Читать книгу Teufelsweg - Maren Nordberg - Страница 9

6

Оглавление

Rainer hatte sehr unruhig geschlafen und war immer wieder aus kurzen Träumen aufgeschreckt, um sechs Uhr dreißig stellte er sich schließlich unter die Dusche und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Inga musste heute erst essen und dann zum Arzt, alles Weitere konnte warten. Und wenn er dafür heute Urlaub nehmen musste, würde er das auch irgendwie regeln können. Schade, dass er dafür keine Gleittage nehmen konnte, genug Überstunden hatte er in diesem Monat schon gesammelt, aber die durfte er nicht tage-, sondern nur stundenweise abbummeln. Allein das wäre eigentlich ein Grund, nach einem neuen Arbeitgeber zu suchen. Unzufriedenheit ist wirklich die Urkraft für Verbesserungen, dachte er, an seine Gedanken vom Vorabend anknüpfend.

Als er in den Flur trat, erklang aus dem Schlafzimmer ein lautes Schnarchen, Rainer seufzte erleichtert, wer so laut schnarchte, konnte mit seinen Kräften noch nicht ganz am Ende sein. In der Küche stellte er fest, dass kein Brot mehr da war, auch kein eingefrorenes. Er fluchte leise vor sich hin, der Gang zum Supermarkt war unausweichlich und er machte sich sofort auf den Weg.

Es dauerte eine Weile, bis er mit Brot und Brötchen im Leinenbeutel wieder in die Havelstraße einbog, denn er hatte nicht eingeplant, dass der kleine Supermarkt in der Ahornstraße seit Ende der Sommerferien erst um neun Uhr öffnete. Deshalb musste er bis zur Friedrich-Ebert-Straße gehen, um in der Bäckerei Schmieder, einem alteingesessenen Bremer Familienbetrieb, einzukaufen. Er schreckte zusammen, als ein Krankenwagen mit Blaulicht um die Ecke bog und über das Kopfsteinpflaster der Havelstraße holperte. Er hoffte, dass keinem ihrer Bekannten etwas passiert war. Früh morgens sollte es die meisten Herzinfarkte geben, hoffentlich hielt der Wagen nicht bei ihrer Nachbarin Trudi Gehringsdorf, sie war schließlich herzkrank, wie sie immer wieder betont hatte. Der Wagen bremste vor ihrem Haus stark ab. Rainer lief immer schneller, vielleicht konnte er helfen, zum Beispiel, indem er Trudi beruhigte und versprach, sich um ihre Katzen zu kümmern. Oh man, dachte er, die Krankenwagenfahrer sind heute wohl auch nicht mehr richtig ausgebildet, denn er sah die beiden Sanitäter nicht zu Trudis Haustür, sondern direkt nebenan durch ihr eigenes Gartentor laufen. Er rief, aber sie hörten ihn nicht. Inga würde ihnen niemals öffnen, hoffentlich rammten sie dann nicht die Haustür auf. Er legte die letzten zweihundert Meter im Dauerlauf zurück und sah gerade noch, wie sich seine eigene Haustür hinter den Sanitätern schloss.

Vor dem Haus stand Marcs Fahrrad. Fahrig suchte Rainer nach seinem Haustürschlüssel. Er zog ihn aus seiner Jeanstasche und öffnete mit zitternden Fingern die Tür. Drinnen stieß er fast mit Marc zusammen. Er wühlte gerade in Ingas Rucksack, der neben der Haustür lag. »Was ist hier los?« quetschte Rainer atemlos heraus.

»Das fragst du noch? Du küsst hier unten seelenruhig junge Frauen und lachst mit denen so laut, dass ich es gestern Abend noch fünf Häuser weiter hören konnte, während deine Frau, die übrigens auch meine Mutter ist, oben im Bett verreckt!«, schleuderte ihm Marc entgegen.

»Lass mich vorbei, ich will sofort zu ihr!« Rainer zwängte sich an ihm vorbei.

»Du brauchst nicht hinlaufen, sie hat ausdrücklich gesagt, dass sie niemanden im Zimmer haben will. Die Sanitäter machen sie gerade transportfertig. Die lassen keinen rein.«

Rainer zuckte zurück: »Hat sie sich was angetan?«

»Du hast ihr was angetan!«, brüllte Marc. »Ich habe sie gerade fast verhungert und verdurstet im verdreckten Bett gefunden. Und der ach so feine Herr, der so sozial ist, treibt sich die ganze Nacht mit irgendwelchen jungen Dingern herum, die meine Schwestern sein könnten!«

»Nun mach mal halblang, ich war gestern den ganzen Abend zu Hause und habe sogar für Inga gekocht.«

»Und warum hat Inga dann gesagt, dass du heute Nacht woanders geschlafen hast und warum stinkt hier dann alles nach Müll?«

Rainer wusste nicht, wie er antworten sollte und sagte vorsichtshalber nichts.

»Mir kannst du nichts erzählen. Ich war gestern Abend hier, wegen deiner dringenden Nachricht auf der Mailbox, und ich habe euch alle durchs Fenster gesehen. Mum war jedenfalls nicht dabei!« trumpfte Marc auf. »Ich habe mir gestern schon Sorgen um sie gemacht, sie klang am Telefon ganz komisch.«

»Das ist ja auch kein Wunder, wo der Herr Sohn Dokumente fälscht und auch noch nach Süddeutschland ziehen will.« Marc setzte zur Antwort an, aber oben wurde die Schlafzimmertür geöffnet und die beiden Sanitäter halfen Inga behutsam die Treppe hinunter.

»Haben Sie die Versicherungskarte gefunden?« wandte sich der jüngere der beiden an Marc. »Nein, hier ist sie nicht.«

»Sie ist noch im Briefumschlag der Versicherung«, fiel Rainer ein, »wir haben doch nach dem Unfall alle neue Karten erhalten.«

Er suchte den Umschlag schnell aus dem Stapel auf dem Flurschrank heraus. »Ich nehme die Karte und begleite meine Frau ins Krankenhaus.«

»Das geht leider nicht, Frau Gartelmann wünscht keine Begleitung, und im Anbetracht der Umstände ist es wohl auch das Beste«, schob er kühl hinterher.«

»Wo bringen Sie sie denn hin?«

»Sie wird sich bei Ihnen melden, wenn sie es möchte, weitere Auskünfte dürfen wir nicht geben.« Diese Worte schienen ihm zu gefallen. Rainer grübelte, ob die beiden ihn wohl aus dem Fernsehen oder aus den Zeitungen kannten. Hoffentlich rannten sie nicht mit Ingas Problemen zu irgendeinem Boulevardblatt, das wäre für ihn persönlich nicht gerade schmeichelhaft. Schlechte Presse konnte die ganze Initiative für Tempo 130 gefährden, denn diese würde zwangsläufig mit seiner Person verknüpft sein.

Rainer stand auf der obersten Treppenstufe und sah wie betäubt zu, als die beiden Sanitäter Inga routiniert in den Krankenwagen halfen. Kurz darauf fuhr dieser ab.

Rainer wandte sich zur Haustür, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und zitterte am ganzen Körper. Die Tür war ins Schloss gefallen, er zog wieder mühsam den Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche und steckte ihn ins Schloss. Er ließ sich aber nicht weit genug hineinschieben. Rainer ruckelte am Schlüssel und versuchte ihn weiter zu schieben, denn solch ein Problem hatten sie vorher noch nie mit der Tür gehabt. Er bekam die Tür nicht auf, aber ihm fiel ein, dass Marc im Haus war. Er klingelte und wartete, nichts rührte sich. Wahrscheinlich betäubte Marc seine Gefühle mit lauter Musik dachte Rainer und begann, energisch gegen die Tür zu hämmern. Rainer konnte durch das Milchglas der Eingangstür erkennen, wie auf einmal Licht in den Flur strömte, Marc hatte also endlich eine Zimmertür geöffnet und war auf dem Weg. Seine Schritte näherten sich der Haustür, er öffnete sie aber nicht. Er rief: »Du musst dich noch eine Weile gedulden, ich will in Ruhe packen, mein Zug fährt heute um elf Uhr. Ich habe von innen den Schlüssel ins Schloss gesteckt.«

»Bitte, Marc, ich muss mit dir reden, es ist nicht so, wie du denkst.«

»Ich sehe doch ganz klar vor mir, wie es ist, du kannst mir nichts mehr erklären.«

»Los, du machst sofort auf!«

»In zwanzig Minuten bin ich weg, dann kannst du eine deiner Freundinnen anrufen und ihr könnt den Saustall hier bewohnen. Mum ist nicht mehr im Weg und mich bist du auch los, dann kannst du machen, was du willst.«

»Marc, bitte!« brachte er gerade noch hervor, bis ihm die Tränen die Kehle zuschnürten. Er ließ sich auf die Treppe sinken.

*

Marc hatte sein Ding durchgezogen, nach zwanzig Minuten war er mit einer großen Reisetasche und seinem 120-Liter-Rucksack aus der Haustür getreten und hatte Rainer keines Blickes mehr gewürdigt. Die Reisetasche hievte er auf sein Fahrrad, dann schob er davon.

Rainer konnte gerade noch die zufallende Haustür aufhalten, bevor die ins Schloss fiel. Er schleppte sich ins Wohnzimmer zum großen Sessel. Ihm liefen die Tränen über das Gesicht. Er fühlte sich kraftlos, wund und zerstört. Warum hatte sich alles gegen ihn verschworen? Alles, wofür er in den letzten Jahrzehnten gelebt hatte, war zusammengebrochen. Inga und Marc wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sein ganzes Leben war ihm entglitten, ja, warum lebte er eigentlich noch? Warum hatte er den Unfall unbeschadet überstanden, wenn sein Leben danach nichts mehr wert war? Der angenehme Teil des gestrigen Abends war wohl so etwas wie die Abschiedsvorstellung seines Lebens gewesen, als ob es ihm noch mal zeigen wollte, wie schön und ausgelassen es sich leben lässt. Nun hatte ihn die Realität eingeholt, die er so lange es ging verleugnet hatte. - Jetzt bin ich schon so wie Inga, fuhr es ihm in die Glieder.

Wenn ich mich jetzt nicht aufraffe, bin ich nichts anderes als ein Depri-Wrack wie Inga. Ich muss etwas tun, um mich abzulenken. Wenn ich mich krankmelde, muss ich den ganzen Tag zu Hause hocken, das halte ich nicht aus. Inga wird sicher nicht so schnell aus dem Krankenhaus anrufen, falls sie überhaupt von sich aus Kontakt aufnimmt. Zu Hause werde ich am wenigsten gebraucht. Aber wenn ich in die Firma gehe, kann ich wenigstens die PRO 130-Bewegung vorantreiben. Es war erst Viertel vor neun, wenn er bis um zehn Uhr am Arbeitsplatz war, brauchte er niemandem etwas erklären, das war auch besser so. Am Ende wollten ihn sonst alle schonen und die Vereinsarbeit geriet ins Stocken. Nach diesen schnörkellosen nüchternen Überlegungen raffte er sich mühsam auf und räumte als Erstes die Spülmaschine ein.

Ich bin wohl ein typischer Urbremer, dachte er, die werden doch immer als eher emotionslos und geschäftstüchtig beschrieben. So erinnerte er sich an einen Aufsatz aus dem 19. Jahrhundert von einem Herrn Beurmann, der Bremen als ernste, kahle, gescheuerte Stadt bezeichnete, in der man seine Geschäfte besorgte und ansonsten seine Ruhe pflegte, die Ruhe allerdings wohl nur am Sonntagnachmittag, wenn er es sich richtig gemerkt hatte.

Nachdem er die Spülmaschine gestartet hatte, quälte er sich ins Schlafzimmer und zog die Betten ab. Er stopfte die Überzüge in die Waschmaschine und stellte den Regler auf Kochwäsche, so als ob man Ingas Depressionen zusammen mit den schlechten Gerüchen und dem Schmutz auskochen könnte. Er besah Ingas abgezogene Daunendecke, sie war total fleckig und stank. Die Decke konnte man den Symbolen nach nur Reinigen lassen und nicht selber waschen. Diese Decke in der Reinigung abzugeben, war Rainer viel zu peinlich. Er stopfte sie in einen großen Müllsack und beschloss, eine neue waschbare Decke für Inga zu kaufen.

Er war sich sicher, dass Inga irgendwann wieder zurückkehren würde, schließlich gehörten sie beide doch zusammen. Sie waren ein verschworenes Team, das durch solche Tiefphasen und Auszeiten nicht zerstört werden konnte. Mit zunehmendem Abstand zu Inga sah er die momentane Situation schon mit ganz anderen Augen. Rainer spürte, wie sein tiefes Vertrauen in ihre Beziehung langsam wieder erwachte.

Teufelsweg

Подняться наверх