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Kapitel 10 – Nelu
ОглавлениеDie Schwärze der Nacht verschluckte ihn und ließ ihn unsichtbar werden. Er lief über die hügeligen Waldwege durch die Bittermark. Äste und totes Holz knackten unter seinen Füßen. Irgendwo hörte er eine Eule rufen. In diesem Wald würde er sich blind zurechtfinden. Schon als Kind hatte er jedes Versteck in dieser zugewachsenen, grünen Oase ausgekundschaftet, war auf jeden der alten Bäume geklettert. Er verharrte einen Augenblick vor dem Mahnmal, das an ein Massaker der Nazis an Karfreitag 1945 erinnern sollte, und sich auf einer Lichtung im Wald befand. Dann setzte er seinen Weg fort. Er verließ den Wald und durchquerte ein pingelig gepflegtes, zu Tode langweiliges Wohngebiet.
Vor dem letzten, abseits liegenden Haus in der Siedlung blieb er stehen und spürte sein Herz in der Brust schlagen. Er atmete hechelnd durch den Mund.
Wie konnte es sein, dass dieser Bungalow ihn noch immer so verstörte?
Nelu sprang über das Tor und durchquerte den prächtigen Garten. Der Duft von Rosen drang in seine Nase. Der Geruch holte Erinnerungen zurück und ließ ihm übel werden. Er nahm einen der großen Steine auf, die als Dekoration um das Haus aufgereiht waren, umrundete das Gebäude und blieb vor der hinteren Terassentür stehen. Im Haus war es dunkel. Er holte aus und zertrümmerte mit dem Stein das Fensterglas. Durchsichtige Splitter sammelten sich auf dem Boden.
Sie sollten ruhig denken, dass Einbrecher hier am Werk gewesen waren.
Er griff von innen durch das zerstörte Fenster, öffnete die Tür und trat ein.
Die Beklemmung legte sich wie ein schwarzes Tuch über ihn. Er schaltete das Licht ein und wartete darauf, dass der Schwindel, der ihn ergriff, vorüber ging.
Das kalte Weiß der Möbel, das Weiß des Bodens und der Wände bohrte sich wie Nadelstiche in seine Augen.
Er sah sich als kleiner Junge durch das sterile Haus wandern, auf der vergeblichen Suche nach etwas Lebendigem.
Das schmerzhafte Sehnen nach einem liebevollen Wort, einem Lachen in diesem riesigen Gebäude kam zurück. Seine Hände glitten fahrig über seinen Körper. Ihm wurde kalt.
Geld, alles hatte sich immer nur um Geld gedreht.
Nelu biss die Zähne fest zusammen, schritt langsam zu dem gläsernen Wohnzimmertisch und setzte sich auf das weiße, überdimensional große Ledersofa. Er kramte hektisch das Tütchen und das Metallrohr aus der Tasche seiner Anzughose, zerkleinerte mit seiner Kreditkarte das Pulver, das er auf den Tisch gestreut hatte und zog eine riesige Line. Er stöhnte auf und legte den Kopf in den Nacken.
So war es schon besser. Er fuhr mit dem Finger über die Glasplatte und verrieb die Reste des Pulvers auf seinem Zahnfleisch.
Er sprang auf und tigerte durch das Haus, in dem er aufgewachsen war und noch immer in manchen Nächten schlief, auch wenn er von anwesenden Personen komplett ignoriert wurde.
Hier sprach schon lange niemand mehr mit ihm. In diesem Haus war er ein Geist, der missbilligend akzeptiert wurde.
Seine Eltern würden noch lange nicht nach Hause kommen. Die Partys, die der Golfklub veranstaltete, endeten nie, bevor der nächste Tag angebrochen war.
Sein Blick fiel auf die gerahmten Fotos auf dem Sideboard.
Er betrachtete den kleinen Jungen in Anzug und Krawatte, mit seinem schönen Gesicht, umgeben von Unmengen teurem Spielzeug. Nelu konnte die Verzweiflung und die Angst in seinen dunkelblauen Augen sehen.
Er zog geräuschvoll die Nase hoch und starrte die Bilder an. Mit einer kraftvollen, schnellen Bewegung fuhr sein Arm über das Sideboard und er riss die Fotos zu Boden. Es knirschte, als er die Bilderrahmen mit seinen Füßen zertrat.
Er hastete durch das klinisch saubere Haus, öffnete den Haushaltsraum und holte den großen Vorschlaghammer heraus.
Der erste Schlag gegen den Wohnzimmerschrank, der unter seinem Schwung in tausend Stücke zerbrach, war wie eine Befreiung.
Immer hatte er Druck verspürt. Er sollte höher, weiter, besser sein, als alle anderen Kinder.
Nelu schlug auf das weiße Klavier im Wohnzimmer ein. Die schwarzweißen Tasten stießen jaulende Klimpertöne aus und flogen in alle Himmelsrichtungen.
Wenn sein Vater wüsste, dass er sich inzwischen sein eigenes Imperium aufgebaut hatte. Er hatte es auf seine Weise geschafft, sich Macht, Ansehen und Geld zu verschaffen und er würde es noch weiter bringen, auch ohne den vorgeschrieben Weg des alten, verstockten Mannes zu gehen.
Nach einer Weile hielt er schnaufend inne und sah sich fasziniert in dem Chaos um, das er angerichtet hatte.
Es fühlte sich gut an, doch er musste seine Kräfte sparen.
Er hatte noch viel Arbeit vor sich und Großes vor.
Diesen Volltrottel Jakob, den er kennengelernt hatte, würde er sich so biegen, dass er ihm von großem Nutzen sein würde.
Nelu öffnete mit dem Zahlencode den Safe im Schlafzimmer seiner Eltern und ließ wahllos ein paar Scheine in seine Tasche gleiten. Er stieg über zerbrochenes Glas und die zertrümmerte Einrichtung und verschwand mit einem verklärten Lächeln im Gesicht so lautlos in der Nacht, wie er gekommen war.