Читать книгу Teufelsweg - Maren Nordberg - Страница 7
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ОглавлениеDer Alltag kehrte zurück, der durch die Routine vieles wieder ins Lot bringen sollte. Rainers Urlaub war vorbei und die Schule hatte wieder begonnen. Aber Inga fühlte sich weiterhin zerrissen und das Interview war die Hölle gewesen. Sie hätte niemals mitgehen dürfen, sie ärgerte sich über sich selbst. Es hatte alle Erinnerungen an den Unfall aufgefrischt und schien sie exakt für alle Ewigkeit zu konservieren. Sie hatte ständig Maries lachendes Gesicht vor Augen und litt weiter unter Schlaflosigkeit, weil sie alle paar Minuten von dem dumpfen Knall aufwachte. Sie wusste, dass sie ihr Training, an nichts zu denken, unbedingt intensivieren musste. Abschnittsweise gelang es ihr schon ganz gut, aber noch nicht gut genug.
Rainer ging anders mit dem Geschehenen um. Er redete sich die Last gerne von der Seele. Inga hätte über diese Rollenverteilung unter normalen Bedingungen geschmunzelt, eigentlich fraßen doch Männer die Probleme in sich hinein und Frauen redeten so lange darüber, bis sich die Schwierigkeiten aufgelöst hatten. Aber normale Bedingungen hatten sie beide nicht mehr.
Rainer entging Ingas Zustand nicht, er machte sich zunehmend Sorgen um seine Frau. Er musste unbedingt etwas unternehmen, das wurde ihm in den folgenden tristen Tagen klar. Sie musste dem Sog des Unfalls entrissen werden und ins Leben zurückkehren. Es reifte langsam aber sicher eine Idee in ihm.
Er arbeitete als kaufmännischer Angestellter bei einem großen Genussmittelhersteller in Bremen und fühlte sich schon lange nicht mehr von den stupiden Aufgaben am Computer ausgefüllt. So sah er eine Chance darin, seine durch den Unfall erlangte Bekanntheit zu nutzen und sich die Durchsetzung von Tempo 130 auf deutschen Autobahnen zur persönlichen Aufgabe zu machen. Dadurch könnte der noch vor ihm liegende Teil seines Lebens die gewisse Würze erhalten. Vielleicht wurde er ja noch mal ins Fernsehen eingeladen und konnte interessante Gespräche mit bekannten Persönlichkeiten führen. Wie viel Spaß ihm das machte, hatte er in der letzten Zeit erfahren, so traurig der Anlass für die Gespräche auch war. Hoffentlich half Inga tatkräftig mit. Das könnte die Lösung für alle Probleme sein. Er hatte bloß noch keine Ahnung, wie er Inga zur Mitarbeit bewegen konnte.
Am Montagmorgen schob Rainer die restlichen Sonntagsbrötchen in den Backofen und drehte den Startknopf der Kaffeemühle auf zehn Tassen. Er trank den Kaffee gerne stark, deshalb würde das Kaffeemehl genau für fünf kräftige Tassen Kaffee reichen. Marc ging seit dem Ende der Sommerferien vor drei Wochen regelmäßig um sieben Uhr ohne Frühstück aus dem Haus. Rainer öffnete die Tür zum Flur und horchte, ob Inga schon aufgestanden war. Er fürchtete den Tag, an dem sie morgens nicht mehr herunterkommen wollte. Besonders montags war es immer kritisch, denn jedes Wochenende bedeutete eine Pause und konnte den letzten Hauch Normalität, das gemeinsame Alltagsfrühstück, ersterben lassen. Er hörte das charakteristische Klack, mit dem die Schlafzimmertür ins Schloss gezogen wurde und atmete erleichtert auf. Inga war auf dem Weg zur Küche, vielleicht mit einem Umweg ins Bad.
Er nahm zwei Frühstücksteller aus der Spülmaschine und stellte sie auf den Tisch. Die Messer und die Löffel für die Marmelade legte er auch hin. Er dachte an die Reste der Buchweizen-Himbeertorte, die Inga gestern für ihn und Marc gebacken hatte, und legte auch noch Kuchengabeln dazu. Als Inga auftauchte, hatte er sein erstes Brötchen gegessen und überlegte, ob er schon zur Torte übergehen sollte, die er neben den Kühlschrank gestellt hatte.
Inga nahm einen Schluck Kaffee und brach sich ein Stück vom Brötchen ab. Während sie an dem trockenen Teil herumknabberte, unternahm Rainer einen Versuch: »Könntest du mir heute einen Gefallen tun?«
Inga hob misstrauisch die Augenbrauen: »Soll ich Peter heute vielleicht zufällig deinen guten Bohrhammer oder den elektrischen Fliesenschneider bringen? Ich warne dich, diese Mühe kannst du dir sparen, da falle ich nicht drauf rein!«
Rainer schüttelte entschieden den Kopf: »Nein, ich weiß, dass du keinen Kontakt mehr zu deiner besten Freundin Doris und ihrem Mann willst. Ich wollte dich lediglich bitten, im Internet Informationen zur Gründung eines Vereins zu suchen.«
»Aha, jetzt kommt er doch, dein Tempo 130 Verein, ich hätte es mir ja denken können, nein danke!« gab Inga patzig zurück.
Rainer versuchte, mit einer Erklärung wenigstens das Gespräch in Gang zu bringen. Damit Inga ihm auch zuhörte, spickte er sie mit unangenehmen Denkanstößen: »Dazu fühle ich mich geradezu verpflichtet, jetzt, wo ich es durch die Medien zu einem gewissen Bekanntheitsgrad gebracht habe. Außerdem kann man es schon als Wink des Schicksals deuten, denn überzeugt von einem Tempolimit war ich schon immer. Ich glaube auch, dass du hierbei eingeplant wurdest, sonst hättest du doch im entscheidenden Augenblick auf dem Beifahrersitz gesessen und würdest nicht mehr leben.«
Inga versetzte jede einzelne Äußerung einen Stich. Sie zitterte und wischte sich die aufsteigenden Tränen mit dem Handrücken ab. Ihr Leben, so wie es jetzt war, konnte sie vergessen.
Nach Marcs Geburt hatte sie nie wieder angefangen zu arbeiten. Jetzt, genauer seit dem Unfall, fehlte ihrem Leben urplötzlich jeglicher Sinn. Vor dem Unfall hatte sie immer gesagt, zu Hause fühle sie sich am wohlsten und eine Frau, die das Haus in Ordnung halte und den Garten pflege, könne ja nicht schaden. Das war auch in Ordnung gewesen, aber seit dem Unfall hatte sie jeglichen Kontakt zu Nachbarn und Freundinnen abgebrochen, mit denen sie sich bisher regelmäßig zum Walking oder Klönen getroffen hatte. Entweder putzte sie nun ununterbrochen, kochte so komplizierte Gerichte, dass sie den ganzen Tag in der Küche verbrachte oder sie legte sich gleich nach dem gemeinsamen Frühstück auf die große Couch im Wohnzimmer und schluckte Beruhigungs- oder Schlafmittel, die sie noch in großen Mengen von ihrer Mutter im Haus hatten. Dort lag sie dann abends immer noch, müde und mit fettigen Haaren, wenn Rainer heimkam. Sie wurde immer dünner, weil sie nur noch in homöopathischen Dosen Nahrung zu sich nahm. Den Garten hielt Rainer gerade noch notdürftig in Ordnung, Inga selbst ging nicht mehr raus zum Arbeiten, denn es könnte ja ein Nachbar etwas zum Unfall fragen. Telefon- und Haustürglocke stellte sie tagsüber ab, da sie keinen Bedarf an Gesprächen oder Einladungen hatte. Zum Einkaufen war sie noch nie mit ihrem neuen, von der Versicherung bezahlten dunkelblauen Kombi mit Perleffekt-Lackierung gefahren. Sie kaufte zu Fuß ein, am liebsten ließ sie aber Rainer oder Marc die Einkäufe erledigen.
Genauso verbissen, wie sie sich neuerdings einigelte, weigerte sie sich, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Rainer wollte eigentlich wenigstens die Medikamente zu vernichten, hatte es bisher allerdings noch nicht gewagt. Er wartete sehnlichst darauf, dass sie wieder Lebensmut fand. Der Verein konnte wirklich eine Lösung für ihre Probleme sein. Er konnte Ingas Hilfe gut gebrauchen und ihrem Leben gleichzeitig einen neuen Sinn geben. Im Bekanntenkreis könnten sich viele zukünftige Mitglieder finden, und als ehemalige Assistentin der Geschäftsführung eines kleinen, aber feinen Yachtherstellers im Hemelinger Hafen in Bremen hatte sie immer gutes Organisationstalent bewiesen, was sie zu einer wertvollen Mitstreiterin in dem Verein machen würde.
»Du könntest mir so viel helfen, ich habe keine Ahnung, wie man einen Verein gründet und der Bürokram liegt mir auch nicht«, versuchte er sie jetzt beim traurigen Montag-Morgen-Frühstück zu locken.
Inga blieb abweisend: »Ich werde keinen Finger für so einen Verein rühren. Der bringt nämlich gar nichts.«
»Wenn man nichts versucht, ändert sich auch nichts. In der DDR konnte doch auch niemand ernsthaft an den Fall der Mauer glauben, als sie mit den Montagsdemos begannen. Auch das Rauchverbot ist so ein Beispiel. Oder was hättest du vor zehn Jahren gesagt, wenn jemand für ein generelles Rauchverbot in allen Gaststätten und Restaurants eingetreten wäre?«
Inga spürte, wie Rainer sich mit seiner Ruhe und seinem Spaß an Argumentation und Rede warmlief. Sie wollte aber keine Diskussionen führen. Eigentlich wollte sie nur ihre Ruhe. »Rainer, du wirst mich nicht überzeugen, außerdem war das mit dem Rauchverbot eine ganz andere Sache. Der Nichtraucherschutz begann in Spanien oder so. Da ging es auch um die Beschäftigten im Gaststättengewerbe, die geschützt werden sollten. Hätte Deutschland nicht gleich mitgezogen, hätte bestimmt ein Kellner vor dem Europäischen Gerichtshof sein Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz eingeklagt und Deutschland so hinten herum zu einem Rauchverbot gezwungen. Die Schmach wollten sich Merkel und die anderen Politiker sicher sparen. Beim Tempolimit steht so was nicht zu befürchten und die Lobby der Automobilindustrie gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist stark. Die haben garantiert überall ihre Informanten sitzen, und sobald sich eine Pro-Tempolimit-Bewegung formiert, arbeiten sie subtil und geschickt dagegen, denke doch nur an diesen populären Automobilclub.«
Rainer freute sich insgeheim, dass er Inga so weit aus der Reserve gelockt hatte, dass sie auf seine Argumente reagierte und ihm kontra bot. Vielleicht war das ein erster Schritt zurück ins Leben. Er versteckte also seine Erleichterung und grollte: »Woher willst Du das denn so genau wissen?«
Sie antwortete nicht, sondern zerhackte die Brötchenkrümel auf ihrem Teller zu feinem Mehl.
Um das kostbare Gespräch nicht versiegen zu lassen, schob er hinterher: »Ich glaube eher, das Problem wird auf einer ganz anderen Seite liegen, nämlich bei vielen Autofahrern, die glauben, sie verlieren kostbare Zeit durch das Tempolimit. Da könnte man ansetzen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass durch ein Tempolimit auch viele Staus vermieden werden, die die eigentlichen Zeitkiller sind, ganz zu schweigen vom hohen Spritverbrauch beim Rasen. Der sorgt dann für zusätzliche Tankstopps, die die Zeitersparnis locker wieder wettmachen.«
Ingas Gesicht versteinerte plötzlich und sie würgte das Gespräch mit wenigen entschlossenen Sätzen ab: »Entweder du wirst Bundeskanzler oder du kaufst die Medien à la Berlusconi und verdonnerst sie dann zu einer Kampagne für Tempo 130. Ansonsten kannst du einpacken. Außerdem wirst du keine gute Unterstützung finden, weil die meisten, die gut reden können und in einflussreichen Positionen sind, doch selber gerne von Termin zu Termin rasen. Wenn auch nur irgendeine Partei ernsthaftes Interesse an einem Tempolimit hätte, wären sie schon längst auf dich zugekommen und hätten dir eine Mitgliedschaft angetragen, denn einen besseren Werbe- und Sympathieträger als dich gibt es für dieses Thema derzeit nicht. Und deine Medientauglichkeit hast du ja auch schon ausreichend unter Beweis gestellt. Keiner will sich mit der Automobilindustrie oder mit diesem Automobilclub anlegen. Du hast keine Chance und ich mache keinen Finger dafür krumm!« Damit verließ sie den Frühstückstisch, verschwand mit einer Flasche Wasser und ihren Tabletten im Wohnzimmer und Rainer hörte, wie sie die Couchkissen auf den Sessel warf und sich auf das Sofa fallen ließ.
Rainer war der Appetit vergangen. Er wollte nur noch raus hier. Nachdem er die Kaffeemaschine abgestellt hatte, verließ er fluchtartig die Küche. Sollte die Torte doch neben dem Kühlschrank vergammeln. Er putzte sich noch schnell die Zähne, band seine Krawatte um und verließ mit der Arbeitstasche das Haus, um mit dem Fahrrad den kurzen Weg zur Arbeit zu fahren.
*
Rainer trat kräftig in die Pedalen und knirschte mit den Zähnen. Verwundert stellte er fest, dass sein Mitleid in Ärger umgeschlagen war. Es war ein so herrlicher milder Septembermorgen, die Sonne schien und er war so voller Tatendrang. Aber er musste sich gleich für acht Stunden ins klimatisierte Büro setzen. Verdammt zum Sitzen ohne Ende. Und Inga hatte den ganzen Tag Zeit und die volle Freiheit zu Fahrradtouren, zum Schwimmen oder um für ihre Überzeugungen einzutreten. Was tat sie: nichts! Sie bemitleidete sich selber und machte auch ihm das Leben zur Hölle. Marc kam deshalb nur noch zum Schlafen nach Hause. Sie war dabei, ihre Familie zu zerstören. Genau das wollte er ihr heute Abend an den Kopf werfen. Vielleicht half das eher als alle vorsichtigen Gespräche.
Er war so aufgewühlt, dass er beschloss, vor der Arbeit noch ein Stück an der Weser entlang zu fahren. Er kam am Café Sand vorbei, einem großen Ausflugslokal direkt an der Weser, mit kleinem Badestrand. Am Wochenende war hier immer viel los. Jetzt war es noch geschlossen, sonst hätte er sein Frühstück gerne hier fortgesetzt.
Langsam fuhr er zurück in Richtung Kleine Weser und schloss sein Rad in der Neustadt vor der Unternehmenszentrale an. Die Sonne war inzwischen von Wolken verdeckt, da fiel ihm der Gang ins Büro wenigstens etwas leichter. Im Bremer Weser-Kurier lautete der Wetterbericht für heute sehr differenziert: Sonne, Wolken und auch mal etwas Regen. Wer für diese Berichte wohl verantwortlich war? Sie waren zwar schön bunt, aber völlig unpräzise und stimmten meistens trotzdem nicht annähernd. Tja, es gäbe noch so viel zu verbessern in der Welt und Inga lag auf dem Sofa herum. Rainers Wut war schon wieder verraucht und sein Humor brach sich den Weg. Bei so vielen Verbesserungsideen musste er schon fast wieder grinsen. Vielleicht lag das auch daran, dass er sich entschlossen hatte, genau heute mit der Gründung des Vereins PRO 130 zu beginnen. Er fühlte sich zwar etwas hilflos und von Inga im Stich gelassen, aber er könnte sich auch andere Unterstützung suchen. Vielleicht erwachten Ingas Lebensgeister wieder, wenn der Verein in Schwung kam und sie vor ganz konkrete Aufgaben stellte.
Von Marc konnte er keine Unterstützung erwarten. Neben der Schule hatte er sich wieder voll in sein Leichtathletiktraining gestürzt. Im Hochsprung schaffte er schon wettkampfreife Höhen und auch die Kurzstrecken lief er immer schneller. Ihn konnte man jetzt nicht mit einem PRO 130–Verein ablenken.
Aber es gab ja noch seine Arbeitskollegen, bei diesen wollte er gleich heute um Unterstützung werben. So eine gemeinsame Vereinsgründung könnte für ihn persönlich auch einen zusätzlichen Vorteil haben, er würde wieder mit Energie zu Arbeit gehen, weil man dort in Pausengesprächen die Vereinsarbeit vorantreiben konnte. Und vielleicht, in einigen Jahren, könnte der Verein so groß werden, dass er sich hauptberuflich um den Schriftverkehr kümmern müsste. Oder wir sind so erfolgreich, dass der Verein dann überflüssig ist, grübelte er.
Rainer hatte seinen Arbeitskollegen in den Wochen nach dem Urlaub viele Fragen zum Unfall und zu den ganzen Interviews geduldig beantwortet. Häufig kam dann auch eine Diskussion über die Raserei auf den Autobahnen in Gang, wobei Irene Wolfgang und Jana Meyerdierks aus der Personalabteilung oft erregt und in aller Ausführlichkeit über eigene Beinahe-Unfälle berichteten. Rainer war allerdings nicht entgangen, dass es Kollegen gab, besonders im Vertrieb, die sich bei solchen Gesprächen lieber zurückzogen, wahrscheinlich, weil sie ihre Meinung freie Fahrt für freie Bürger gerade nicht für angebracht hielten.
Seufzend nahm er seine Arbeitstasche vom Gepäckträger, zog das Klettband vom Hosenbein und ging mit gemischten Gefühlen in Richtung Eingang. Wenn der Verein tatsächlich in Fahrt kam, bedeutete das sicher auch einen ordentlichen Berg Arbeit.
Als er die schwere Glastür öffnete, wusste er bereits, wie er die Sache anpacken konnte. Er würde nacheinander unauffällig in einzelnen Gesprächen ausgewählte Arbeitskollegen um Mithilfe bitten. Wenn der Verein dann ins Leben gerufen war, konnte man auch über Emails um weitere Mitglieder werben. Sonst würde sich noch sein Abteilungsleiter Herr Schwarz beschweren, weil Rainer die Kollegen von der Arbeit abhielt. Der grollte schon manchmal, wenn Geburtstagskuchen während der Arbeitszeit verteilt wurde.
Rainer saß mit acht Kollegen in einem Großraumbüro, mit seinem fünfzigjährigen Kollegen Heiner Meier war er schon seit zehn Jahren in der gleichen Abteilung. Sie gingen mittags oft gemeinsam einmal um den Pudding, wie man in Bremen zu einem kleinen Rundgang sagt, und holten sich eine Bratwurst von Martin Kiefert am Domshof.
»Moin Heiner,« grüßte er, als er das Büro betrat und kam gleich zur Sache, »ich habe am Wochenende über eine Vereinsgründung nachgedacht, nachher beim Mittagessen werde ich es dir genauer erzählen, du hast doch heute Mittag Zeit für unsere Runde?«
Heiner nickte: »Klar, wenn es nicht regnet, bin ich bereit.«
Rainer konnte die Zeit kaum abwarten. Obwohl er am Montag immer genug zu tun hatte, klickte er im Laufe des Vormittags mehrfach den Internetbrowser an, um sich über die Voraussetzungen für eine Vereinsgründung zu informieren. Er überprüfte auch bei wetter.com die Vorhersage für heute und sah mit gemischten Gefühlen, dass dort am Nachmittag einige Schauer erwartet wurden. Pünktlich um zwölf Uhr dreißig nahm er seine dünne Strickjacke vom Haken und registrierte erleichtert, dass gerade die Sonne schien und Heiner auch schon sein Portemonnaie aus der Schublade holte.
Sie schlenderten Richtung Wilhelm-Kaisen-Brücke, um die Weser zu überqueren. Kurz vor der Domsheide, wo sich viele Bus- und Bahnlinien trafen, wandten sie sich nach links, überquerten die Bahngleise und die Straße. Nun brauchten sie nur noch wenige Hundert Meter geradeaus zu gehen, bis sie den Marktplatz erreichten.
»Lass uns heute mal ins Berts am Marktplatz gehen, ich lade dich auch ein«, sagte Rainer großzügig, »ich möchte dir dort in Ruhe etwas über den geplanten Verein erzählen.« Es war zwar noch etwas wärmer geworden, aber hinter dem Bremer Dom türmten sich schon dunkle Wolken auf. Also steuerten sie auf den Eingang zu und suchten sich drinnen einen Zweiertisch in einer Ecke. Als sie aus der Mittagskarte einmal den Seelachs und einmal die Spaghetti Carbonara gewählt hatten, kam Rainer zur Sache. Heiner Meier hörte sich Rainers Überlegungen zum PRO 130–Verein interessiert an. Seine erste Anmerkung bezog sich dann auch schon gleich auf die Umsetzung des Plans.
»Nun sag´ schon, wie gründet man denn nun einen Verein, das hat mich schon immer mal interessiert.«
»Wir brauchen zunächst sieben Mitglieder. Ich habe gerade noch schnell eine Anleitung aus dem Internet ausgedruckt und mitgebracht. Rainer zog die zusammengefalteten Seiten aus der Hosentasche. »Wir sollten auch auf alle Fälle die Rechtsform eingetragener Verein anstreben, dann haftet nämlich niemand persönlich, falls etwas schiefgeht. Der Verein ist aber eine juristische Person, er kann klagen und natürlich auch selbst verklagt werden. Hoffen wir, dass wir mit ganz viel Rückenwind starten, bevor uns jemand Knüppel zwischen die Beine wirft. Meine Frau hat heute Morgen nämlich geunkt, dass die Autolobby überall ihre Finger drin hat und solche Aktivitäten, wie wir sie planen, im Keim erstickt.«
»Wie viel müssen wir denn zum Start investieren?«
»Die Gründung an sich ist mit etwa hundertzwanzig Euro beziffert. Wir müssen sieben Gründungsmitglieder zusammenbekommen, eine Gründungsversammlung einberufen und die Satzung erstellen. Dabei sollten wir aber vielleicht doch die Hilfe eines Rechtsanwalts in Anspruch nehmen. Nicht, dass das Finanzamt später daran herummäkelt. Die Kosten übernehme ich gerne, für unseren zerstörten Wohnwagen haben wir gerade die Summe von der Versicherung überwiesen bekommen. So wie es jetzt aussieht, werden wir uns in den nächsten Jahren bestimmt keinen neuen mehr zulegen.«
»Wo bleibt eigentlich unser Essen?« Heiner Meier gab der Serviererin ein Zeichen. Sie kam und versprach, dass das Essen in wenigen Minuten auf dem Tisch stehen würde. Zunächst kehrte sie mit den Getränken zurück. Kurz darauf standen die Mittagsgerichte vor ihnen. »Mein Fisch ist gerade noch lauwarm, die haben den bestimmt in der Küche vergessen. Aber egal, so kann ich wenigstens schnell essen und noch bei Rechtsanwalt Bodenbrinck in der Langenstraße vorbeigehen und einen Termin vereinbaren. Kommst Du mit?«
»Klar, das ziehen wir jetzt gemeinsam durch, außerdem ist mein Essen auch schon kalt.« Sie aßen zügig, Rainer zahlte für beide ohne Trinkgeld, danach vereinbarten sie beim Anwalt den Termin für kommenden Montag.
»Mal schauen, wen wir noch als Gründungsmitglieder gewinnen, es können auch ruhig mehr als sieben sein.«
Zurück im Büro sprach Rainer mehrere Kollegen aus seiner Abteilung an, keiner hatte Interesse. Da noch einige Terminarbeiten auf dem Schreibtisch lagen, musste er sich zunächst mit Heiners Mitarbeit begnügen und sich wieder seiner Arbeit widmen. Herr Schwarz schien schon auf die Ergebnisse zu warten, denn er lief wie ein Tiger in seinem durch eine Glasscheibe abgetrennten Büro herum. Als Rainer sich im Flur kurz die Beine vertrat, stürmte Jana Meyerdierks in ihrer offenen und unbekümmerten Art auf ihn zu. »Auch wenn die würdigen Herren über euch lästern, ich finde die Idee toll und trete sofort in euren Verein ein! Du glaubst nicht, was für Wildwest-Szenen ich gerade am Wochenende wieder auf der A7 kurz vor Hannover erlebt habe.«
Rainer war perplex: »Wer hat dir von der Vereinsgründung erzählt, und wer lästert?«
»Ich habe gerade eine Mail von Alexa in der Disposition bekommen. Die hat zufällig mitbekommen, wie Herr Rudolf aus deiner Abteilung mit einem Kollegen unten in der Werkshalle über euer Vorhaben gelacht hat.«
»Das hat sich ja verbreitet wie ein Lauffeuer, das erste Gründungsgespräch habe ich gerade in der Mittagspause mit Heiner Meier geführt. Jetzt suchen wir noch mindestens fünf weitere Gründungsmitglieder.«
»Da kannst du ganz beruhigt sein, die bekomme ich ganz bestimmt schon bis heute Abend zusammen, unter einer Voraussetzung«, sie lächelte spitzbübisch und zupfte einen modischen dünnen Schal zurecht, wie ihn einige Frauen in Italien sogar bei fünfunddreißig Grad im Schatten getragen hatten, »ich bin auch Gründungsmitglied und darf tatkräftig mitarbeiten.«
Rainer grinste väterlich: »Das lässt sich wohl machen, Arbeit wird es genug geben, wenn wir viele Mitglieder haben und Aktionen auf die Beine stellen.«
Er kehrte gut gelaunt an den Computer zurück, kämpfte mit den betriebswirtschaftlichen Zahlen und hatte sie schließlich um siebzehn Uhr in einer gut lesbaren Tabelle zusammengeführt. Er mailte sie sofort an Herrn Schwarz und beobachtete ihn durch die Scheibe. Man konnte an seiner Reaktion meistens erkennen, wann er solch eine Datei öffnete und ob er zufrieden war. Diesmal dauerte es nur fünf Minuten, bis er sich über die Mail hermachte und sich schließlich zufrieden im Bürostuhl zurücklehnte. Das war für Rainer das Signal, dass er jetzt Feierabend machen konnte. Viele andere waren schon gegangen. »So, ich mach für heute Schluss, kommst du auch?«, meinte Rainer in Richtung Heiner gewandt.
»Geht noch nicht, ich muss das hier zu Ende bringen, egal wie lange es dauert. Dafür kann ich mir aber dann auch in den nächsten Tagen mal einen frühen Feierabend gönnen und unsere Gründung bearbeiten.«
Rainer ging heute ungewöhnlicherweise die Treppe hinunter. Er spürte so viel Energie, dass er keine Lust auf den Fahrstuhl hatte. Er stieß mit Elan die Außentür auf und hielt sie gerade noch rechtzeitig fest, bevor sie einem dunkel uniformierten Mann an den Kopf prallte.
»Immer langsam«, rief dieser, Rainer erkannte jetzt Heinrich Altmann vom Werkschutz, »ich denke, Sie wollen einen Schneckenverein gründen.« Rainer stutzte kurz, so schnell funktionierten also die Buschtrommeln.
»Schönen guten Abend«, entgegnete er leicht irritiert und ging weiter.
Der Wind hatte deutlich zugenommen und ein kräftiger Regenschauer peitschte Rainer Wasser ins Gesicht, als er zum überdachten Fahrradständer ging. Er zog sich, leise Flüche ausstoßend, das Regencape über und versuchte dann den Schlüssel richtig herum ins Schloss zu stecken. Da hätte ich gleich noch eine Verbesserungsmöglichkeit, wo wir gerade beim Weltverbessern sind, dachte Rainer grimmig. Warum konnte man den Schlüssel nicht einfach von zwei Seiten ins Schloss stecken? Auf seinem kurzen Weg in die Havelstraße musste er dreimal die Badewanne leeren, die sich immer wieder zwischen seinen Armen auf dem Regenumhang bildete.