergaß auch seinen Gast im Keller und beinahe hätte er vergessen, dass der Chief ihm gegenübersaß. Sein Gehirn versuchte die Informationen zu verarbeiten, die eben auf ihn eingeprasselt waren. Ein verschwommenes Bild Ninas erschien vor seinem geistigen Auge, sie lächelte nicht, sie sah ihn hilfesuchend an.

„Alles klar, Junge?“, fragte der Chief, der sich vorgebeugt hatte und Bergers Unterarm festhielt. Berger blinzelte ein paar Mal, verdrängte dieses komische Gefühl und versuchte, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

„Ja“, flüsterte er leise.

„Jaja, fahren Sie fort, Chief“, forderte er den alten Mann auf. Dann griff er nach seinem Bier, denn sein Hals war urplötzlich so trocken geworden wie eine staubige Seitenstraße in Mogadischu.

Also berichtete Master Chief Williams. Über das Verschwinden der USS Stockdale war augenblicklich eine Nachrichtensperre verhängt worden. Nur sehr wenige, hohe Offiziere der 7. Flotte in Okinawa und beim Stab in Washington wussten etwas von der Sache. Anscheinend, so zumindest hatte die Quelle des Chiefs in Erfahrung gebracht, hatte der Außenminister einen Termin beim chinesischen Botschafter, oder der Botschafter war beim Außenminister, das wusste er nicht mehr so genau. Auf jeden Fall gab es eine inoffizielle Anfrage, ob den Chinesen etwas aufgefallen sein könnte und ob sie etwas über den Verbleib der Stockdale wüssten.

„Das ist aber verdammt ungewöhnlich, Chief“, kommentierte Berger dieses Anfragen des Außenministers.

„Ungewöhnlich? Das ist eine verdammte Sauerei, Junge“, knurrte Williams.

„Diese Ärsche in Washington informieren die verdammten Chinesen, bevor sie selbst den Hauch einer Ahnung haben, was mit dem Schiff geschehen ist.“

„Vermutlich wissen die Chinesen genau, wo die Stockdale ist“, sagte Berger bestimmt und erntete einen zustimmenden Gesichtsausdruck des Chiefs.

„Wie kommen Sie darauf, Crowe?“, wollte dieser wissen.

„Ich kenne dieses Volk, Chief. War mal für längere Zeit da unten zu Gast, könnte man sagen. Dabei habe ich einiges gelernt. Und wenn die Chinesen sagen, sie wüssten leider nichts und wenn sie dabei auch noch lächeln, dann wissen sie genau Bescheid. Das ist absolut sicher, glauben Sie mir.“

Bergers Blick war böse, seine Erinnerungen an seine Gefangenschaft erklommen die tiefen Abhänge seines Gedächtnisses, versuchten sich aus den Verliesen zu befreien, in die er sie verbannt hatte. Er schloss die Augen und zwang die Geister der Vergangenheit zurück in die tiefe Schwärze, aus der sie gekrochen waren.

„Da reden Sie mir aus der Seele, Junge“, lächelte der Chief erleichtert.

„Ich verwette alles, dass die Chinesen das Schiff oder zumindest die Besatzung haben und nicht rausrücken.“

„Was gedenkt die Navy oder die Regierung in dieser Sache zu unternehmen?“, fragte Berger den Chief, obwohl er die Antwort eigentlich bereits wusste. Schließlich hatte er den regierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten höchstpersönlich kennen gelernt. Diese Begegnung war eines jener besonderen Vergnügen gewesen, die sich Berger in seinem turbulenten Leben lieber erspart hätte. Andererseits, wenn dieser Schwachkopf von Präsident nicht gewesen wäre, hätte er auch Nina niemals kennen gelernt. Das Leben war schon seltsam, dachte Berger.

„Raten Sie mal, Junge“, blaffte Williams mit säuerlichem Gesichtsausdruck.

„Sie nehmen doch nicht für einen Augenblick ernsthaft an, dass unser von Herzen geliebter Präsident James auch nur das geringste Risiko in Kauf nimmt und wegen dieser Sache bei den Chinesen interveniert? Dass er die Seals schickt? Oder die Rangers? Nein, vorher friert die Hölle zu!“

Die Farbe im blassen Gesicht des alten Chiefs glich einem ungesunden Rot, Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Und Berger hatte keinen Grund, eine andere Meinung zu vertreten. Eventuelle Überlebende würden momentan sicher nicht gesucht oder gar gerettet werden. Nicht unter dieser Regierung, das stand klar fest. Also mussten sie die Sache anders angehen.

„Gibt es irgendwelche Beweise, dass das Schiff angegriffen oder sonst wie in Seenot geraten sein könnte?“, fragte Berger. Der Chief schüttelte nur den Kopf.

„Anscheinend gab es atmosphärische Störungen, die sämtliche Funkverbindungen in diesem Teil des Ostchinesischen Meeres unterbunden hätten. So gab es keinen Kontakt zum Schiff. Es stand auch nicht unter Satellitenbeobachtung und der nächste Vogel, der die Stelle überflogen hat, konnte nichts Verdächtiges entdecken.“

Berger nickte und dachte nach. Alles klang ganz nach einem hinterlistigen Angriff unter Anwendung von massiver Störwirkung. Die Chinesen mussten koordiniert vorgegangen sein, sie mussten vorbereitet und entschlossen gewesen sein. Sie hatten es mit einem kampfstarken Gegner aufgenommen, der in puncto Bewaffnung überlegen war, und trotzdem hatten sie die USS Stockdale von der Oberfläche des Meeres verschwinden lassen wie ein billiger Jahrmarktzauberer eine Münze in seinen magischen Händen. Das Schiff war also weg, vermutlich lag es am Grund des Meeres. Es abzuschleppen und irgendwo zu verstecken war wohl aufgrund der Satellitenüberwachung nicht möglich gewesen. Doch die Besatzung, oder zumindest ein Teil davon, konnte durchaus noch am Leben und irgendwo von den Chinesen versteckt worden sein. Zumindest hoffte er das.

„Das Meer ist an dieser Stelle nicht sonderlich tief“, stellte Master Chief Williams fest.

„Wenn die Stockdale auf Grund liegt, müsste man sie vom Satelliten oder einem Flugzeug aus sehen können. Außerdem besteht die Möglichkeit, einen solch massiven Stahlrumpf mittels Magnetanomaliedetektoren zu entdecken.“

„Ich vermute mal, dass beides durchgeführt worden ist und dass nichts entdeckt wurde?“, sagte Berger und trank einen weiteren Schluck Bier.

„Keine Ahnung. Das kann meine Quelle mir nicht bestätigen. Aber wenn sie etwas gefunden hätten, dann wäre doch bestimmt schon längst etwas an die Öffentlichkeit gedrungen, oder?“, fragte der Chief.

„Mit Sicherheit. So was lässt sich nicht ewig geheim halten. Das Gleiche gilt für diese Nachrichtensperre aufgrund der Geheimhaltungsstufe. Das ist nicht für die Ewigkeit. Mitte Mai ist das Schiff verschwunden, jetzt haben wir Ende August. Das sind fast dreieinhalb Monate. Lange geht das nicht mehr gut, dann platzt die Bombe.“

Berger und der Chief sahen sich einige Augenblicke schweigend an. Dann sagte schließlich der Chief das, was beide dachten.

„Angenommen, ein Teil der Besatzung hat überlebt und wird von den Chinesen verwahrt, und angenommen, Nina ist unter diesen Überlebenden. Solange niemand etwas vom Verschwinden der Stockdale weiß, sind diese Überlebenden in Sicherheit. Die Chinesen können sie verhören, befragen, technische Details aus ihnen herausquetschen, sie zu ihrem Vorteil benutzen. Aber sobald bekannt wird, dass ein amerikanisches Kriegsschiff gesunken ist, können es sich die Chinesen nicht leisten, dass es Überlebende gibt, die berichten können, was vorgefallen ist.“

Beide Männer sahen sich nur an. Es war still und warm. Durch das offene Fenster konnte man Grillen zirpen und Vögel singen hören. Ein wunderschöner Sommertag. Hier drinnen war die Stimmung eisig.

„Die Seeleute werden sterben, ganz egal, ob das mit dem Schiff bekannt wird oder nicht. Das Risiko für die Chinesen ist viel zu groß. Sie werden auf jeden Fall jeden einzelnen umbringen und verschwinden lassen“, ergänzte der ältere Mann.

„Wann legen wir los?“, fragte schließlich Stefan Berger, nachdem er eine halbe Minute geschwiegen und darüber nachgedacht hatte.

„Ich hoffte, dass Sie das sagen, Junge“, sagte Chief Williams.


Berger verabschiedete sich mit festem Händedruck von Ninas Vater. Der ältere Mann versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Berger hatte ihn gebeten, genauso zu verfahren, da er selber noch etwas erledigen müsse, was nicht warten konnte. Immerhin hatte er noch Müll im Keller, den er zu entsorgen hatte, bevor er anfing, zu stinken.

Nun stand Berger im Keller, hatte die Sturmhaube über sein Gesicht gezogen und Latexhandschuhe bedeckten seine Hände.

„So, Arschloch, jetzt wird geschlafen“, sagte er, zog eine Injektionsnadel mit einer klaren Flüssigkeit aus einem kleinen Glasfläschchen halb voll und näherte sich dem Stalker. Dieser zappelte und schrie angsterfüllt auf, als er die Spritze sah. Berger, der nun wirklich keine Zeit zu verlieren hatte, verpasste dem Mann einen hammerharten Kinnhaken, sodass er aufstöhnte und sein Kopf zuerst nach hinten schnellte und danach zur Seite sackte. Nun, da er ruhig war, injizierte Berger das Narkotikum und machte sich an die Arbeit. Es würde eine lange Nacht werden und seit er mit dem Chief gesprochen und von Ninas Verschwinden erfahren hatte, verspürte er überhaupt keine Lust mehr, sich noch weiter mit dem Stalker zu befassen.

Doch auch dieser Auftrag musste zu Ende gebracht werden, sagte er sich. Und er war es Sandra Bäumler und ihrer kleinen Tochter schuldig, dass dieser Mistkerl aus ihrem Leben verschwand. Deshalb musste er sich konzentrieren, um keine Fehler zu machen. Also wusch er den Mann, trocknete ihn ab und zog ihm seine Kleidung an. Er kämmte die paar Haare des Mannes und wuchtete ihn sich über die Schulter. Es war bereits dunkel, als er sein Haus verließ. Da der alte Hof schön abseits stand, war kaum damit zu rechnen, dass ihm jemand über den Weg lief. Trotzdem sah er sich nach allen Richtungen um und überzeugte sich, dass er alleine war. Schließlich verfrachtete er den Stalker in seinen BMW und fuhr los.

Er kehrte erst bei Sonnenaufgang zurück. Als er den BMW geparkt hatte und die Auffahrt Richtung Haustür betrat, lag ein entschlossener Ausdruck auf seinem müden Gesicht.

















Todesfalle

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