Читать книгу Emscher Zorn - Mareike Löhnert - Страница 11
Kapitel 7 – Jakob
ОглавлениеDen gesamten Montag war Jakob aufgeregt und fieberte dem Treffen mit Nelu entgegen. Ruhelos spazierte er in der Wohnung auf und ab und wusste nichts mit sich anzufangen.
Jesus auf dem Bild verfolgte ihn mit so erzürnten Blicken, dass Jakob sich sicher war, lodernde Flammen in seinen Augen zu erkennen. »Fick dich«, murmelte er und ging ins Wohnzimmer.
»Hase, heute Abend mache ich uns etwas Feines zu essen. Was meinst du?« Mutters Augen waren von der vielen Fernglotzerei ganz klein und rot unterlaufen.
Jakob würgte, als er an dicke Bohnen mit Speck, Schlodderkappes oder andere westfälische Gerichte dachte.
»Wie siehst du eigentlich aus?« Sie musterte sein Gesicht und die aufgeschürften Knöchel seiner Hände.
»Hab mich beim Sport verletzt«, erklärte Jakob schnell.
Wie immer ließ sie sich schnell beruhigen. In ihrer kleinen rosaroten Welt musste alles in Ordnung sein. Die Seifenblase, in der sie lebte, durfte keine Risse bekommen.
»Ach ja. Bei körperlicher Ertüchtigung kann so was schon mal passieren. Finde ich gut, dass du versuchst, etwas für deine Gesundheit zu tun. Sei nur das nächste Mal ein bisschen vorsichtiger, ja?« Ihr Lächeln wirkte debil. »Und wo warst du Samstagnacht?«, fuhr sie fort und kicherte albern, »bei deiner Liebsten? Hast du die Nacht bei ihr verbracht?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
»Ja, ich habe jemanden kennengelernt«, erwiderte er knapp, »aber mehr erzähl ich dir nicht, das kannst du vergessen.«
Immerhin musste er nicht lügen, auch wenn sie sich wohl etwas anderes unter seinen Worten versprach.
»Oh Hase, wie schön«, sie jubelte, »ich will sie kennenlernen. Bitte tu mir den Gefallen und stell sie mir bald vor. Du hattest schon immer Schwierigkeiten, Kontakt zu anderen zu finden, hattest nie Freunde oder Freundinnen, nicht mal als Kind. Du warst immer so allein, und jetzt hast du endlich ein nettes Mädchen gefunden, das dich versteht. Ich freue mich so.« Euphorisch klatschte sie in die Hände.
»Alles ist in Ordnung, Mutter«, sagte er müde, »ich geh mal unter die Dusche und ich habe keinen Hunger, bin später noch weg.«
Sie kicherte und zwinkerte ihm vielsagend zu, dann tappte sie wie in Trance zurück zum Sofa, ließ sich schwerfällig darauf hinabsinken und widmete sich wieder dem Fernseher.
Endlich saß Jakob mit klopfendem Herzen im überfüllten Bus und lehnte seinen heißen Kopf an die Fensterscheibe. Seine Hände zitterten und eine leichte Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus. Es war lächerlich, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal verabredet gewesen war.
Am von Menschen überfüllten Hansaplatz angekommen, entdeckte er Nelu sofort. Er zog jeden Blick auf sich. Mit undurchdringlicher Miene saß er in seiner maßgeschneiderten Kleidung mittig auf den breiten Steintreppen und musterte mit abschätzendem Blick die Passanten, die einen respektvollen Abstand zu ihm einhielten.
Jakob eilte auf ihn zu. Nelu wirkte angespannt und nervös. Seine Kiefermuskeln zuckten.
»Nicht gut drauf heute?«, fragte Jakob leise und sah ihn von der Seite an.
»Nicht der Rede wert. Nur eine kleine Schlampe, die mich ein bisschen auf die Palme bringt. Keine Sorge, sie wird schon bekommen, was sie verdient.« Endlich lächelte er.
Eine Weile hockten sie nur da und beobachteten die Leute, die an ihnen vorübereilten.
Die Menschen in der Fußgängerzone wirkten wie Drogenabhängige, wie sie mit verklärtem Blick von einem Geschäft ins nächste taumelten, die Arme fest um ihre vollen Einkaufstüten geschlungen. Wie immer war die Innenstadt überlaufen. Das Ballungszentrum Ruhrgebiet. Zu viele Menschen, auf zu wenig Platz.
»Die tun mir leid, diese mickrigen, kleinen Gestalten«, Nelu fuhr sich mit der Hand durch sein glänzendes Haar, »malochen den ganzen Tag von früh bis spät, verbraten dann ihren kümmerlichen Lohn, um sich unnütze Konsumgegenstände zu kaufen, und versuchen sich einzureden, dass sie das glücklich macht. Abends Fernsehprogramm und wenn’s gut läuft ein kleiner Fick mit der Alten.« Er spuckte angewidert auf die Straße. »Das kann doch nicht alles sein. Das Leben ist doch viel zu kurz, oder?«
Er sah Jakob an, der zustimmend nickte.
»Aber nicht mit mir«, stieß Nelu grimmig hervor, »ich werde irgendwann am Strand sitzen, mit einem Drink in der Hand auf das Meer schauen und es mir gut gehen lassen. Warst du schon mal in Italien?«
Jakob druckste herum und sah zu Boden.
»Mallorca«, flüsterte er kaum hörbar.
»Was ist los? Ist doch auch geil. Aber in Italien gibt es das beste Essen der Welt, und die Italiener sind ein echt entspanntes Volk. Was hast du?«
»Kein cooler Urlaub gewesen damals«, Jakob räusperte sich.
Nelu musterte ihn, sagte aber nichts. Die Gesprächspausen waren nicht unangenehm.
Ein etwa 14-jähriges, blasses Mädchen drückte sich seit einiger Zeit neben ihnen herum. Sie rutschte, die Finger um die Treppenstufen gekrallt, als wolle sie sich daran festhalten, näher an Nelu heran.
»Was?«, fuhr Nelu sie plötzlich an, »was zum Teufel ist los, Luisa?« Seine Augen wurden zu engen Schlitzen, als er ihr wütend ins Gesicht starrte.
Das Mädchen schreckte zurück. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Vadym, ich will heute nicht schon wieder zu Paul gehen«, flüsterte sie mit piepsender Stimme.
Sie schien all ihren Mut gesammelt zu haben, um diese Worte auszusprechen. Dem Mädchen begannen Tränen über das Gesicht zu laufen.
Nelu blickte sie kalt an und zeigte keine Regung.
»Natürlich gehst du«, zischte er gefährlich leise.
»Ich will nicht«, schluchzte sie, »Paul ist gemein zu mir. Er tut mir immer entsetzlich weh. Günther ist viel netter. Kann ich nicht zu Günther gehen?«
»Wenn du nicht zu Paul gehst, siehst du mich nicht wieder. Er hat extra nach dir gefragt.«
Sie riss ihre Augen auf und starrte ihn entsetzt an.
»Wenn du nicht gehst, dann werde ich deine Schwester kennenlernen und mich nur noch ihr widmen«, fuhr Nelu ruhig fort.
»Natalie ist acht«, kreischte Luisa, und ihre Stimme überschlug sich, »die kann dir noch keinen Gefallen tun.«
Nelu lächelte.
»Aber sicher kann sie das. Früh übt sich. Du wirst schon sehen. Überlege dir gut, was du tust, Luisa, sonst gibt es keinen Vadym mehr für dich. Ich hole dich nicht mehr von der Schule ab, und deine dummen Freundinnen werden nicht mehr dämlich aus der Wäsche gucken und sich vor Neid in den Arsch beißen, wenn sie dich mit mir sehen.«
Sie zögerte, schien nachzudenken, nickte dann gequält und schlich, sichtlich verstört, mit hängenden Schultern davon.
»So«, erklärte Nelu gut gelaunt, und Jakob fiel erneut sein schneller Stimmungswechsel auf. »Wir zwei Hübschen gehen jetzt zum Kanal. Ein bisschen was trinken und vielleicht in die kühlen Fluten springen, es ist immer noch schrecklich heiß, oder? Was meinst du?« Jakob zuckte zusammen.
»Ich kann nicht zum Kanal gehen«, stieß er hektisch hervor und bemerkte, dass seine Stimme viel zu laut klang.
Nelu sah ihn irritiert an.
»Warum nicht? Angst vor Wassergeistern, oder was?« Er lachte.
Jakob starrte ihn aus geweiteten Pupillen panisch an.
»Ja, das trifft es«, er versuchte, sich zusammenzureißen und normal zu sprechen, aber es misslang ihm. »Ich kann nicht zu fließenden Gewässern gehen, ich kann auch nicht ans Meer gehen. Alles, was mit tiefem, dunklem Wasser zu tun hat, funktioniert nicht mehr.« Er schluckte krampfartig. »Ist mal was Komisches passiert, weißt du? Am Meer. Damals auf Mallorca.« Seine Stimme versagte.
»Alles gut. Kein Problem«, Nelu unterbrach ihn und klopfte ihm beruhigend mit der Hand auf die Schulter. »Es gibt auch noch etwas anderes als den Kanal und die Emscher, selbst bei diesem Wetter. Komm mit. Du bist der Auserwählte. Der erste Mensch, dem ich meinen Lieblingsplatz zeige. Wir brauchen noch was zu trinken.«
Er packte Jakobs Arm und zog ihn Richtung Westenhellweg. Die zentrale Einkaufsstraße in der Dortmunder Innenstadt gehörte zu den 10 meistbesuchten Einkaufsmeilen Deutschlands. Sie drängten sich durch die Passanten, betraten ein großes Kaufhaus, in dem sich in der unteren Etage ein Supermarkt befand. Im Laden bewegte sich Nelu zielstrebig auf das Spirituosenregal zu, griff nach einer Zwei-Liter-Flasche Wodka und warf sie mit Schwung in seine Umhängetasche.
Jakob linste über Nelus Schulter auf das Preisschild und wurde blass. So teuren Wodka würde er sich nie leisten können.
Nelu hüpfte entspannt durch die Regalreihen, warf zwei Tüten Chips zu der Flasche und zog den Reißverschluss seiner Tasche zu. Er grinste Jakob breit an und machte sich auf den Weg zur Kasse.
Die Kassiererin war verdammt hübsch. Sie sah so gut aus, dass Jakob verlegen nach unten auf seine Schuhe blickte. Die Frau richtete sofort ihre komplette Aufmerksamkeit auf Nelu und ignorierte Jakob. Erleichtert atmete er auf. Als Nelus Schatten wurde er quasi unsichtbar für alle anderen.
Nelu lachte die Kassiererin an und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Nichts gekauft, schöne Frau«, sagte er, hob beide Arme nach oben und hielt ihr seine leeren Handflächen vors Gesicht, »aber bei so viel Schönheit, die hinter der Kasse versteckt ist, komme ich bestimmt die nächsten Tage wieder.«
Sie stieß ein grelles Kichern aus und fummelte mit ihren rot lackierten Fingern hektisch an ihren blonden Haarsträhnen herum. Sie schien von Nelus Anblick hingerissen zu sein und wirkte, als stünde sie unter Drogen, als sie versuchte, ihm unter ihren langen Wimpern vielsagende, belämmerte Blicke zuzuwerfen.
Jakob versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. So wie die Frau sich aufführte, erschien sie ihm plötzlich gar nicht mehr so gut aussehend.
»Bis zum nächsten Mal, Schätzchen. Ich freue mich auf dich.«
Nelu rückte seine Umhängetasche zurecht und stolzierte lässig aus dem Laden. Jakob stolperte hinter ihm her.
»Geht doch. Wozu bezahlen, wenn es auch anders geht.« Nelu wirkte zufrieden.
Jakob prustete los. »Was hast du mit der Tussi gemacht? Die hat ja gar nichts mehr gecheckt.«
»Man muss nur wissen, wie man mit Frauen umgehen muss, dann bekommt man fast alles geschenkt«, erklärte Nelu, »mit Männern ist es übrigens dasselbe.« Er sah Jakob vielsagend an. »Menschen sind dumm und beeinflussbar. Man muss nur mit den Fingern schnippen, und schon tun sie, was du willst.«
Es war inzwischen dunkel geworden. Die Lichter aus den Schaufenstern der mittlerweile geschlossenen Geschäfte leuchteten in bunten Farben. Die Luft roch nach Sommer. Am Ende der Katharinenstraße blieb Nelu stehen.
»Wir sind gleich da. Ich zeige dir jetzt ein Ritual. Etwas, dass man tun muss, wenn man hier vorbeigeht.« Er ging voran. Jakob schaute neugierig die Treppen hinunter, die zum Hauptbahnhof führten.
Ein alter Obdachloser kauerte in seinem zerrissenen Mantel am Fuße der Treppe. Der Mann hatte langes, fettiges Haar und einen verfilzten, grauen Vollbart, sodass man sein Gesicht kaum erkennen konnte, und starrte stoisch auf die leere Straße.
Die Obdachlosenszene in Dortmund schien mit jedem Tag zu wachsen, dennoch war sich Jakob sicher, diesen Mann schon öfter in der Stadt gesehen zu haben.
Nelu erhöhte sein Tempo, als er die Stufen hinuntersprang und auf den Mann zuging. Bei ihm angekommen, holte er mit seinem Fuß aus und trat mit Wucht gegen den Pappbecher, der vor dem Mann gestanden hatte.
Der Becher flog weit, und das Kleingeld, das sich darin befunden hatte, prasselte klimpernd auf den Asphalt. Es klang wie ein tosender Regen, der durch die Nacht hallte.
Der alte Mann schrak zusammen, wich auf dem Gehsteig zurück und versuchte, sich im Schatten zu verkriechen.
»Du dreckige Kakerlake«, schrie Nelu in seine Richtung, »verkriech dich nur in den stinkenden Ritzen der Straße, du scheiß Tier, du. Das nächste Mal trete ich dir deinen Kopf weg.«
Jakob konnte das ängstliche Wimmern des Mannes hören.
Ganz tief in seinem Inneren regte sich so etwas wie Mitleid, doch er verdrängte das Gefühl.
»Ein alter Bekannter«, riss Nelu ihn aus seinen Gedanken, »tut immer wieder gut, diesen Pennern mal zu zeigen, wo sie stehen, sonst denken sie noch, die Straße gehört ihnen.«
Jakob schwieg.
Sie kamen an einer Hochhausansammlung am Königswall an. Es handelte sich hauptsächlich um verschiedene Büros, die in den Gebäuden ihren Sitz hatten. Nelu steuerte das höchste der Häuser an, das schräg gegenüber dem Fußballmuseum lag. Die meisten Fenster der Geschäftsräume lagen in Dunkelheit, nur vereinzelt war noch Licht hinter den Scheiben zu erkennen.
Nelu zog einen Schlüssel aus seiner Tasche, ging auf das Gebäude zu und schloss die schwere Tür auf. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen.
»Ist besser, leise zu sein. Falls uns jemand begegnet, tu so, als würdest du hier täglich ein und aus gehen, als wäre alles ganz normal«, flüsterte er und ging voran.
Mit weichen Knien folgte ihm Jakob.
Nelu ging zielsicher auf die Aufzüge zu, drückte einen Knopf, und mit einem lauten Bing, das durch das gesamte Treppenhaus hallte und Jakob vor Schreck zusammenfahren ließ, öffnete sich die Fahrstuhltür. Sie betraten die Kabine.
Nelu drückte auf den Knopf, der sie bis ganz nach oben in das 20. Stockwerk schicken würde, und die Türen schlossen sich.
»Woher hast du die Schlüssel für das Gebäude?«, fragte Jakob leise. Das monotone Surren des Fahrstuhls entspannte ihn ein wenig.
»Nachmachen lassen. Kannte mal einen, der hier gearbeitet hat und mir einen Gefallen schuldig war.«
Sie kamen oben an, stiegen eine Treppe hinauf, kletterten durch eine Luke und befanden sich auf dem riesigen Flachdach des Gebäudes.
»Das ist mein Lieblingsplatz.« Nelu wirkte stolz – Jakob staunte.
Der Himmel tat sich wie ein nachtschwarzes Zelt über ihnen auf. Viele Tausend Sterne strahlten auf sie hinab und schimmerten hell. Der U-Turm, das ehemalige Gär- und Lagerhochhaus der Dortmunder Union-Brauerei, der mit seinem Programm inzwischen nur noch Studenten, Kunstaffen und langweilige Kreativitätsvernarrte anzog, schien ganz nah zu sein. Die wechselnden Bilder der Kunstinstallation am Dach des Turmes durchbrachen in leuchtenden Farben die Nacht.
»Wow«, stieß Jakob hervor.
Sie setzten sich, lehnten sich mit den Rücken an die Steine eines der quadratisch ummauerten Schornsteine und sahen andächtig in den Himmel.
»Echt schön«, murmelte Jakob.
Nelu zog den Wodka aus der Tasche, öffnete ihn, trank einen großen Schluck und reichte die Flasche weiter an Jakob. Der Wodka brannte angenehm in der Kehle und fühlte sich im Bauch wohlig und warm an, so als würde er dort hingehören. Die angenehme Stille wurde durch den schrillen Klingelton von Nelus Handy unterbrochen.
»Fuck«, schimpfte Nelu genervt, »hab vergessen, das Ding auszuschalten. Tut mir leid, Mann.«
Er sah auf das Display.
»Einmal muss ich noch rangehen. Dann stell ich das Teil auf lautlos, ich verspreche es«, sagte er entschuldigend. »Gisela«, schnurrte er in den Hörer, »ja, meinem Bruder scheint es tatsächlich besser zu gehen. Ich danke dir noch mal. Vielen, vielen Dank. Ich wüsste nicht, was ohne dich aus ihm geworden wäre, meine Sonne. Was? Nein, heute kann ich ihn nicht alleine lassen. Morgen, morgen sehen wir uns, Liebling. Oh, mein Bruder ruft.« Er stieß Jakob mit der Schulter an.
»Rufe, dass ich zu dir kommen soll. Ich heiße Rupi«, zischte er, »worauf wartest du?«
Jakob räusperte sich, er kam sich blöd vor.
»Rupi, kommst du bitte?«, rief er unsicher.
Nelu sah ihn erwartungsvoll an und hielt den Hörer in seine Richtung.
»Rupi, jetzt komm endlich. Ich warte auf dich«, versuchte Jakob es erneut.
Nelu schien zufrieden und säuselte weiter in den Hörer, dann beendete er das Gespräch und seufzte schwer.
»Was sind das für Frauen, die dich immer anrufen?«, fragte Jakob vorsichtig.
»Das ist einer meiner Jobs. Ich bin so was wie ein Schauspieler. Von irgendwoher muss ja die Kohle kommen.«
»Und was ist mit deinem Bruder?«
Nelu sah ihn entgeistert an, dann brach er in lautes Gelächter aus. »Das ist nicht dein Ernst, Mann. Ich habe keinen Bruder, und selbst wenn ich einen hätte, würde mir sein Schicksal am Arsch vorbeigehen.« Er krümmte sich vor Lachen und vergrub sein Gesicht zwischen den angezogenen Knien. Seine Schultern bebten.
Es dauerte lange, bis er sich beruhigte und weitersprechen konnte. »Ich reiße so ein paar alte Muttis auf, die einsam und alleine sind, und mit ein paar herzerweichenden Storys ziehe ich ihnen das Geld aus der Tasche. Die kranke Brudernummer kommt immer wieder gut. Das Zeitmanagement ist halt manchmal nicht so einfach. Die alten Tanten fordern immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Ich sag es dir, sie versuchen einen auszusaugen. Wenn es zu schlimm wird, muss man sich das nächste Opfer suchen. Man muss da flexibel sein. Ist manchmal echt anstrengend.« Er schüttelte betrübt den Kopf.
»Das hört sich an, als wärst du eine Hure«, rutschte es Jakob heraus. Schnell sah er zu Nelu herüber, doch der schien nicht im Geringsten beleidigt zu sein.
»Meinst du, ich schlafe mit diesen faltigen Steinzeitomas? Das hätten sie zwar gerne, aber ich halte sie an der langen Leine. Sie dürfen mich gerne bekochen und lieb zu mir sein, mal ein bisschen antatschen und knutschen ist drin, aber mehr nicht, das macht mich für sie nur noch begehrenswerter. Ich kann dich ja mal mitnehmen und dir eine vorstellen. Vielleicht stehst du ja auf ältere Semester. Monika ist noch die Schärfste von allen, die springt dich gleich an, wenn sie dich sieht.« Fragend hob er die Augenbrauen.
»Ne, danke. Lass mal«, wehrte Jakob schnell ab.
Nelu betrachtete ihn und fing an zu grinsen. »Ich glaub es nicht. Du bist noch Jungfrau.«
Jakob schwieg.
»Krass«, meinte Nelu und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Sie tranken. Es war still oben auf dem Dach.
Die Geräusche der Stadt, der Autolärm und das Gegröle der Menschen drangen nur gedämpft zu ihnen hinauf.
Die ganze Welt schien unter einem Schleier zu liegen und war meilenweit entfernt von ihnen.
Hier oben waren sie allein. Unbeobachtet und unsichtbar für alle anderen. Weggetaucht aus dem normalen Leben.
Jakob fühlte sich glücklich. Das warme, spürbare Pochen in seinem Herzen war ihm so fremd geworden, dass er sich fühlte, als wäre er aus seiner Haut geschlüpft und ein anderer Mensch geworden.
Sie saßen lange einfach nur da, Zeit spielte keine Rolle mehr.
Der Wodka tat sein Bestes dazu, dass Jakob alles egal wurde.
Nur dieser Moment war wichtig, alles andere hatte keine Bedeutung mehr. Der langweilige, nicht enden wollende Alltag, mit all seinen Problemen, schien meilenweit entfernt zu sein.
Nelu sprang energiegeladen auf.
»Jetzt gehen wir feiern und machen richtig einen drauf«, beschloss er übermütig, breitete beide Arme aus und begann sich, den Kopf in den Nacken gelegt, im Kreis zu drehen.
»Laute Musik und geile Weiber, das ist es, was ich jetzt brauche«, schrie er in den Himmel.
Jakob druckste herum. »Du, äh, ich hab kein Geld und bin auch nicht richtig angezogen.« Er deutete auf seine übliche Jogginghose.
»Scheiß drauf. Ich kenne jeden Türsteher der Stadt. Wir werden überall mit offenen Armen empfangen, egal, was du trägst. Wir machen uns jetzt auf ins Gewerbegebiet Spähenfelde und gehen in die Traumfabrik. Da ist auch am Montag richtig was los.« Entschlossen packte er Jakobs Hand und zog ihn auf die Beine. Seine Euphorie war ansteckend.
Jakob war noch nie in der Traumfabrik gewesen, die in Partykreisen liebevoll als Asi-Park bezeichnet wurde. Er hatte sowieso nie am nächtlichen Partyleben teilgenommen, da ihm für so etwas das Geld fehlte. Das Einzige, was er sich manchmal leistete, waren ein paar Bier und Schnäpse in Gustavs Eckkneipe.
Mach dir nicht immer so viele Gedanken, schalt er sich selbst.
Er ließ sich von Nelu anstecken und von seiner Begeisterung mitreißen. Es war einfach. Zusammen mit Nelu war alles leicht. Jakob hatte das Gefühl, er würde fliegen können, wenn er es nur versuchen würde.