Читать книгу Teufelsweg - Maren Nordberg - Страница 10
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ОглавлениеInga rekelte sich gemütlich im Bett, sie erwachte langsam vom Radiowecker und fühlte sich richtig gut. Gleich gab es ein leckeres Frühstück mit Müsli, Obst, Tomaten, Gurken, Eiern und frischen Brötchen im Gemeinschaftsraum, wie jeden Morgen seit mehr als vierzehn Tagen. Die späte Septembersonne strahlte in ihr Zimmer, das hatte sie hier noch nie erlebt, der September war vom Wetter her gesehen der schlechteste seit Jahren. Das hatte sie nicht weiter gestört, denn da sie als suizidgefährdet galt, durfte sie das Haus nicht für weite Spaziergänge verlassen, ihr stand nur ein kleiner Innenhof zur Verfügung. Sie hatte Glück gehabt, nach ihrer Einlieferung war sie nur die ersten beiden Tage im hässlichen, hohen Krankenhausturm des Krankenhauses Bremen Ost untergebracht, wo man den ganzen Tag den Wind an den Sonnenschutzanlagen heulen hörte. Da ihre psychische Erkrankung offensichtlich war, durfte sie danach in eines der kleinen alten Gebäude der Psychiatrie auf dem weitläufigen Parkgelände umziehen. Hier hatte sie sich mit Hilfe vieler Gespräche schnell erholt, oder lag das eher an der guten Versorgung mit Schlafmitteln und Psychopharmaka, fragte sie sich manchmal. Um das zu ergründen, nahm sie die Tabletten schon seit vier Tagen nicht mehr. Außer ihr selber wusste allerdings niemand von diesem Experiment. Sie sammelte die Pillen zur Sicherheit im Saum ihrer gesteppten Jacke. Von innen hatte sich eine Naht etwas gelöst und sie hatte nie Lust gehabt, das Loch wieder zu nähen. Jetzt erwies sich das als Glücksfall, denn in dieser Abteilung wurde streng darauf geachtet, dass keine Scheren oder scharfen Gegenstände herumlagen. Auch hatte sie oft den Eindruck, dass die Zimmer und Taschen während ihrer Abwesenheit kontrolliert wurden, damit alle Selbstmordversuche im Vorfeld vereitelt werden konnten. Die Pillen, die sie unter Aufsicht zu nehmen hatte, schluckte sie also nur scheinbar und steckte sie eine nach der anderen in den Saum, darin warteten sie aufgereiht wie die Bleigewichte in einer altmodischen Gardine auf ihren Gebrauch.
Sie fühlte sich nach den vier medikamentenlosen Tagen immer noch erstaunlich gut, obwohl sie zwischendurch leichte Entzugserscheinungen spürte, und das nach nur etwas mehr als vierzehn Tagen Behandlung. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Medikamentenkonsum zu Hause auch mitzählen musste. Ihr war klar, dass sie diese Phase früher oder später sowieso durchzustehen hatte. Und ich will nicht wieder in so ein Loch fallen, denn es wäre doch schade, wenn ich aus dem Leben scheide, bevor ich die Psychologie der Raserei erkundet habe, dachte sie, umbringen kann ich mich dann immer noch.
Umgeben von Psychiatern, Psychologen und Pädagogen verschiedener Ausrichtungen und eingedeckt mit Lesestoff zu psychischen Problemen war ihr aufgefallen, dass sie bisher noch nie eine psychologische Erörterung über das Phänomen der rückhaltlosen Raserei auf den deutschen Straßen gelesen hatte. Und diese Fragestellung, warum wollen so viele Menschen überhaupt rasen, obwohl sie dabei die Tötung von Menschen billigend in Kauf nehmen, erschien ihr sehr interessant. Das hatte sie allerdings ihrem behandelnden Arzt, Herrn Dr. Langner, lieber nicht erklärt, denn sie hatte ihn öfter mit der Keycard eines Porsche Linien in seinen Schreibblock ziehen sehen. Sie war auf seine gute Meinung angewiesen, denn sie wollte jetzt auf dem schnellsten Weg hier raus. Der Prozess gegen den Unfallverursacher begann Anfang nächster Woche, und dem wollte sie auf alle Fälle beiwohnen, eine direktere Möglichkeit zur Einsicht in die Psyche eines Rasers bot sich so schnell nicht wieder.
An Rainer dachte sie auch öfter, erst gestern hatte sie ihn wieder mit seinem Rad davonfahren sehen. Er gab nicht auf, obwohl er mit seinem Verein, oder mit der Bürgerinitiative PRO 130, wie er es neuerdings nannte, sicher mehr als genug zu tun hatte. Im Weser-Kurier war am Sonnabend ein langes Interview mit Rainer gewesen, in dem es um die Ziele seiner Initiative ging. Er und seine Mitstreiter glaubten tatsächlich, dass sie durch Aufklärungsheftchen sowie Fähnchen- und Luftballonaktionen eine Chance hätten, ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen durchzusetzen. Darüber konnte Inga nur müde lächeln. Allerdings musste sie ihm zugestehen, dass sie schon gespannt war auf die angekündigten Flashmobs und besonders auf den Internetpranger. Darauf sollte bald jeder Videoclips und Fotos von Verkehrsgefährdungen ausstellen können. Diese Ankündigung hatte für Aufruhr gesorgt, auf der Titelseite der BUNT-Zeitung war schon ein Antipranger dazu angekündigt worden, auf dem Enthüllungen über Mitglieder der Bürgerinitiative PRO 130 gesammelt werden könnten.
Mit Rainer hatte sie seit dem unseligen Abend, als er sie zwingen wollte, die Suppe zu essen und sich dann doch unten Wohnzimmer mit irgendwelchen Leuten seiner Initiative vergnügt hatte, nicht mehr gesprochen. Sie würde ihn noch eine Weile zappeln lassen müssen, bis sie mit sich selber wieder ganz im Reinen war. Er hatte aber auch selber schuld, wenn er sie so sitzen ließ. Nicht mal mehr zum Schlafen war er aufgetaucht, wo sie ihn in dieser schwierigen Phase, wo sie dabei war, ihr einziges Kind ganz zu verlieren, doch so sehr gebraucht hätte. Wenigstens war er hier alle zwei drei Tage aufgetaucht und hatte versucht sie zu besuchen, allerdings ohne Erfolg, denn sie hatte sich standhaft geweigert, ihn zu empfangen. Vor einer Woche hatte er einen Brief abgegeben, den sie dann bei einem Gespräch mit Herrn Dr. Langner erhalten hatte. Herr Dr. Langner hatte ihr erklärt, dass mit diesem Brief eine schwere Last von ihr genommen werde, denn sie brauche nicht beim Prozess in Augsburg, wo der Unfall ab dem 5. Oktober verhandelt werden sollte, aussagen. Als Herr Dr. Langner an ihrer Reaktion merkte, dass sie diese Information nicht positiv aufnahm, fügte er erklärend hinzu, dass der Grund nicht ihre Erkrankung, sondern die eingeschränkte Prozessfähigkeit des Angeklagten sei. Dieser leide an starkem Asthma und sei auch schon 58 Jahre alt, deshalb habe man sich im Vorfeld darauf geeinigt, die Verhandlung zu verkürzen, damit sie überhaupt stattfinden könnte. Als Zeugenaussagen reichten in diesem Fall die Aussagen, die in den Polizeiprotokollen festgehalten worden waren.
Nach dem Frühstück zog sich Inga ihre gute Bluse an, kämmte die Haare durch und band sie sorgfältig hoch. Zur Feier des Tages legte sie auch ihre seit zwei Jahren verschollenen goldenen Ohrringe an. Diese hatte sie in ihrer Tennistasche wiedergefunden, die sie zurzeit als Reisetasche nutzte. Beim überstürzten Aufbruch ins Krankenhaus hatte sie so schnell keine bessere Tasche gefunden. Heute wollte sie Herrn Dr. Langner zeigen, wie gut es ihr ging, damit sie am besten noch heute entlassen wurde. Es war schon Mittwoch und sie wollte ihren Aufenthalt in Augsburg vorbereiten.
Sie merkte an ihren kalten feuchten Händen, wie erregt sie war, als sie an die Tür ihres Arztes klopfte. Sie holte tief Luft und trat ein. Nach der Begrüßung kam Inga gleich zur Sache: »Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir so schnell geholfen haben.«
Langner sah sie erstaunt an. »Das freut mich, dass Sie sich jetzt schon wieder so gut fühlen, dann können wir für nächste Woche den Behandlungsplan so umstellen, dass wir die tieferen Probleme vorsichtig beleuchten.«
»Das wäre sehr schön«, gab Inga vorsichtig zurück, »ich gehe davon aus, dass die weiteren Therapien ambulant zu organisieren sind.«
Die kleine Pause, die ihr Gegenüber einlegte, gefiel Inga nicht, dann konzentrierte sie sich gespannt auf seine Worte. »Ich will ganz offen zu Ihnen sein, eine Sachlage wie bei Ihnen mit Unfall, Eheproblemen, Schwierigkeiten mit dem Sohn und eine beginnende Medikamentenabhängigkeit inklusive Hang zum Suizid erleichtert die Therapie nicht gerade, das wird ein weiter Weg werden.«
»Soll das bedeuten, dass die Behandlung noch längere Zeit in Anspruch nimmt?«
»So wird es sein, es soll aber auch heißen, dass sie auf alle Fälle noch eine Weile hierbleiben müssen.«
»Das wird nicht möglich sein, denn es wird höchste Zeit, dass ich meinen Verpflichtungen zu Hause endlich wieder nachkomme.«
»Wie stellen Sie sich das denn vor, wo sie nicht mal hier mit Ihrem Mann sprechen wollen, wenn er vor der Tür steht?«
»Jetzt, wo es mir wieder gut geht, ist mir klar, dass ich meinen Mann nicht länger hinhalten darf, es ist höchste Zeit, dass sich unser Leben wieder normalisiert.«
»Was verstehen Sie denn unter normalisiert, dass sie wieder wie vor Ihrem Zusammenbruch putzen, kochen und sich einigeln?«
»Natürlich nicht, Sie haben sicher in der Zeitung von den Aktivitäten meines Mannes gelesen, ich will ihn endlich bei der Arbeit für die Bürgerinitiative unterstützen.«
»Es tut mir leid Frau Gartelmann, das würde ich Ihnen gerne glauben, es passt aber leider nicht zu dem, was uns Ihr Mann über Ihre Ansichten zu seinen Aktivitäten erzählt hat.«
»Wie, sie haben mit meinem Mann über mich gesprochen, ohne mich zu fragen?« »Natürlich, Ihr Ehemann hat das Recht, Informationen zu Ihrem Gesundheitszustand zu erhalten. Dafür findet bei uns im Hause immer ein Gespräch statt, bei dem wir natürlich auch die häusliche Situation aus Sicht des Partners abklären, um uns ein gutes Bild über den Krankheitsverlauf machen zu können.«
»Wie soll ich Ihnen denn vertrauen, wenn Sie hinter meinem Rücken mit meinem Mann sprechen?«
»Wenn Sie möchten, dass Ihr Mann keine Informationen mehr erhält, werden wir uns selbstverständlich danach richten.«
Inga hatte das Gefühl, dass Dr. Langner ihren Entlassungswunsch nicht wirklich ernst nahm: »Herr Dr. Langner, ich möchte Sie bitten, einen Behandlungsplan aufzustellen, bei dem ich ambulant zu den Sitzungen kommen kann. Ich habe jetzt keine Zeit mehr, hier meine kompletten Tage zu verbringen.«
Langner zögerte kurz, eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel, dann begann er leise und überlegt: »Ich erkläre Ihnen jetzt, warum ich Sie nicht entlassen werde: Sie zeigen gerade das typische Verhalten eines potenziellen Selbstmörders. Sie ziehen sich gut an, legen Schmuck an und versuchen uns allen schon seit einigen Tagen zu beweisen, wie gut es Ihnen geht. Da sind Sie nicht die Erste, die das hier versucht. Sobald Sie dann wieder draußen sind, haben sie nichts Eiligeres zu tun, als sich vor den nächsten Zug zu werfen.«
Inga schossen die Tränen in die Augen. Das hatte sie nun wirklich nicht vor. Jetzt von ihren wirklichen Plänen zu erzählen, half auch nichts mehr. Sie hatte genug. Sie stand abrupt auf und verließ grußlos den Raum.
*
Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Inga konnte es kaum glauben, da bildete sich so ein junger lackaffiger Porschefahrer ein, er könnte über ihr Leben entscheiden. Sie hastete mit weit ausholenden Schritten den Gang entlang. Das war Freiheitsberaubung, das durfte er nicht! Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte fast zum Raum zurück, den sie eben so unüberlegt verlassen hatte. Gegenüber von Herrn Dr. Langners Tür saß Petra Anders auf einem der Stühle im Gang, Inga hatte sich beim Frühstück vor zwei Tagen kurz mit ihr unterhalten. Sie war extrem dünn und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Seit ihrem dritten Versuch, sich ins Jenseits zu befördern wurde sie so mit Psychopharmaka vollgepumpt, dass sie nur noch wie eine Puppe herumsaß und kaum sprach. Hatte sie vor einer Minute auch schon dort gesessen und ihren schnellen Abgang beobachtet? Inga war sich nicht sicher. Langner hatte seine Tür für die nächste Patientin, Petra Anders, geöffnet und stand mit ungeduldiger Miene im Flur. Sie schien ihm nicht schnell genug zu kommen, er zog ungeduldig sein Schlüsselbund aus der linken großen Kitteltasche und ließ es wieder zurückgleiten.
Inga stürzte auf ihn zu und schrie ihn an: »Sie dürfen mich hier nicht gegen meinen Willen festhalten!«
»Bitte beruhigen Sie sich, wir wollen doch nur das Beste für Sie«, erwiderte er laut und bestimmt.
»Was das Beste ist, bestimme ich immer noch selber!«, keifte Inga. Warum mussten Frauen immer so eine schrille Stimme haben, wenn sie schreien, ärgerte sie sich innerlich, damit machte man sich nur lächerlich. Sie merkte, dass sie noch ziemlich geschwächt war, ihr lief kalter Schweiß über den Rücken.
Er neigte sich versöhnlich in ihre Richtung und beteuerte: »Glauben sie mir, wir machen es uns hier nicht leicht. Wir haben lange mit Ihrem Mann überlegt und ihm schließlich geraten, zu Ihrem Schutz für kurze Zeit die Vormundschaft zu beantragen.«
»Und das hat er wirklich gemacht?«
»Ja, er hat sich überzeugen lassen, dass es für Sie in der derzeitigen Situation richtig ist, gerne hat er das sicher nicht gemacht.« Nun war alles vorbei. Ohne Rainers Hilfe würde sie hier nicht wegkommen. Und ihn anbetteln, kam für sie nicht in Frage. Sie glaubte zu träumen, da können in Bremen stadtbekannte Drogenabhängige ihre Kinder jahrelang unbehelligt mit Heroin, Kokain und Valium ruhigstellen, sogar noch nach dem Fall Kevin, der von seinem drogenabhängigen Ziehvater langsam zu Tode gequält worden war, und sie selber hatte mal einen kleinen Durchhänger und wurde sofort entmündigt. Das durfte doch nicht wahr sein.
Petra Anders war inzwischen aufgestanden und verfolgte die Szene mit ihren tiefliegenden dunklen Augen aus sicherer Entfernung. Ihre langen schwarz gefärbten Haare beschatteten ihr Gesicht und gaben ihm etwas Unheimliches. Inga musste weg von hier, sie musste flüchten. Sofort. Sonst endete sie noch wie Frau Anders. Sie warf Herrn Dr. Langner einen kurzen Blick zu. Er strich sich über seine Haare und schien darauf zu warten, dass Inga geknickt von dannen zog. Sie dachte aber nicht daran, sich in ihr Schicksal zu fügen. Jetzt war die Gelegenheit günstig, Langner schien ihre Gedanken nicht zu erahnen, er war völlig arglos.
Sie beugte sich vornüber und fasste sich an den Kopf.
»Kommen Sie, Frau Gartelmann, setzten Sie sich hier auf den Stuhl an der Wand.« Der Arzt versuchte, sie vorsichtig zu stützen. Darauf hatte Inga gehofft. Sie tat so, als ob sie gegen ihn stürzte, und griff dabei mit ihrer Rechten gezielt in seine linke Kitteltasche. Sie krallte sich am Kittel fest und riss den Mann damit fast zu Boden. Sie spürte, wie sein gepflegter Schnauzer ihre Haare streifte. Da, sie konnte das kalte Metall in der Tasche spüren. Sie griff beherzt zu, nun musste sie die Schlüssel nur noch unbemerkt aus der Tasche herausbekommen. Sie lockerte den Klammergriff ihrer linken Hand kurz, um dann erneut fest zuzugreifen, diesmal hatte sie allerdings nicht nur den Kittelstoff erwischt, sondern auch noch eines seiner kleinen Fettröllchen, die über seinen Gürtel quollen, fest zwischen Mittel- und Ringfinger eingeklemmt. Sie kniff zu, so fest sie konnte. Gleichzeitig rammte sie ihren Kopf in Richtung Schnauzer. Sie erinnerte sich, dass ihr Sohn ihr auf diese Weise früher bestimmt zweimal aus Versehen die Lippen blutig geschlagen hatte. Ihr Widersacher zuckte heftig zurück, es gelang ihr tatsächlich, ihre rechte Hand mitsamt dem Schlüsselbund unbemerkt aus seiner Tasche zu ziehen. Sie verbarg die Schlüssel so gut es ging in ihrer Hand und ließ sich zu Boden gleiten.
Langner hielt sie für ohnmächtig und drehte sie geübt in die stabile Seitenlage. Er atmete hörbar erleichtert auf. Sofort griff er zu seinem Telefon in der Brusttasche und rief eine Schwester herbei, gleichzeitig suchte er in seiner Kitteltasche nach dem Schlüsselbund, weil die Tür zum Erste-Hilfe-Raum neben seinem Zimmer abgeschlossen war. Da er die Schlüssel nicht fand, rannte er in seinen Raum zurück, wahrscheinlich in der Annahme sie dort vergessen zu haben. Vielleicht brauchte er auch dringend ein Taschentuch um sich Blut abzuwischen, Inga konnte aus ihrer Lage leider nicht erkennen, ob er tatsächlich eine aufgeplatzte Lippe oder Nasenbluten hatte. Gegönnt hätte sie es ihm, sie einfach hier festzuhalten und Rainer gegen sie aufzuhetzen! Inga ließ die Schlüssel in ihrer Hosentasche verschwinden.
Sie hörte von Ferne heraneilende Schritte mit quietschenden Schuhen, sie musste sich jetzt irgendwie in Sicherheit bringen. Inga blinzelte vorsichtig den Gang entlang, konnte aber noch niemanden sehen, auch Petra Anders war verschwunden. Vorsichtig rappelte sie sich auf, ihr war total schwindelig und ihr wurde schwarz vor Augen. Diese verdammte Schwäche, ärgerte sie sich. Langsam wurde es besser. Langner war noch nicht wieder aufgetaucht, die Helfer wussten hoffentlich noch nicht, wem sie helfen sollten, sie hatte nur eine einzige Chance, sie musste sich ganz normal zu ihrem Zimmer bewegen, als ob nichts geschehen wäre. Mutig machte sie sich mit gemessenen Schritten auf den Weg.
Sie erreichte ihr Zimmer tatsächlich unbehelligt. Schade, dass Patienten ihre Zimmer nicht abschließen konnten. Die entwendeten Schlüssel durfte sie dafür natürlich auch nicht verwenden, dann wusste gleich jeder, wer für das Verschwinden verantwortlich war. Sie musste die kostbaren Schlüssel jetzt sehr schnell verschwinden lassen. Ihr fiel spontan nichts Besseres als der Spülkasten der Toilette ein. Es war zwar ein moderner Unterputzspülkasten, aber zum Glück ein gängiges Modell. So wusste sie von den großen Putzaktionen in den vergangenen Wochen zu Hause, wie man die Drückerarmatur entfernte. Inga riss sie eilig ab, drehte zwei lange, weiße Kunststoffbolzen heraus und dankte dabei dem Himmel, dass die Platte, welche die Barriere zwischen Wassertank und Drückermechanismus bildete, nicht mit altmodischen, widerspenstigen Metallmuttern gesichert war.
Sie hielt inne, um ihre Pulsfrequenz zu bändigen, was ihr leidlich gelang. Nun konnte sie die Schlüssel sicher in eine der Aussparungen klemmen. Dachte sie jedenfalls. In der Eile ließ sie wohl etwas zu früh los, jedenfalls fielen sie mit einem leisen Schmatzen ins Wasser. Vor Ärger biss sie sich herzhaft auf die Unterlippe und quiekte leise auf. Inga schmeckte das Blut und hätte sich ohrfeigen können.
Sehen konnte man die Schlüssel jedenfalls nicht mehr, hoffentlich bekomme ich die da mit meinen bescheidenen Mitteln auch wieder raus, dachte sie, während sie in Windeseile die Drücker wieder aufsteckte. Sie hörte Stimmen vor der Zimmertür, fast hätte sie die Blende vergessen, sie riss die Spülknöpfe wieder ab, setzte die Blende ein und knallte die restlichen Teile wieder an Ort und Stelle. Schnell riss sie den Wasserhahn auf, ließ sich kaltes Wasser in die Hände laufen, um sich Gesicht und Haare anzufeuchten, so wirkte sie vielleicht etwas irre und niemand würde sie so schnell verdächtigen, die Schlüssel genommen zu haben.
Kurz darauf kamen die Helfer ins Zimmer geströmt, geleiteten sie vom Bad zum Bett und gaben ihr eine gut wirkende Beruhigungsspritze. Inga entspannte sich sofort und fiel bald in einen tiefen Schlaf.