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Kapitel 2 – Jakob

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Eine dunkle Gestalt hockte im Schneidersitz auf dem Dach eines parkenden Autos. In dieser Stadt war es normal, dass man zu jeder Tageszeit auf die skurrilsten Typen traf, dennoch bemerkte Jakob, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er rührte sich nicht. Durch die Dunkelheit nahm er wahr, wie die schemenhafte Gestalt auf dem Autodach die Arme nach oben richtete und sich ausgiebig streckte.

»Warum denn so wütend?« Die Stimme des Mannes war dunkel und rauchig. Mit einem Satz sprang er, geschmeidig wie eine Katze, auf die Straße und lehnte sich an eine Hauswand. Sein Gesicht blieb im Schatten verborgen, nur seine Augen schienen im Dunkeln zu leuchten.

Wahrscheinlich hat der Typ einfach zu viel Kokain gezogen, versuchte Jakob, sich zu beruhigen, doch die plötzliche Nervosität, die sich in ihm ausbreitete, ließ sich nicht vertreiben. Der Mann trat aus dem Schatten und kam auf Jakob zu. Er war etwa in seinem Alter. Feste Bauchmuskeln bildeten sich unter seinem schwarzen Seidenhemd ab und er trug eine teuer aussehende, perfekt sitzende Anzughose. Sie starrten sich an. Jakob hatte noch nie ein so schönes Männergesicht gesehen. Er glotzte in die tiefblauen Augen des Mannes, auf die harten, hervortretenden Wangenknochen in der fast schon weiblichen Form des schmalen Gesichts, die glatte, hellbraune Haut und das dunkle, nach hinten gegelte Haar und kam sich vor wie ein Idiot.

»Ich hab dich was gefragt«, zischte der Mann, »ich hab dich gefragt, warum du wütend bist.« Er strahlte eine Gefährlichkeit aus, die Jakob faszinierte. Sein Blick blieb an der gezackten Narbe hängen, die sich, zartrosa schimmernd, quer über den Hals des Mannes zog. Er riss sich zusammen und sah beschämt zu Boden. »Bin immer wütend«, murmelte er.

Der Mann nickte wissend und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Nelu.«

Jakob schlug ein und nannte seinen Namen.

»Vielleicht sieht man sich mal wieder.« Nelu zuckte gelangweilt mit den Schultern, wandte sich ab und ging.

Jakob spürte verwundert ein nagendes Gefühl von Sehnsucht, als er dem Mann, dessen Präsenz die ganze Straße einnahm, hinterher sah. Die Schützenstraße schien endlos lang zu sein. Im fahlen Licht der vereinzelten Straßenlaternen hatte er das Gefühl, durch eine Geisterstadt zu wandern. Grau an grau lehnten sich die Häuser, die ihre besten Tage längst hinter sich gelassen hatten, aneinander und beobachteten ihn aus blinden Fenstern.

Endlich kam er an dem renovierungsbedürftigen Mehrfamilienhauses an, in dem er mit Mutter lebte. Er schlurfte die Treppen hinauf bis ganz nach oben.

»Hier wohnen Marianne und Jakob Teuber«, stand auf dem grottenhässlichen, selbst getöpferten Herz, das an der Wohnungstür hing. Peinlich berührt sah Jakob weg. Wenn man das las, könnte man denken, dass hier ein Ehepaar wohnen würde und nicht Mutter und Sohn.

Leise schloss er auf und betrat auf Zehenspitzen die Wohnung, um Mutter nicht zu wecken. Wie immer empfing ihn ein dumpfer Geruch nach Kohlrouladen, der sich nicht vertreiben ließ, egal, wie stark man lüftete. Er schlich durch den engen, schlauchförmigen Flur. Sein Blick fiel nach vorne. Das gerahmte Bild nahm die gesamte Wandbreite ein. Wie immer starrte der streng aussehende Jesus, der darauf in Lebensgröße abgebildet war, strafend auf ihn hinunter, beobachtete jede seiner Bewegungen und ließ ihn nicht aus seinen stumpfen Augen. Er schien bereits auf ihn gewartet zu haben.

»Hör auf zu glotzen, du blöde, langhaarige Tunte«, murmelte Jakob leise in Richtung Bild. In seinem Zimmer streifte er erleichtert die Turnschuhe von den Füßen und warf sich auf sein Bett. Er landete auf etwas Hartem und griff mit einer Hand unter seinen Rücken. Er stöhnte, als er erkannte, was es war. Mutter hatte ihm wieder eine Bibel auf sein Bett gelegt.

Sie würde nie aufgeben.

Er warf die Bibel mit Schwung in die andere Ecke des Zimmers, wo sie erst an die Wand knallte, dann aufgeschlagen auf dem Teppich liegen blieb. Seine gesamte Kindheit hatte er in der Kirche verbracht. Als Vater noch lebte, war es Jakobs einzige Aufgabe gewesen, zu beten, zu schweigen und sich möglichst unauffällig zu verhalten. Nach Vaters Tod, begann er zu rebellieren. Er ging nicht mehr in seine verhasste Schule und heftige Wutanfälle schalteten seinen Kopf aus, die ihn von einer Schlägerei in die nächste führten. Noch immer fühlte sich sein Leben an, als würde er in einer Zwangsjacke stecken, deren Druck sich nur löste, wenn er seiner Wut freien Lauf ließ. Er konnte nichts daran ändern.

Eine bleierne Müdigkeit legte sich über ihn. Er dachte an den seltsamen Mann, der ihm auf dem Weg nach Hause begegnet war. Nelu hatte etwas Besonderes an sich gehabt. Etwas, wonach sich Jakob in seinem tiefsten Inneren sehnte.

Die Albträume ließen, wie fast jede Nacht, nicht lange auf sich warten. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein hatten sie den ganzen Tag gelauert, still und verborgen, und hatten Hände reibend auf den Moment gewartet, in dem er endlich in den Schlaf fiel. Sie quälten ihn, bis der Morgen sie vertrieb.

Jakobs T-Shirt klebte feucht an seinem Körper, als er erwachte. Es war Samstag.

Eine Weile lag er in seinem Bett, ohne sich zu rühren, und weigerte sich, die Augen zu öffnen. Wofür sollte er aufstehen?

Die Langeweile, die sein Leben beherrschte, legte sich wie Klebstoff über ihn, ließ ihn bewegungslos werden und nahm ihm die Luft zum Atmen. Erst als ihm einfiel, dass heute ein wichtiges Fußballspiel stattfinden würde und er tatsächlich eine Karte fürs Stadion hatte auftreiben können, begann er, sich zu regen.

Fußball, dieses dämliche Spiel, bei dem erwachsene, durchtrainierte Männer einem Ball hinterherliefen wie Kinder und das Ganze für ein Weltgeschehen hielten.

Er war kein Fan irgendeiner Mannschaft, schaute sich nie ein Spiel im Fernsehen an. Das Einzige, was er an Fußball liebte, war diese aufgeheizte, gewaltbereite Stimmung im Stadion. Diese Aggression, die alles beherrschte und aus einem braven Familienvater ein wildes Tier werden ließ. Heute fand das lang ersehnte Revierderby statt. Gelb gegen Blau. Auf Aggressionen würde er nicht lange warten müssen. Heute ist ein guter Tag, um sich mal richtig zu schlagen, beschloss er und stieg aus dem Bett.

Wie immer hatte Mutter den Küchentisch liebevoll gedeckt. Sobald er sich setzte, hörte er das Schlappen ihrer Hausschuhe näher kommen und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Sie schob ihren runden, weichen Körper zu ihm in den Raum und strich mit der Hand über sein millimeterkurz rasiertes Haar.

Unwillig zog er den Kopf zur Seite.

Aus dem Wohnzimmer dröhnte das stumpfsinnige Geplapper des Fernsehers.

Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Habe ich einen Hunger, Hase. Mir knurrt der Magen, aber ich wollte so gerne mit dir zusammen frühstücken, also habe ich gewartet. Ich sehe dich ja so selten, jetzt, wo du jeden Tag auf der Arbeit bist.« Sie strahlte ihn dämlich an, während sie ihm Kaffee einschenkte und fürsorglich eine Scheibe Graubrot aus dem Discounter auf seinen Teller legte.

Jakob beobachtete sie schweigend. Er hasste dieses Gefühl von Mitleid, das ihn überkam, wenn er sie ansah.

Sie faltete ihre Hände und schloss die Augen. »Herr. Wir danken dir für Speis und Trank. Gesegnet seien deine Gaben und deine Güte. Amen.«

»Amen«, antwortete Jakob leise. Er bestrich sein Brot lustlos mit Marmelade und biss hinein. Mutter schien es wie immer zu schmecken. Sie kaute mit vollen, rosigen Backen. »Ich muss mich beeilen. In einer halben Stunde fängt die Quizshow ›Raten mit Robert‹ an. Danach läuft gleich der Rosamunde-Film. Ich liebe das Fernsehprogramm am Samstagnachmittag.« Ihr einfältiges Lächeln hatte etwas Seliges.

Komisch, dachte Jakob, sie hängt den ganzen Tag vor der Glotze, verlässt das Haus nur zum Einkaufen und am Sonntag, wenn sie zum Gottesdienst die Straße runter in die Pauluskirche wackelt, trotzdem scheint sie glücklich zu sein. Wie macht sie das nur?

Er räusperte sich. »Mutter, ich muss dir was sagen.«

»Was denn?«, fragte sie. »Hase?« Ihre Stimme nahm einen misstrauischen Ton an.

»Die Maßnahme vom Jobcenter. Ich bin gestern gegangen. Habe abgebrochen. Bin mit den Kollegen nicht klar gekommen.« Er sah sie an.

Es dauerte lange, bis sie reagierte.

»Warum sind die Menschen immer so gemein zu dir, Jakob? Ich bin mir sicher, dass du nichts falsch gemacht hast. Die Leute verstehen dich einfach nicht. Das war schon immer so. Ärgere dich nicht, Hase. Es wird alles gut.« Sie widmete sich wieder ausgiebig ihrem Teller und verzog trotzig die Mundwinkel.

Jakob nahm das angespannte Flackern in ihren Augen wahr.

»Es geht nicht darum, ob ich mich ärgere oder nicht«, brauste er auf und kämpfte darum, nicht laut zu werden, »es geht darum, dass uns das Geld fehlen wird. Das Jobcenter wird nichts mehr zahlen. Verstehst du? Was machen wir jetzt?«

Ihr Blick irrte in der Küche umher, ohne etwas zu fassen, streifte planlos über die ramponierte Kücheneinrichtung.

»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, flüsterte sie mit wackliger Stimme, »wir sind Gottes Kinder, und alles hat seine Richtigkeit, auch wenn wir es im ersten Moment nicht verstehen. Wir müssen einfach vertrauen. Das hat dein Vater auch immer gepredigt. Erinnerst du dich?« Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Jakob spürte die Blitze, die plötzlich in seinem Kopf zu zucken anfingen, ein violetter Schleier legte sich über seine Augen, und er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

»Du sollst nicht mit mir über Vater sprechen. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«, keifte er sie an. Er schnappte nach Luft und knallte mit zitternder Hand seine Kaffeetasse auf den Tisch. »Bin fertig«, murmelte er mit heiserer Stimme und sprang auf, »ich leg mich noch mal hin.«

»Ok, Schatz«, rief sie gut gelaunt und begann, vor sich hin summend, den Tisch abzuräumen. Sie war eine Meisterin darin, die Realität zu verdrängen. Fluchtartig verließ er die Küche und verschwand in seinem Zimmer. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Es gelang ihm nicht, dafür zu sorgen, dass es Mutter gut ging. Nichts in seinem Leben gelang ihm.

Die gewohnte Geräuschkulisse des Fernsehers, die durch die Wohnung hallte, wurde lauter.

Er griff mit einer Hand unter das Bett und zog die Flasche Wodka hervor, die er dort deponiert hatte. Er trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche und wurde augenblicklich ruhiger. Noch zwei Stunden, bis er zum Fußball gehen würde. Genau die richtige Zeit, um schon mal vorzuglühen. Er setzte die Flasche an.

Emscher Zorn

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