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Kapitel 1 – Jakob
ОглавлениеEr stieß die wuchtige Holztür mit beiden Armen auf. Eine Wand aus lauter Schlagermusik, wirrer Gesprächsfetzen und Schwaden von Zigarettenqualm schlug ihm entgegen. Jakob ließ die grelle Mittagssonne hinter sich und tauchte in die stickige Dämmerung der Eckkneipe ein, wie ein Insekt, das vor dem Licht flüchtet. Der Laden war voll. Er schob sich durch dicht gedrängte, schwitzende Männerleiber bis zur Theke.
Ein Typ mit grünlicher Gesichtsfarbe rutschte von seinem Barhocker und verschwand taumelnd auf der Toilette.
Jakob hockte sich auf den frei gewordenen Platz, beugte sich nach vorne und legte mit geschlossenen Augen die Stirn auf den kühlen Tresen. So verharrte er, als hätte er sich in eine steinerne Statue verwandelt und wünschte sich weit weg.
Hinter der Bar schob sich Gustav, die dünnen Augenbrauen in seinem faltigen Gesicht nach oben gezogen, näher an ihn heran, wischte sich die Hände an einem schmutzigen Handtuch ab und musterte ihn interessiert.
»Na Jakob, um diese frühe Zeit schon Feierabend?«
Er lachte sein krächzendes Raucherlachen, das sofort in ein heiseres Husten überging.
»Siehste doch und jetzt mach hin, Alter. Heute hab ich es echt nötig«, brummte Jakob, öffnete ein Auge und blickte grimmig nach oben.
»Scheißtag gehabt, was?« Gustav nickte verständnisvoll.
Schnell und geübt zapfte er ein großes Pils, schüttete einen doppelten Korn ein, knallte die Gläser vor Jakob auf den Tresen und ließ ihn in Ruhe. Er war der perfekte Wirt. Er arbeitete zügig, schien mit seiner Theke verwachsen zu sein und hielt seine Schnauze, wenn es angebracht war.
Jakob kippte den Korn in einem Zug hinunter und spülte mit Bier nach. Er spürte deutlich, wie sich seine zitternden, vibrierenden Nerven beruhigten und ließ seinen Blick durch die Kneipe schweifen.
Es waren größtenteils ältere Männer, die hier schon in der Mittagszeit verkehrten und ihre armselige Rente versoffen, nur an der Dartscheibe standen zwei gelangweilt wirkende Jungs und warfen lustlos ihre Pfeile. Hatten wohl auch den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als hier herumzuhängen und die Zeit verstreichen zu lassen, so wie er. Die große Zeit der Kneipen im Ruhrgebiet war, nach den Schließungen der Zechen und Stahlwerke, vorbei.
Sinnlos. Alles war so sinnlos.
Wieder hatte er eine Maßnahme vom Jobcenter abgebrochen. Wieder würde es kein Geld geben. Leistungen gestrichen. So einfach war das. Er hatte es mit seinen 24 Jahren noch nie geschafft, länger als zwei Wochen einen Job zu behalten.
In den vergangenen zwei Tagen hatte er im Keuning-Park mit Schaufel, Harke und Schubkarren bewaffnet, den Kampf gegen Hundekot, gebrauchte Spritzen der Junkies, benutzte Kondome und anderem Müll aufnehmen müssen, wobei bei dem ganzen Dreck klar war, dass er sowieso nur als Verlierer aus der Schlacht herausgehen würde. Nach einer Nacht voller Drogenexzesse, Sex und überfütterten Kötern sah der Park am nächsten Tag genauso verdreckt aus wie zuvor. Die Mischung aus Gestank, den unzumutbaren Kollegen und der prallen Hochsommersonne, die unbarmherzig seinen Schädel während der Arbeit weichkochte, war zu viel für ihn gewesen.
Wut bohrte ihre langen, spitzen Krallen in seine Eingeweide, packte zu und ließ ihn nicht mehr los. Er ballte die Faust so fest zusammen, dass es schmerzte und widmete sich wieder ausgiebig seinen Getränken, als er bemerkte, wie sein Sitznachbar ihn anstarrte. Der blaue Heinz, wie man ihn im Allgemeinen nannte, saß oder hing vielmehr auf dem Hocker neben ihm und glotzte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Er war ein stadtbekannter Säufer, der bei Gustav seinen Stammplatz hatte.
»Was glotzt du so, Heinz? Schon wieder besoffen?«, raunzte Jakob ihn an.
»Hömma, Junge. Hab dich heute Morgen gesehen. Im Park bei der Maloche«, lallte Heinz und lächelte dümmlich, als sei er stolz auf sein gutes Erinnerungsvermögen.
Jakob stellte fest, dass er fast keine Zähne mehr in seinem Mund hatte.
»Wow, du solltest Detektiv werden«, Jakob wandte sich gelangweilt ab. Wahrscheinlich hatte der Alte auf einer Parkbank gesessen und sich schon morgens einen gezwitschert. Heinz griff nach seinem Arm, den Jakob hastig zurückriss.
»Wolltest den Kollegen kopfüber in den Schubkarren drücken und dann biste einfach abgehauen«, fing er wieder an.
»Der Typ hat es nicht anders verdient«, schrie Jakob den Alten an, »mach dir mal um mich keine Sorgen und quatsch mich nicht blöd von der Seite an.« Er schlug mit der Faust auf die Tischplatte. Gläser klirrten. Seine Nebenmänner warfen ihm irritierte Blicke zu. Jakob schüttelte sich hasserfüllt, als er sich an den übergewichtigen Kollegen erinnerte, der jeden Tag dasselbe rosafarbene, zu enge T-Shirt mit der Aufschrift »Bier formte diesen wunderschönen Körper« trug, wie ein Schwein schwitzte und alles nur Mögliche tat, um sich vor der Arbeit zu drücken.
»Ich geh da nicht mehr hin. Genug ist genug«, murmelte er.
Der blaue Heinz nickte sinnierend und glotzte traurig in sein leeres Glas. Gustav stellte zwei Kurze vor sie auf den Tresen.
»Die Welt ist böse, und die Menschheit besteht aus Lügnern und Egoisten. Dortmund ist nicht mehr das, was es einmal war«, stellte Heinz mit müder Stimme fest.
Jakob stimmte ihm zu. Sie stießen an, tranken, danach verlor sich wieder jeder von ihnen in seine eigene Gedankenwelt.
Jakob verbrachte den Abend in einer Art Dämmerzustand. Es gelang ihm nicht, richtig betrunken zu werden, es legte sich ein grauer Nebel über ihn und hüllte ihn wie eine Decke ein. Die Gäste verschwanden nach und nach, bis nur noch Jakob und der blaue Heinz schweigend an der Theke saßen.
Nachdem sich Gustav mehrere Male lautstark geräuspert und zuvor mehrmals angekündigt hatte, dass dies die letzte Runde sei, nahm er beiden die Gläser weg.
»Feierabend«, sagte er laut und deutlich, »ihr zwei Hübschen geht jetzt fein nach Hause und legt euch in eure Bettchen«, er hustete nachdrücklich und zündete sich eine Zigarette an, »und Jakob, lächele mal wieder. Bei deinem Lächeln geht die Sonne auf, sag ich immer. Steht dir besser, als dieses miesepetrige Gesicht. Wir wissen doch alle, dass du gar nicht so böse bist, wie du immer tust.« Er zwinkerte Jakob zu.
Jakob warf Gustav einen drohenden Blick zu, rutschte gehorsam von seinem Hocker, hob die Hand zum Gruß und trottete mit hängendem Kopf wie ein verjagter Hund nach draußen. Sein verschwitztes T-Shirt stank nach totem Tier.
Die Nacht war noch immer warm. Ruhe lag über dem sonst so lebendigen Nordmarkt. Jakob atmete tief die milde, nach Asphalt schmeckende Sommerluft ein, zog sich die rutschende Jogginghose hoch und schlug zu Fuß den Weg Richtung Schützenstraße ein, wo er gemeinsam mit Mutter lebte. Gedankenverloren trottete er durch die nächtliche Nordstadt.
Morgen musste er mit Mutter sprechen und ihr mitteilen, dass keine Bezüge mehr vom Amt kommen würden und sie wieder zu zweit von ihrer Witwenrente leben mussten. Finanziell würde es eng werden. Ohne Schulabschluss, waren die Jobs, die ihm angeboten wurden, das Allerletzte. Er vergrub die Hände tief in den Hosentaschen, passierte graue Straßen und marode Häuser, mit vor Schmutz starrenden Fenstern.
»Nazis auf die Fresse hauen«, hatte jemand mit einem Filzstift an eine Hauswand geschrieben. »Wie denn, ohne Arme?«, hatte ein Witzbold darunter gekritzelt.
Von irgendwoher erklang laute Musik, das hysterische Gebrüll eines Mannes folgte, dann war es still. Jakob stieg über einen ausgekippten Müllsack, der auf dem dreckigen Bordstein lag. Eine Ratte huschte an seinen Turnschuhen vorbei und lief eilig über die leere Straße. Jakob blickte ihr hinterher. »Verdammt«, schrie er in die Nacht und kickte mit dem Fuß einen leeren Waschmittelkarton zur Seite, »warum muss immer alles so verflucht schwer sein?« Seine Stimme hallte durch die Häuserschluchten. Er schrak zusammen, als er ein heiseres Lachen neben sich hörte und feststellte, dass er nicht alleine war.