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Kapitel 5 – Jakob

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Jakobs Kopf dröhnte, als er erwachte und durch seine verquollenen Augen linste, um zu erkennen, wo er sich befand.

Der gestrige Tag rauschte wie verschwommener Brei durch sein Gehirn und ließ sich nicht fassen. Er richtete sich auf, setzte sich auf die Pritsche, auf der er gelegen hatte, und blickte irritiert um sich.

Es dauerte einige Zeit, bis er zuordnen konnte, dass er sich in einer Gefängniszelle aufhielt.

Er starrte auf seine Hände, an denen getrocknetes Blut klebte. Hoffentlich hatte er den anderen wenigstens gut erwischt, dachte er und sah sich um.

Er kannte diese quadratischen, winzigen Räume nur zu gut. Er stand auf, machte einen großen Schritt und erreichte die gegenüberliegende Wand, wo sich eine Toilette und ein im Boden fest verankertes Waschbecken befanden, und begann, sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Das Becken verfärbte sich rot. Vorsichtig betastete er mit der Hand sein Gesicht, die frisch verschorfte Wunde und die riesige Beule an seinem Hinterkopf.

Er zuckte vor Schmerz zusammen, stellte aber erleichtert fest, dass seine Verletzungen nicht weiter schlimm waren. Manche seiner Schlägereien waren übler ausgegangen. Er konnte sich bewegen und schien keine Knochenbrüche zu haben. Es gelang ihm, ohne Schwierigkeiten zu atmen, und er hatte noch alle seine Zähne im Mund. Alles in Ordnung. Jetzt musste er nur noch hier raus. Er ging zur Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen.

»Hallo?«, rief er, »kann mich vielleicht mal irgendwer rauslassen? Ich habe noch was anderes zu tun, als hier abzuhängen.«

Es dauerte eine Ewigkeit, bis er trottende Schritte und das Geklirre eines Schlüsselbundes vor der Tür hörte.

Typisch, die Bullen mussten einem mit jeder kleinen Geste klarmachen, dass sie am längeren Hebel saßen. Arme Schweine eigentlich, wenn sie so was nötig hatten.

Ein Riegel wurde zur Seite geschoben, und ein dickes Bullengesicht schaute durch das kleine vergitterte Fenster, das in der Tür eingebaut war.

»Na. Schon wach?«, brummte der Mann draußen.

»Ne, ich liege eingekuschelt auf eurer verfickten Pritsche und schlafe wie ein Baby«, schrie Jakob ihm durch die Tür zu und sprang ungeduldig auf und ab.

»Ich mein ja nur. Wundert mich, dich so ausgeschlafen zu sehen, so wie du letzte Nacht geschrien hast. Wir waren kurz davor, den Arzt zu rufen, und der mag es gar nicht, wenn er nachts gestört wird. Hast uns ganz schön auf Trab gehalten«, erklärte der Wärter.

Diese verdammten Albträume. Sie würden nie aufhören, Jakob zu verfolgen.

»Ist mir scheißegal, was mit eurem Arzt ist. Ihr könnt das Wohnzimmer hier für den nächsten Gast fertig machen, ich bin bereit abzureisen.«

»Immer langsam, junger Mann«, sagte der Bulle beschwichtigend, »ich werde nachfragen, ob du gehen kannst.« Er schlurfte davon.

Jakob begann, durch den Raum zu laufen, von einer Ecke in die andere, und wartete. Nervös wischte er sich seine feuchten Handflächen an der Jeans ab. Endlich kam der Bulle zurück, schloss umständlich die Zellentür auf, händigte Jakob in einem langen Prozedere Schuhe, Gürtel, Wertsachen und seinen Ausweis aus und ließ ihn irgendein Dokument unterschreiben. Dann durfte er gehen.

Von der Sonne geblendet, trat er durch die Glastür der Polizeiwache auf die Straße, wo ihn ein heißer Sommervormittag empfing. Er blinzelte und wollte gerade den Weg nach Hause antreten, als er mitten in der Bewegung innehielt und abrupt stehen blieb.

Auf dem Rand eines Betonkübels, in den, bei einem vergeblichen Versuch, das Nordstadtbild zu verschönern, von einem der vielen alternativen Gutmenschen ein traurig aussehendes Bäumchen gepflanzt worden war, saß Nelu, rauchte eine Zigarette und blickte zu ihm hinüber.

Zögernd machte Jakob einen Schritt auf ihn zu, blieb dann wieder stehen.

Was wollte der Typ von ihm? Hatte er auf ihn gewartet?

War er ein Stalker oder so was?

Entschlossen wandte er sich ab und begann, die Straße in die entgegengesetzte Richtung entlang zu laufen.

»Was ist los? Hast du Angst vor mir?«, rief Nelu hinter ihm her und lachte heiser.

Seine Stimme zog Jakob magisch an. Er gab sich einen Ruck und ging mit klopfenden Herzen auf ihn zu.

Er fühlte sich schäbig in seiner blutverschmierten, zerknitterten Kleidung, die er schon gestern getragen hatte, er roch nach Schweiß und hatte seine Zähne nicht geputzt.

Nelu verströmte einen frischen Duft nach teurem Parfüm. Er bot Jakob schweigend eine Zigarette an. Sie rauchten wortlos.

»Du kannst gut kämpfen. Hab dich vor dem Stadion gesehen.« Anerkennend sah Nelu ihn an, während Jakob verärgert spürte, wie er rot anlief.

»Außer natürlich, wenn du abgelenkt und von so Weicheiern hinterrücks mit einer Flasche k.o. geschlagen wirst.« Nelu lachte. »Das hätte echt nicht sein müssen. Los komm, wir gehen.«

Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, spazierten sie nebeneinander los. Schweigend schlugen sie den Weg Richtung Stadtkern ein und überquerten den Burgwall.

Nelus Gang hatte etwas Tänzelndes. Jede seiner Bewegungen verströmte Energie. Die Aura, die ihn umgab, war so stark, dass sie zu leuchten schien und Jakob sich sicher war, sie sehen zu können.

Die Straßen füllten sich, als sie sich dem Brückstraßenviertel näherten. Selbst an einem Sonntag herrschte hier reges Treiben. Früher als Treffpunkt der Drogen- und Rotlichtszene bekannt, hatte sich das Viertel inzwischen zu einem bunten Szenequartier entwickelt. Fressbuden, Kinos und Kneipen reihten sich dicht aneinander. Menschen, verschiedenster Kultur und Herkunft, kreuzten ihren Weg. Frauen, die ihnen entgegenkamen, starrten Nelu mit bewundernden Blicken an. Er wurde offen angehimmelt. Leidenschaftliche Blicke verfolgten sie.

Der seltsame Mann lungerte an einer der Hauswände herum. Jakob bemerkte ihn schon von Weitem. Er starrte ihnen entgegen, gekleidet in seinem klassischen, braunen Anzug, mit seinem Lederkoffer in der Hand, wirkte er wie ein Bankangestellter, seine gebeugte Körperhaltung allerdings sah irgendwie schräg aus. Er krümmte sich zusammen, als hätte er heftige Schmerzen. Er kam ihnen mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf entgegen, blickte ab und zu auf und strahlte Nelu mit verzerrtem Gesicht an. Er schwitzte stark und strich sich ruckartig feuchte Haarsträhnen aus der Stirn.

Sein verkrampftes Grinsen sah nicht normal aus, stellte Jakob angewidert fest, als er sich ihnen näherte.

Kriecherisch griff der Mann nach Nelus Hand und verbeugte sich beim Händeschütteln mehrmals vor ihm. »Vasile, wie schön, dich zu sehen. Es bleibt bei heute Abend, ja? Es geht doch alles klar, oder?« Er klang nervös und bettelnd, wie ein Kind, das unbedingt Süßigkeiten haben will.

»Klar«, bestätigte Nelu knapp, ohne das kranke Lächeln des Mannes zu erwidern.

Der Mann blieb einen Moment unschlüssig stehen, nickte immer wieder hektisch und lief dann hastig davon, ohne sich zu verabschieden.

»Ich dachte, du heißt Nelu«, murmelte Jakob und blickte dem Mann irritiert hinterher.

»Ein richtiger Rumäne hat viele Namen.«

Jakob sah ihn an. »Du bist Rumäne?«

»Scheiße gelaufen, was? Jetzt rennst du hier mit ’nem Ausländer durch die Stadt. Wie peinlich für dich, du strahlender Sohn deutscher Helden.«

Jakob wollte widersprechen, doch Nelu ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ich verstehe dich schon«, er klang versöhnlich, »ich bin ganz deiner Meinung. Meine Landsleute sind der letzte Dreck, strohdumm und nicht in der Lage, was aus ihrem Leben zu machen. Hilflose, verblödete Irre sind das. Und sie sind faul. Sie stinken wie Abfall, weil sie zu faul sind, sich zu waschen.« Er lachte.

Jakob starrte ihn ungläubig an.

»Ich meine das völlig ernst«, versicherte ihm Nelu, »ich werfe mich selbst nicht mit denen in einen Topf. Ich habe mit den Menschen meiner Nationalität nichts, rein gar nichts gemein.«

Er wurde ernst, richtete sich auf und reckte das Kinn nach oben. »Ich bin anders.«

Jakob nickte, das glaubte er ihm aufs Wort. Schweigend setzten sie ihren Weg fort.

Unweit der Fußgängerzone hockte eine Gruppe Afrikaner auf einer Bank vor dem Pylon, einer 49 Meter hohen Konstruktion aus Stahl und Glas, die wohl Kunst darstellen sollte. Die Männer machten Scherze und unterhielten sich angeregt.

»Schlimmer noch als Rumänen ist dieser schwarze Dreck«, brüllte Nelu plötzlich aus vollem Hals in ihre Richtung. »Neger, Syrer, Türken, Mulatten. Alle so viel wert wie der Dreck, der unter meinen Schuhsohlen klebt. Ich scheiß auf Dortmunds multikulturelles Gehabe.«

Jakob war von Nelus rasantem Stimmungswechsel hingerissen. Seine Wut kam aus dem Nichts, strömte aus ihm heraus, sprühte schillernde Funken und flimmerte in leuchtenden Farben durch den öden, stickigen Sonntagnachmittag.

Nelu fixierte die afrikanischen Männer mit hasserfülltem Blick. Seine Augen glühten.

Der Klingelton von Nelus Handy durchbrach die angespannte Stimmung. Genervt zog er das Gerät aus seiner Hosentasche und entfernte sich. Beim Telefonieren lief er weiter den Gehsteig entlang. Jakob folgte ihm.

»Natürlich, Margarete«, zwitscherte Nelu mit sanfter Stimme, »bitte beruhige dich. Es gab gute Gründe dafür, dass ich dich gestern versetzt habe. Mein kranker Bruder hatte wieder einen Rückfall. Wie bitte? Es kann doch nicht sein, dass du so etwas von mir denkst. Bitte mach mich nicht traurig.« Seine Stimme klang kläglich, aber er grinste Jakob von der Seite an und verdrehte dabei die Augen.

»Natürlich habe ich dein Geld für seine Therapie verwendet. Es ging ihm ja auch schon wieder besser. Aber was soll ich sagen, die Ärzte meinten, ein Rückfall könne immer wieder vorkommen, genau dann, wenn man es am wenigsten erwartet.«

Er stöhnte theatralisch auf.

»Jetzt geht das Ganze wieder von vorne los. Ich werde neues Geld in seine Behandlung stecken müssen. Was?« Er zögerte.

»Ich komme nur, wenn du mir versprichst, mir nie wieder zu unterstellen, dass ich nur auf dein Geld scharf bin. Ich habe auch Gefühle. Margarete, he Engelchen, hör auf zu weinen.« Er wartete einen Moment.

»Ich komme vorbei, dann können wir in Ruhe reden. Bin schon unterwegs.« Er machte albernde Kussgeräusche in den Hörer und steckte das Handy weg.

Jakob starrte ihn entgeistert an. Nelu zuckte entschuldigend mit den Achseln.

»Dumme alte Pute«, erklärte er trocken und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Also, Jakob«, er wirkte abgelenkt, »ich hab was Geschäftliches zu tun. War nett, dich kennenzulernen.«

Jakob spürte eine Leere in seinem Inneren, die wehtat.

Nelu überlegte einen Augenblick.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er dann.

Jakob nickte stumm. Nelu wies ihn mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen.

Sie bogen in eine Seitenstraße ein und gingen auf einen alten, verrosteten VW zu. Nelu deutete mit der Hand auf das Fenster des Wagens, das wegen der Hitze einen winzigen Spalt geöffnet war.

»Gut. So ist es am einfachsten«, murmelte er zufrieden.

Er schaute sich kurz nach allen Seiten um, langte dann in seine Schultertasche und zog eine platte, biegsame Eisenstange hervor, die vorne an der Spitze einen kleinen Haken hatte. Mit einem geübten Griff fuhr er mit der Stange durch den Fensterspalt und hebelte professionell in Sekundenschnelle von innen die Tür auf. Er schwang sich auf den Fahrersitz, riss mit einem Ruck unter dem Lenkrad die Kabel aus der Armatur, rieb sie aneinander und startete den Wagen.

»Worauf wartest du? Steig endlich ein«, rief er ungeduldig nach draußen, »geht’s ein bisschen schneller oder bist du eingeschlafen?«

Jakob riss sich zusammen und setzte sich zu ihm in den Wagen.

»Du klaust so einfach ein Auto?«, stammelte er unbeholfen.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich Rumäne bin. So was lernt man bei uns schon als Kleinkind.« Nelu lächelte versonnen.

»Wo müssen wir denn hin?«

Jakob erklärte stockend, wo er wohnte.

»Wir treffen uns morgen Abend um acht Uhr auf dem Hansaplatz. Sei pünktlich«, befahl Nelu.

Jakob nickte wie eine Marionette, deren Fäden ein anderer zog.

Als sie die Innenstadt hinter sich ließen und Richtung Norden fuhren, er den Fahrtwind durch das Fenster auf seinem Gesicht spürte und sich langsam entspannte, begann ein Gefühl von Freiheit sein Herz zu kitzeln, und das Lachen, das tief aus seiner Brust hervorquoll, war hemmungslos und laut.

Emscher Zorn

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