Читать книгу Teufelsweg - Maren Nordberg - Страница 8
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ОглавлениеIrgendetwas stimmte nicht, als er zu Hause die Gartenpforte öffnete. Es war aber nicht offensichtlich. Er brauchte die Zeit, bis er sein Fahrrad im Schuppen abgestellt hatte, um sich klar darüber zu werden, was es war.
Die Dunkelheit hatte ihn alarmiert, es war schon so duster durch den Regen, aber Inga hat noch keine Lampe angeschaltet. Auch das bläulich flackernde Licht, das einen laufenden Fernseher im Wohnzimmer verraten hätte, fehlte. In Marcs Zimmer war ebenfalls alles dunkel. Er öffnete die Tür und zwang sich, sein übliches tiefes melodisches »Hallooo!« zur Begrüßung zu rufen, obwohl es ihm fast in der Kehle steckenblieb. Er hörte keinerlei Reaktion und stellte die Tasche im Flur ab, sein triefendes Cape ließ er einfach draußen über dem Treppengeländer hängen. Langsam schnürte sich seine Kehle immer weiter zu. War etwas passiert? Inga war doch um diese Zeit seit dem Urlaub immer zu Hause gewesen. Hätte er doch bloß die Tabletten rechtzeitig entsorgt! Er rief noch mehrmals, erhielt aber keine Antwort. Richtig laut durchs Haus zu brüllen traute er sich allerdings nicht. Er fühlte eine unendliche Trägheit und mochte nicht in den Zimmern nach Inga suchen. Falls etwas passiert war, wollte er es eigentlich noch nicht wissen, so lange konnte er noch hoffen, dass sein altes gutes Leben irgendwann zurückehrte.
Ihm kamen die Sekunden wie Jahre vor und er hatte jetzt glasklar vor Augen, dass er es schon seit mindestens zwei Wochen ahnte. Inga war depressiv und mit Sicherheit auch suizidgefährdet. Er hätte sie zwingen müssen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber er war so mit sich und seinem Medienruhm beschäftigt, dass er Ingas Probleme geflissentlich übersehen hatte. Es war eben sehr angenehm gewesen, mit Mitte fünfzig noch einmal jugendliches Feuer zu spüren und sich neben dem Büroalltag einer neuen Herausforderung zu stellen.
Er öffnete langsam die Wohnzimmertür und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Nichts. Er wandte sich Richtung Küche, das Frühstück stand noch auf dem Tisch, es hatte niemand aufgeräumt oder das Abendessen zubereitet. Also erklomm er mit weichen Beinen die Treppenstufen zum ersten Obergeschoss. Zögernd drückte er die Klinke der Schlafzimmertür und trat ein.
Da klingelte das Telefon. Im Bett zuckte Inga erschrocken zusammen.
Rainer fiel die Last von den Schultern und er sackte kraftlos auf die Bettkante: »Mensch Inga, du hast mir aber einen Schrecken eingejagt.« Er dachte nicht mehr an seinen Vorsatz vom Vormittag, Inga ihr Selbstmitleid an den Kopf zu werfen. Er sah seine völlig apathische Frau bleich in den Kissen liegen und brachte nichts anderes zustande als: »Inga, ich liebe dich doch so, ich will, dass es dir endlich wieder besser geht.«
»Oh ja, dafür kannst du sorgen, knall die Raser ab, dann wird alles besser.«
Rainer war völlig perplex: »So was habe ich ja noch nie von dir gehört, ich denke, du bist Pazifistin und außerdem noch mit einer christlichen Erziehung aufgewachsen.«
»Manchen Ballast wirft man halt nach neueren Erkenntnissen über Bord«, entgegnete Inga zynisch. Rainer versuchte, einen Funken Ironie aus ihren Worten herauszuhören, da war aber nichts zu entdecken. Er wusste nicht, ob er diese Reaktion schon als Zeichen der Genesung verstehen sollte oder ob seine Sorgen nur noch größer wurden. Das Telefon klingelte nun mindestens schon zum zehnten Mal, Rainer interessierte es gerade überhaupt nicht. Sollte der Verein doch warten, das war bestimmt Jana am Telefon mit ihren Gründungsmitgliedern. Das konnte man auch noch morgen erledigen. Jetzt war es Zeit, sich wieder besonders um Inga zu kümmern.
Er musste jetzt schnell eine leichte Suppe zubereiten und sie ihr schmackhaft machen. Gemüsesuppen hatte sie schließlich immer gemocht. Anschließend könnte man vielleicht gemeinsam duschen, danach würde er ihr das riesige weiße Frottierhandtuch umlegen und mit ihr im Bett kuscheln. Er grübelte, zärtlich miteinander waren sie seit jenem Tag im Juli wirklich nicht mehr gewesen. Vielleicht half das ja.
Inga durchkreuzte seine fast romantischen Gedanken, indem sie mit spitzen Fingern einen Brief vom Nachtisch nahm und ihm vor die Füße warf. Er bückte sich und verstand den Zusammenhang nicht. Im Briefkopf stand die Anschrift des Sportinternats Spüngler am Bodensee.
»Was ist denn an diesem Brief so schlimm?«, fragte er ratlos.
»Na, dann lies mal zu Ende«, trieb Inga ihn an.
Rainer überflog nun das Schreiben. Beim letzten Absatz stutzte er: Wir freuen uns, dass Sie sich entschieden haben, Ihren Sohn Marc Gartelmann ab September 2010 in unserem Hause unterrichten und fördern zu lassen. Da er sich durch seine exzellenten sportlichen Leistungen und seine guten Schulzeugnisse sowie mit Hilfe des Schulgutachtens erfolgreich für ein Stipendium qualifiziert hat, ist sein Aufenthalt bei uns bis zum Abitur für Sie kostenfrei, sofern sich seine Leistungen erwartungsgemäß entwickeln. Wir haben das von beiden Erziehungsberechtigten unterschriebene Anmeldeformular dankend erhalten. Bitte stimmen Sie den Anreisezeitpunkt vorab mit uns ab…..
Rainer blickte Inga irritiert an: »Hast du das gewusst?«
»Nein, aber Marc hat vorhin angerufen und nach genau diesem Brief gefragt, er hatte ihn wohl schon sehnlichst erwartet. Als ich ihm nicht erlauben wollte, in das Internat zu gehen, hat er nur gesagt, dass wir bald sehen werden, wie er abreist. Und für heute Nacht hat er sich gleich bei seinem Freund Martin einquartiert.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Hast du auch nichts davon gewusst? Ich dachte, ihr Männer hättet gemeinsame Sache gemacht und die labile Mutter nicht damit behelligt.«
»Und ich dachte gerade, du hättest unter Tabletteneinfluss deine Unterschrift gegeben«, gab Rainer leicht gereizt zurück. Er ärgerte sich, jetzt half ein Streit auch nicht mehr. Er überlegte laut. »Wenn wir beide nichts unterschrieben haben, ist doch alles hinfällig, dann gelten die Verträge nicht, und mit solchen gefälschten Unterschriften kann er sich das Stipendium auch von der Backe schminken.«
»Meinst du?«
»Klar, wer schon Urkundenfälschung begeht, bevor er nur einen Fuß ins Internat gesetzt hat, wird bestimmt nicht mehr aufgenommen. Wo ist das Telefon?«
»Willst du beim Sportinternat anrufen und denen absagen?«
»Nein, natürlich nicht. Das kann Marc schön selber erledigen, wie ist noch mal seine Handynummer?«
»Die steht im schwarzen Adressbuch im Flur.«
Rainer kehrte mit dem Büchlein und dem Mobilteil des Telefons ins Schlafzimmer zurück. Inga seufzte: »Ich habe keine Lust mehr. Alles hat dieser blöde Unfall zerstört. Eigentlich bin ich tot und unsere Familie auch. Jetzt hält es nicht mal mehr unser Sohn zu Hause aus.« Sie war ganz in sich versunken und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. Rainer merkte, wie seine besorgte Stimmung langsam Risse bekam und er musste sich anstrengen, Inga nicht die Wahrheit an den Kopf zu werfen. Sie selber war schuld daran, nur weil sie mit dem Unfall nicht klarkam, machte sie allen das Leben zur Hölle. Vielleicht war der Unfall ja auch nur der Anlass, das Leben wegzuwerfen und nicht die Ursache. Rainer stockte kurz in seinen Überlegungen. So hatte er die Lage bisher noch nicht betrachtet. Eins nach dem anderen dachte er, jetzt musste er unbedingt Marc anrufen und sofort nach Hause bestellen, um mit ihm Tacheles zu reden. Die Mailbox meldete sich, Rainer forderte Marc zum Rückruf auf.
Nachdenklich ließ er sich auf sein Bett sinken, Zeit für ein ernstes Gespräch mit Inga hätte er jetzt gehabt, aber brachte das jetzt was? Nein, er wollte lieber dafür sorgen, dass sie sich wieder besser fühlte, dann konnten sie sich über ihre Probleme unterhalten. »Inga, Liebling, ich koche uns jetzt eine schöne Gemüsesuppe, dann stellen wir uns den Fernseher hier im Schlafzimmer an und essen gemütlich im Bett.«
»Wie früher!«, durchschaute Inga seinen Plan, an schöne Dinge aus der Vergangenheit anzuknüpfen.
»Weißt du noch, wie wir manchmal komplette Regentage im Bett verbracht haben?«, fügte Rainer fast flehend hinzu.
»Gute Nacht!«, konterte Inga, »ich habe heute keinen Appetit.« Sie wandte sich von ihm ab und nahm die Embryostellung ein. Ein sicheres Zeichen, dass sie jetzt schlafen würde, vielleicht hatte sie sich schon wieder mit ihren Mitteln einen sicheren Start ins Reich der Träume verschafft.
»Das ist aber unfair! Du musst was essen, sonst bist du ja bald zu schlapp zum Aufstehen.« Rainer fühlte sich in diesem Moment nur noch von Inga im Stich gelassen. »Wir müssen doch gemeinsam überlegen, wie wir die Sache mit Marcs Internat aus der Welt schaffen. Er ist ja schließlich auch dein Sohn!«
»Ist doch klar, was am Ende dabei herauskommt: Wir mögen ihn nicht im Internat und in seiner jetzigen Schule bloßstellen, deshalb werden wir die Geschichte mit den gefälschten Unterschriften schön für uns behalten. Das wäre dir doch viel zu peinlich, zuzugeben, dass mit deinem Sohn nicht alles glattläuft.«
Rainer stutzte: »Wie, du meinst, wir sollen ihn einfach ziehen lassen?«
»Klar, du hast doch sowieso nicht den Mumm, ihm das endgültig zu untersagen. Außerdem, wenn er sich dort wohler fühlt als hier, warum sollten wir ihm das verbieten? Der Unfallverursacher hat ganze Arbeit geleistet!«
Rainer fühlte sich ertappt. Das war wirklich eine seiner großen Schwächen, dass er niemandem wehtun mochte und letztendlich Marcs Pläne auch nicht durchkreuzen würde. Vielleicht hatte Marc das Zeug zu einem Profisportler und er konnte ihm doch nicht die Karriere zerstören.
»Daran ist nicht der Unfall schuld, sondern du ganz persönlich«, hackte Rainer zurück, weil er sich immer mehr ärgerte. Nicht er hatte ein Problem, sondern Inga! Sie hatte jetzt kein Recht, ihn anzugreifen. »Morgen gehe ich mit dir zum Arzt. Das ist ja mit dir nicht mehr auszuhalten!«
Inga grinste überlegen und schloss die Augen.
»Ich hole jetzt was zu Essen für uns beide, danach kannst du schlafen so viel du willst,« zischte er. Und diesmal würde er nicht lockerlassen, weder beim Essen noch beim Arztbesuch, schwor er sich.
*
Er stampfte wütend nach unten in die Küche. Das war aber auch ein Wechselbad der Gefühle. Eigentlich hätte er überglücklich sein müssen, dass Inga sich nichts angetan hatte. Und jetzt ärgerte er sich noch zusätzlich über die unaufgeräumte Küche, in der die Reste vom Frühstück, besonders die Torte, schon etwas rochen. Doch aufräumen konnte er morgen, jetzt musste die Gemüsesuppe schnell fertig werden. Er brachte Wasser zum Kochen, gab Instant–Biogemüsebrühe hinzu und suchte aus dem Gefrierfach eine Gemüsemischung heraus, die er in den Topf schüttete. Zum Schluss öffnete er die Dose Eierstich, schnitt ihn in kleine Quader und ließ ihn in der Suppe durchwärmen. Währenddessen stellte er ein Tablett mit zwei Gläsern, Löffeln und einer Wasserflasche bereit. Ihm fiel ein, dass er im Wohnzimmer die große Beleuchtung noch nicht wieder ausgeschaltet hatte. Er ging hinüber und machte die gemütliche Leselampe neben dem Sofa an, obwohl weder er noch Inga sich heute Abend mit einem Buch ins Wohnzimmer setzen würden. Diese Beleuchtung gab dem deprimierenden Montagabend aber einen Anschein von Normalität zurück. Er überlegte, was für Leuchtmittel sie für gemütliches Licht nutzen könnten, wenn es aufgrund des sogenannten Umweltschutzes keine 40 Watt Glühlampen mehr zu kaufen gab. Die quecksilberhaltigen Energiesparlampen gaben ein so kaltes Licht, das würde ihn am Ende auch noch depressiv machen. Zur Lichterzeugung wurden gerade mal fünf Prozent der gesamten Energie benötigt, hatte er vor Kurzem gelesen. Privathaushalte verbrauchten davon wiederum nur einen Bruchteil. Er fragte sich, wie viel Energie sich sparen ließe, wenn die Supermärkte nicht mehr bis vierundzwanzig Uhr öffnen würden, um die paar späten Kunden noch zu bedienen. Er ärgerte sich über sich selber. Warum grollte er jetzt wegen Tatsachen, auf die er keinen Einfluss hatte. Er konnte ja schlecht gegen alles gleichzeitig kämpfen.
Seine Kräfte musste er ganz gezielt einsetzen, für Inga, für Marc und auch für seinen PRO-130-Verein. Er sah sich im Wohnzimmer um, es sah noch ganz passabel aus. Er schüttelte schnell die Sofakissen auf, rückte den Sessel zurecht, öffnete die Fenster und nahm die Tablettenpackungen sowie die leeren Wasserflaschen vom Tisch.
Hier konnte er mit Marc nachher das klärende Gespräch führen. Vielleicht hatte Inga aber recht und es war besser, ihn ins Internat gehen zu lassen. Er schien sich das Stipendium schließlich hart erarbeitet zu haben und Inga erholte sich sicherlich besser, wenn Marc außerhalb untergebracht war.
In der Küche füllte Rainer die Gemüsesuppe in zwei Schalen, legte die Backerbsen auf das Tablett und trug alles vorsichtig die Treppe hinauf. Inga schien zu schlafen. Er stellte auf jeden Nachtisch eine Suppenschale und ein Glas Wasser. Dann schaltete er den Fernseher in der Hoffnung an, Inga würde davon aufwachen. Er zappte durch die verschiedenen Programme und stieß auf einen Tatort aus Köln mit Ingas Lieblingskommissar Ballauf. Rainer streichelte zärtlich über Ingas Wange, dabei beugte er sich zu ihr hinüber und nahm nicht nur mit den Augen wahr, dass sie ihre Körperpflege vernachlässigt hatte. Das würde sich ändern, schwor sich Rainer. Inga erwachte langsam, während er weiter über ihre Wange strich.
Als sie wach genug war, um die Suppe wahrzunehmen, versteinerte ihr Gesicht und sie schloss demonstrativ die Augen. Rainer wollte gerade seine Überzeugungskünste aktivieren, als es an der Haustür klingelte. Es war mittlerweile halb zehn, das konnte nur Marc sein. »Wo hat er seinen Schlüssel?«, murmelte Rainer. »Will er jetzt demonstrieren, dass er nicht mehr zum Haushalt gehört?«
Inga schien wieder zu schlafen, zumindest tat sie so.
*
Rainer lief nach unten, bevor er öffnete, holte er tief Luft. Erstaunt blickte er auf Jana Meyerdierks und weitere vier weitere Arbeitskolleginnen. »Hallo Rainer, mit deinem Verein sprichst du uns aus dem Herzen.«
»Wie, um mir das mitzuteilen, kommt ihr jetzt noch vorbei?«
»Wir waren gerade gemeinsam beim Work-Out im Fit-Studio. Dort trainieren wir montags und donnerstags. Auf dem Rückweg haben wir hier Licht gesehen.«
»Fahrt ihr immer hier vorbei, ich habe euch noch nie gesehen«, wunderte sich Rainer.
»Nein, wir wollten dir eigentlich einen Brief in den Kasten werfen und mitteilen, dass wir auf alle Fälle beim Verein tatkräftig mitarbeiten wollen.«
»Wir würden auch gerne Gründungsmitglieder werden, deshalb haben wir jetzt noch geklingelt, als wir Licht gesehen haben, nicht dass der Verein heute Abend ohne uns gegründet wird.« ergänzte eine junge blonde Frau mit tiefbraunen Augen.
»Keine Sorge, heute Abend geschieht nichts mehr, morgen sehen wir dann weiter.« beruhigte Rainer.
»Dann sind wir also als Gründungsmitglieder willkommen?«
»Wenn ihr mir den Brief mit euren Namen gebt, ist das beschlossene Sache.«
»Den kannst du haben, das ist übrigens Anna«, stellte Jana die blonde Frau vor.
»Das sind Maya und Lena und ich bin Rieke«, übernahm eine etwas korpulentere mit dunkelblonden Haaren den Rest der Vorstellung. Rainer schätzte sie alle auf um die fünfundzwanzig bis dreißig Jahre.
»Dass ich Rainer bin, wisst ihr bestimmt sowieso«, ergänzte Rainer.
»Kommt Mädels, darauf stoßen wir noch bei Gargano an, der Italiener ist ja nicht weit von hier, Rainer, du musst natürlich mitkommen!«, rief Jana unternehmungslustig.
Rainer dachte kurz an Inga oben im Bett, er konnte jetzt nicht einfach das Haus verlassen. »Nein, das ist mir jetzt doch etwas zu spät, ich feier lieber nach der Gründungsversammlung mit euch.«
»Ach komm, es ist doch noch vor zehn und du brauchst auch nicht lange zu bleiben. Euer Sohn ist ja schließlich nicht mehr zu jung, um alleine zu Hause zu bleiben, hol doch deine Frau und dann kommt ihr beide mit«, ließ Jana nicht locker.
»Bei der Gelegenheit könnten wir auch schon so ganz ohne Stress über Aktionen nachdenken, mit denen wir dem Verein Leben einhauchen können«, unterstützte sie Maya, die eine knallenge weiße Jeans trug.
Rainer überlegte, der Regen hatte aufgehört, vielleicht täte ihm so ein kleiner Ausflug ganz gut. Aber Inga konnte nicht mitkommen, und alleine lassen mochte er sie in ihrem Zustand auch nicht. Außerdem wollte er zu Hause sein, falls Marc auftauchte. Ganz ausklinken war jetzt, wo der Verein Form annahm, auch nicht das Richtige. Ihm fiel nur eine Lösung ein: »Kommt doch einfach rein, dann stoßen wir an, wir haben Sekt im Kühlschrank.«
Zum Glück hatte er die Küchentür geschlossen, so würde keiner sein häusliches Chaos erahnen. Seine verwahrlosende Inga kam heute sowieso nicht mehr herunter und Marc musste notfalls eben in seinem Zimmer warten, bis der Besuch das Haus wieder verlassen hatte, überlegte er bitter. Ob Inga ihre Suppe heute noch isst, kann ich sowieso nicht wirklich beeinflussen, soll sie doch ihre schlechte Stimmung wegschlafen.
»Wir haben schon verstanden, der Herr fürchtet, dass es gleich wieder regnet und er nass wird, wenn er das Haus verlässt«, frotzelte Jana, aber sie traten alle in den kleinen Flur und hängten ihre Jacken an die Garderobe in der Wandnische. Rainer wies den Weg ins Wohnzimmer und holte den Sekt. Auch eine Packung mit Salzgebäck fand er noch in der Vorratsschublade. Im Wohnzimmer nahm er vorsichtig die schönen Sektkelche aus dem Schrank und öffnete die Sektflasche mit einem lauten Plopp.
Beim Eingießen schäumte Sekt über den Rand der Gläser, das störte aber keinen, er rief »Auf Tempo 130!«, alle stießen an.
»Ich bin Maya und du kannst du zu mir sagen«, ergänzte Maya die Vorstellungsrunde von der Haustür. Sie wirkte temperamentvoll und ließ keinen Zweifel daran, dass sie das komplette Ritual mit Bruderschaft Trinken und Küsschen vollziehen wollte. So trank Rainer nicht nur mit Maya Bruderschaft, sondern auch mit Petra, Rieke und Lena. Der Sekt stieg ihm schnell in den Kopf, da er seit dem Mittagessen nichts zu sich genommen hatte. So rief er am Ende der Runde übermütig: »Komm Jana, nun müssen wir uns auch noch offiziell duzen, sonst bringt das Unglück!«
Also tranken sie Bruderschaft und beim Kuss stellte er fest, dass Janas Haare sehr angenehm dufteten. Schade, er hatte Inga schon so lange nicht mehr unbeschwert geküsst.
»Hast Du Papier und Kugelschreiber, wir könnten eine Mindmap erstellen, mal sehen, was für gute Ideen wir heute Abend zu Papier bringen«, schlug Rieke vor. Rainer holte das Paket Druckerpapier, den Kugelschreiber fand er auf dem Beistelltischchen neben dem Sofa. Der kühle Wind, der manchmal durch das gekippte Wohnzimmerfenster strich, tat Rainer gut. Er fühlte sich lebendig und frisch. Sie konzentrierten sich auf Planungen und Aktionen, die dem Verein Mitglieder bringen könnten und Menschen über Bremens Grenzen hinaus von ihrer Vorstellung von sicheren Autobahnen überzeugen würden. Es kam einiges an Ideen zusammen, die über das normale Maß wie Flyer und Werbestände mit Buttons zum Anstecken in den Fußgängerzonen hinausgingen.
Rieke schlug vor: »Man könnte eine Seite ins Internet stellen, auf der spezielle Fotos oder Videosequenzen von Wildwestszenen auf Autobahnen gesammelt werden.«
»Du meinst, so eine Art Sammlung von Verkehrsgefährdungen?«, fragte sie Lena skeptisch, die sich bisher eher still im Hintergrund gehalten hatte.
»Ich würden das etwas anders formulieren, so eine Art Pranger für Verkehrssünder, möglichst mit Nummernschild und schönen Porträtaufnahmen«, konkretisierte Rieke ihren Vorschlag.
»Dabei können wir sicher nicht hoffen, dass Youtube oder eine der Internet-Communities uns eine Plattform dafür bieten, das ist denen sicher zu heiß«, ergänzte Maya, »aber Rieke, deine EDV-Kenntnisse müssten doch ausreichen, um uns eine schöne Homepage für die Veröffentlichungen zu basteln.«
»Das wird aber viel Arbeit, vielleicht können wir noch Tim und Georg aus der EDV-Abteilung animieren mitzuhelfen, wir können sie am besten gleich morgen fragen«, schlug Rieke vor. Rainer fügte hinzu: »Die Idee mit dem Verkehrs-Pranger ist genial, es wäre zu schön, wenn wir das auf die Beine stellen könnten.«
Jana stimmte ihm zu: »Das könnte wirklich das Herz unserer Bewegung werden, die Intenet-Präsenz können wir natürlich auch nutzen, um Verabredungen zu Flashmobs, zum Beispiel auf Autobahnbrücken oder bei Verkehrsclubs, zu treffen.«
»Das stimmt«, übernahm Rieke das Gespräch, »Flashmobs, also die Verabredung vieler einander unbekannter Menschen über das Internet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sind schon lange nicht mehr sinnfrei, wie in der Anfangszeit. Wir dürfen nur nicht übertreiben, falls zu viele Menschen kommen und Müll hinterlassen oder Schaden anrichten, kann das der Verein nachher zahlen.«
»Nicht, dass wir gleich in die Insolvenz stolpern«, meinte Maya. »Und mir ist eben klar geworden, dass wir natürlich einen Verein gründen müssen, das Ganze aber eher als Initiative oder als Bewegung aufziehen sollten, wie du gerade schon sagtest, Rainer. Das verleiht dem Ganzen noch viel mehr Kraft.«
Rainer blickte in die Runde und stellte fest: »Maya, das war ein gutes Schlusswort für heute, wie das mit der Vereinsgründung ablaufen muss, kann uns der Rechtsanwalt am kommenden Montag genau erklären. Der wird bestimmt auch wissen, wie wir eine Initiative oder Bewegung daraus machen können, das ist sicher sehr sinnvoll. Jetzt sollten wir aber für heute Schluss machen, drei Stunden für die erste Sitzung reichen vollkommen aus.«
Jana blickte erstaunt auf ihre Armbanduhr: »Ich hätte nie gedacht, dass es schon nach Mitternacht ist, jetzt muss ich aber schnell nach Hause, sonst denkt mein Freund noch, ich hätte einen netten Fitnesstrainer im Studio kennengelernt.«
Sie verabschiedeten sich nun sehr schnell und Rainer ging ins Wohnzimmer zurück. Dort blickte er eine Weile sinnierend auf die Reste des Abends. Die Gläser trug er in die Küche, die beschriebenen Blätter heftete er ordentlich in einen Schnellhefter, den er in Marcs Zimmer fand. Es war schon eigenartig, bei diesem spontanen Treffen hatten alle gemeinsam an einem Strang gezogen und sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Es hatte keine Sticheleien und Grüppchenbildungen gegeben. Er wusste aber, dass dies das einzige spannungsfreie Treffen bleiben würde. Schon bei der nächsten Zusammenkunft waren die ersten Probleme zu erwarten: Ein Streit um die erste Aktion, ein Versuch, Macht zu erobern oder auch nur Unstimmigkeiten über den Zeitpunkt des folgenden Treffens könnten die Stimmung ganz langsam kippen lassen. Mit weiteren Treffen oder zusätzlichen Mitgliedern würden zwangsläufig Situationen entstehen, die zu Unstimmigkeiten führen mussten. Die menschliche Eigenschaft, Unfrieden zu stiften, drang eben in jede Gesellschaft ein, überlegte Rainer. Vielleicht war das der Grund, weshalb der Mensch die Erde erobern konnte, denn solange man mit sich selbst und anderen zufrieden war, war man träge. Erst die Unzufriedenheit öffnete die Fenster für Erneuerungen und Veränderungen.
Zu viel Unzufriedenheit konnte aber auch alles abtöten, schoss es ihm durch den Kopf, als er an Inga dachte. Warum konnte sie ihre Unzufriedenheit bloß nicht positiv nutzen? Er musste nun wohl oder übel nach ihr sehen.
Er schlich hoch ins Schlafzimmer. Dort schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen, der ihn an ein Krankenlager erinnerte: Körperliche Ausdünstungen gemischt mit dem Geruch der erkalteten Suppe auf den Nachtischen. Es widerte ihn an. Inga schien zu schlafen. Er öffnete vorsichtig das Fenster und nahm leise einen frischen Schlafanzug aus der Kommode. Er wollte sich mit Fernsehen ablenken. Dazu musste er ins Gästezimmer ausweichen, um Inga nicht zu wecken. Der Gedanke, im sauberen wohlduftenden Gästebett alleine mit eingeschaltetem Fernseher einzuschlafen, ließ ihm wohlige Schauer über den Rücken laufen. So weit hatte er sich schon von Inga entfernt, sie war ihm seit Kurzem eher ein Klotz am Bein, wie er traurig feststellte.
Während er es sich im Gästezimmer bequem machte, fragte er sich, ob Marc die Nachricht von seiner Mailbox wirklich noch nicht abgerufen hatte oder ob er sich einfach so nicht meldete. Schade, dass man bei der Mailbox keine Empfangsbestätigung anfordern konnte wie bei einer E-Mail. Aber im Grunde hätte er an diesem Abend durch den unerwarteten Besuch sowieso keine Zeit für eine konzentrierte Aussprache gehabt. Er holte sich noch zwei Flaschen Bier aus dem Keller und machte es sich im Gästebett gemütlich.