Читать книгу Teufelsweg - Maren Nordberg - Страница 4
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ОглавлениеSie ertastete mit der Hand das überraschend kühle Metallrohr hinter ihrem Kopf. Weit kam Inga Gartelmann nicht, der Schmerz schon, er strahlte augenblicklich bis in die Zehenspitzen.
So zuckte sie zurück und ließ den Arm ergeben auf die dünne Decke sinken. Vielleicht geht es mit dem anderen besser, überlegte sie und hob ihn vorsichtig an. Sie mochte ihn aber nicht nach hinten ausstrecken, stattdessen näherte sie sich mit den Fingerspitzen unwillkürlich ihrem Hals. Dabei berührte der transparente Kunststoffschlauch leicht ihre Wange.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war diese eigenartige, schmierige Flüssigkeit. Dieses schleimige, rötlich-braune Zeug, das unaufhörlich auf ihren Hals getropft war. Ihr stieg wieder der unerträgliche Geruch in die Nase und sie musste sofort würgen. Erst als sie sicher war, dass sie die Spukschale aus rauer Recycling-Pappe doch nicht benötigte, betastete sie vorsichtig die Stelle am Hals. Unterhalb des Ohrs fühlte sich alles weich, aber trocken an. Sie führte ihre Finger vorsichtig in Richtung Nase und schloss die Augen. Es war der Geruch nach Desinfektionsmitteln, der nicht stimmte. Alles roch falsch und fremd. Dabei war es vor wenigen Stunden noch so schön gewesen. Inga presste die Augenlider ganz fest zusammen. Je mehr sie zudrückte, desto klarer wurde die Erinnerung, dort fühlte sie sich wohl und geborgen.
Das sanfte, gleichmäßige Fahrgeräusch wirkte wieder angenehm entspannend, sie lehnte sich zufrieden im Beifahrersitz zurück. Leise summte Inga mit einem zarten, fast entrückten Lächeln money money money, ihre Flipflops mit den großen rot-weißen Plastikblüten über den Zehen wippten im Takt. Die Sonne schien durch das Seitenfenster und brannte auf den rechten Arm. Ihr gefiel die Wärme, auch wenn es richtig heiß war.
»Frau Gartelmann.«
Die sattgrünen, unwirklich leuchtenden Bergwiesen zogen rechts und links der Autobahn vorüber.
»Frau Gartelmann!«, gleichzeitig zog und schüttelte jemand ungeduldig an ihrer linken Schulter. Bei jedem Stoß durchzuckte sie ein Schmerz, als ob sie sich an einem elektrischen Weidezaun festklammerte. Augenblicklich riss Inga die Augen auf, aber nur, um sie geblendet sofort wieder zuzukneifen. Das war wirklich die Höhe, sie nachts andauernd aufzuschrecken.
»Frau Gartelmann, Ihre Pupillenreflexe sind unauffällig, sonst auch alles in Ordnung?« Inga sagte nichts und atmete auf, als die Tür wieder zufiel.
Erst dann biss sie sich vor Wut auf die Zunge und schmeckte sofort Blut, klar, die Bisswunden gingen wieder auf. Sie roch immer noch diesen ekeligen Schweiß, den sie schon kannte. Gab es hier in diesem verfluchten heißen Krankenhaus denn kein vernünftiges Personal? Sie würde einen Teufel tun und dieser Person von ihren Schmerzen berichten, nicht, dass sie sich noch über sie beugte, um eine Injektion zu verabreichen. Inga hatte doch Glück gehabt, hatten sie alle immer wieder betont, ihr fehlte eigentlich nichts. Schließlich war sie genau untersucht worden und abgesehen von einigen Prellungen hatten die Ärzte nichts gefunden! Dass ihre Wirbelsäule nach solch einem Aufprall protestierte und Schmerzsignale versandte, konnte man ihr nicht verdenken.
Nein, ihr war nichts passiert! Dieser zynische Satz klang ihr noch in den Ohren. Nichts! Dabei war er so schön gewesen, der, so wie es aussah, letzte gemeinsame Familienurlaub. Sie hörte ihr eigenes unterdrücktes Schluchzen und ballte ihre Hände zu Fäusten. Dabei hatte sie sich so gefreut, dass Marc kurz vor den Sommerferien doch noch zu dem Entschluss gekommen war, sie in den Campingurlaub nach Italien zu begleiten. Mit fünfzehn Jahren war das keine Selbstverständlichkeit, viele seiner Freunde fuhren nur noch mit Jugendgruppen, aber keinesfalls mehr mit den eigenen Eltern in den Urlaub. Marc war ihr einziges Kind geblieben, was die Sache auch nicht leichter machte. Sie hatten sich mindestens noch ein zweites Kind gewünscht, aber an die schwierige Zeit mit den ganzen Fehlgeburten wollte sie jetzt auch nicht denken. Ihr Mund fühlte sich an wie mit Mehl bestäubtes Schmirgelpapier und das Wasserglas war schon seit Stunden leer. Kein Wunder, dass sich bei dieser sommerlichen Hitze auch die Krankenzimmer dieses süddeutschen Kleinstadtkrankenhauses in Brutöfen verwandelten, die sogar nachts nicht mehr auskühlten. Aber sie mochte ja die Wärme, eigentlich. Die Aussicht, mit dem Klingelknopf wieder die sehr persönlichen Duft verbreitende Grobmotorikerin ins Zimmer zu holen, gefiel ihr nicht. Doch der Tropf fesselte Inga an das Bett, denn der Beutel mit der klaren, farblosen Lösung hing hoch über ihr. Zum Wasserhahn an der Seitenwand des Krankenzimmers kam sie so nicht. Zaghaft zog sie ein wenig am farblosen Plastik, das von ihrem Arm zum Infusionshalter hinaufführte, im Liegen hatte sie keine Chance. Es wurde Zeit, dass die Flüssigkeit endlich in ihre Vene geflossen war. Aber wenn sie aber dabei zusah, mit welcher quälenden Langsamkeit die Tropfen den Durchflussregler passierten, dauerte es sicher noch bis zum nächsten Morgen. Was bekam sie eigentlich verabreicht, wenn ihr nichts fehlte? Erstaunlicherweise besiegte eine untypische Trägheit ihre im Gehirn unaufhörlich kreisende Unzufriedenheit und Unruhe. Sie blieb einfach liegen, ohne etwas gegen ihren Durst zu unternehmen.
Es musste so gehen, sie presste die Augen wieder fest zu und lenkte ihre Gedanken zurück an den Lago Maggiore, auf den Campingplatz. Im Liegen, solange sie sich nicht bewegte, regten sich wenigstens keine Nerven im Rücken.
Selbstverständlich war die Wahl auf einen der italienischen Orte gefallen, ein Urlaub am Schweizer Ufer dieses langen, großen Alpensees war beim derzeitigen Wechselkurs des Euro unerschwinglich. In Ascona konnte man umgerechnet für eine Pizza locker achtzehn Euro zahlen, an der Promenade in Cannobio war man dagegen schon ab fünf Euro dabei. Und die Pizzas waren exzellent gewesen, sie spürte einen Moment dem Geschmack von gut gewürzter Tomatensoße, Basilikum und dem typischen Steinofenaroma des Hefeteigs nach. Rainer, ihr Ehemann, und Marc hatten den Wohnwagen gemeinsam in Cannobio auf einen Stellplatz mit Blick auf den glitzernden See manövriert. Inga erinnerte sich genau, wie sie spürte, dass der Urlaub in dem Moment begann, als der Wohnwagen mit Unterlegkeilen in seiner Position arretiert wurde. Augenblicklich war die Anspannung von ihr abgefallen und sie hatten sich alle drei in Ruhe auf die Sonnenliegen gelegt, noch bevor Marc sein Zelt aufgebaut hatte. Das war ein friedvoller Moment gewesen. Inga atmete tief durch und dachte an Rainers weißen Wohlstandsbauch, den er dort der Sonne entgegengestreckt hatte. Mit Mitte fünfzig war ein Waschbrettbauch eben nur noch durch hartes Training zu erhalten. Bei diesem Gedanken musste sie in ihrem Krankenhausbett lächeln, denn Rainer war schon immer leicht vollschlank gewesen und mit den Jahren traten die speziellen Eigenschaften stärker hervor.
Und jetzt lag sie hier, wo sie nicht sein wollte. Ihre Zungenspitze rieb trocken über die Oberlippe, bald ging es nicht mehr, ohne etwas zu trinken. Sie hielt die Luft an und versuchte, weitere angenehme Erinnerungen zu erhaschen. Wie im Zeitraffer tauchten Erinnerungsfetzen an die Wanderungen im wilden, schroffen Verzascatal auf, ihre Vertrautheit miteinander. Abends war Marc an der riesigen, authentischen Promenade von Cannobio losgezogen und hatte sich mit Gleichaltrigen vergnügt. Eigenartigerweise schmerzte Inga diese Erinnerung jetzt, das musste am Durst liegen.
Der Beutel der Infusion hing einfach zu hoch, sie erreichte ihn vom Bett aus nicht, sonst hätte sie ihn einfach mit zum Wasserhahn genommen. Sie zählte im nächtlichen Dämmerlicht die in die Tropfkammer fallenden Tröpfchen. So wenig, wie davon in den Körper floss, konnte nichts helfen, außerdem fehlte ihr nichts, also brauchte sie auch keine Medikamente. Es tat zwar weh, als sie sich ungeübt die Nadel aus dem Unterarm zog, aber es war auszuhalten. Jetzt fühlte sie sich gleich ein wenig besser, nicht mehr ganz so angebunden. Die Nadel stach sie in die Matratze, dort steckte sie besser als in ihrem Arm. Sie knirschte mit den Zähnen, diese verfluchte Nacht im Krankenhaus hatten sie nur Rainer mit seiner Kritiklosigkeit zu verdanken. Ihr selbst hatte am Abend die Kraft gefehlt, sich gegen das Ansinnen aufzulehnen, eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben. Aber Rainer, der war schon wieder ganz munter herumgelaufen. In welchem Zimmer war er eigentlich in dieser Nacht untergebracht? Jetzt, wo sie ihn gebraucht hätte, war er nicht da.
*
Nun kam eine der schwierigen Aufgaben dieser Nacht, sie musste aus dem Bett herauskommen, ohne ihre Nacken- und Rückenwirbel zu beanspruchen. Ganz langsam schälte sie sich aus dem Bett, dabei bemühte sie sich krampfhaft, den Rücken wirklich gerade zu halten. Der Nacken fühlte sich trotzdem an, als ob ihr hier und dort mit Genuss und Ausdauer kleine Stacheln hineingestochen würden. Sobald sie auf ihren eigenen Füßen stand, war es viel besser. Hoffentlich kam jetzt niemand ihre Reflexe prüfen, dachte sie missmutig. Sie nahm ihr ausgetrocknetes Glas und ging vorsichtig Stück für Stück über das von der Sommerhitze lauwarme Linoleum in Richtung Waschbecken. Dort angekommen, zog sie mit dem Fuß einen der beiden kleinen Hocker heran und ließ sich so gerade darauf nieder, als hätte sie einen Stock verschluckt. Wenn Rainer sich um sie kümmern würde, hätte sie sich das alles sparen können, grummelte es in ihr, dabei drehte sie das Wasser voll auf. Es dauerte eine Weile, bis es richtig kalt war, Inga trank und trank. Wie gut, dass sie im Gegensatz zu ihrem Mann so eine schlanke Figur behalten hatte, das hielt wenigstens die Gelenke jung, dachte sie dabei. Sie ließ das Wasser noch eine Weile über ihre Hände laufen, wusch sich das Gesicht ab und fühlte sich sofort viel besser. Nachdenklich strich sie sich wieder über diese Stelle am Hals, unterhalb vom Ohrläppchen. Bevor sie zu Ende gedacht hatte, war schon die Krankenhausseife großzügig auf ihrer Handfläche verteilt. Richtig, sie musste das Blut und was auch immer da noch auf sie getropft war, gründlich abwaschen. Sie seifte die Stelle ein, tränkte ein Handtuch mit viel frischem Wasser und wischte damit den Schaum wieder ab. Dass ihr Leih-Nachthemd dabei ebenfalls nass wurde, störte sie nicht. Und sie konnte in diesem Moment nicht ahnen, dass sie in absehbarer Zeit wieder etwas mit viel Seife von sich entfernen musste, um die allerletzte Spur eines Menschen zu beseitigen.
Als sie wieder vom Kunstleder-Hocker aufstand, fühlte sie sich gestärkt und die verdammten Schmerzen beim Beanspruchen der Wirbelsäule hatten sich auf einem Niveau eingependelt, das sie ignorierte. Ihr fehlte ja auch nichts. Morgen früh, gleich wenn sie aus diesem Krankenhaus raus waren, musste Rainer für sie ein gutes Schmerzmittel besorgen.
Sie lief acht Schritte in Richtung Fenster und wieder acht Schritte zurück. So viel zum Thema unter Beobachtung im Krankenhaus. Falls sie hier allein im Zimmer zusammenklappte, merkten die das frühestens eine Stunde zu spät, wenn sie kamen, um sie mit der Taschenlampe zu blenden.
Inga lief und mit jedem Schritt leuchtete ein neuer Erinnerungsfetzen hell auf. Marc mit seinen braunen, halblangen Locken und seiner drahtigen, durchtrainierten Figur hoch oben auf dem imposanten Staudamm im Verzascatal. James Bond, alias Pierce Brosnan, hatte sich in der berühmten Anfangsszene von GoldenEye an einem Bungeeseil von dort in die Tiefe gestürzt. Jeder, der sich traute, konnte die ganze Sommersaison über diesen Sprung an der Bungeesprunganlage selbst austesten. Zum Glück war Marc der Preis von mehr als zweihundert Schweizer Franken zu hoch gewesen, sonst hätte er sich todsicher von der Mauer hinabgestürzt. Es war schon schwachsinnig, wovor sie Angst gehabt hatte, der Bungeesprung wäre nicht halb so gefährlich gewesen wie die Rückfahrt mit dem Auto nach Norddeutschland.
Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf, Inga wollte nicht an das Schreckliche denken, sie brauchte den Urlaub und die Erinnerung daran. Die auf dem Fuße folgende Schmerzwelle versuchte sie wieder zu ignorieren, musste aber einen Moment innehalten. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie sich noch in der trügerischen Sicherheit gewähnt, dass alles gutgegangen war. Niemand war während des Urlaubs von einer der Giftschlangen oder einem der Skorpione gebissen worden, die es rund um den Lago Maggiore geben sollte. Bei all ihren Spaziergängen durch die malerischen Orte mit den unzähligen alten Steintreppchen und bei den Wanderungen durch fast unberührte Täler, hatten sie lediglich ungefährliche Ringelnattern entdeckt. Inga selbst war am Ende des Urlaubs richtig tiefenentspannt gewesen. Am liebsten hätte sie gesagt »Das Gleiche noch einmal bitte!«, im Bewusstsein, dass ohne Angst alles noch viel schöner war.
Ohne Angst, das war ein gutes Stichwort, ihr lief ein fröstelnder Schauer über den Rücken. Sie war sich unsicher, ob das am gut gewässerten Nachthemd oder an der Erinnerung lag. Wenigstens tropfte das Nachthemd von der Waschaktion jetzt nicht mehr. Sie wusste noch, wie sie auf der Rückfahrt aus dem Urlaub ihren Pullover über die Beine gelegt hatte, weil der kühle Luftstrom der Klimaanlage den Fußraum in einen Kühlschrank verwandelte. Wie angeweht war der Vorbote der Katastrophe aufgetaucht.
»Typisch, kaum auf der deutschen Autobahn, schon geht es los!«, war Rainers Kommentar dazu gewesen. Ein drängelnder PKW hatte Rainer aufgeschreckt. Sie erinnerte sich noch, dass er, ganz entgegen seinem sonst sehr ausgeglichenen Wesen, aufbrausend geworden war. In der Nachbetrachtung war es richtiggehend eine Prophezeiung gewesen. Er ärgerte sich lautstark über das fehlende Tempolimit, das diese Spezies von Autofahrern förmlich heranzuziehen schien. »Im Urlaub in der Schweiz, Österreich, Frankreich oder Italien gibt es auch mal einen A-Raser, aber dort sind sie wenigstens die Ausnahme, bei den Strafen, die auf Geschwindigkeitsüberschreitung stehen«, hatte er gepoltert, »außerdem ist Rasen dort kein von der Masse toleriertes und gepflegtes Allgemeingut! Irgendwann knallt es hier ganz gewaltig!« Inga sah noch ganz genau sein in Falten geworfenes Gesicht, das den ganzen aufgestauten Ärger darüber ausdrückte. Sie wusste auch noch, wie sehr sie bedauert hatte, dass ihm in diesem Moment das Urlaubsflair vollständig entglitten war. Wie oft hatte er Inga sein Wortspiel schon erklärt. Der Begriff A-Raser stand für Alpha-Raser und gleichzeitig für das im Englischen ganz ähnlich ausgesprochene Wort eraser, Radiergummi. Diese speziellen Autofahrer radierten eben alles aus, was ihnen im Weg war.
Wie recht er hatte, war kurz darauf wieder einmal sonnenklar erwiesen worden, aber das half nichts und interessierte auch keinen.
Inga stockte beim dritten Schritt in Richtung Fenster. Wie viele Runden sie schon gelaufen war, wusste sie nicht, aber sie spürte ganz klar, dass es für ihren geschundenen Körper jetzt zu viel wurde. Ein Krampf breitete sich in ihrer linken Wade aus. Das war ja lächerlich, bei den Wanderungen war das nie geschehen. Wenigstens ein anständiges Mineralwasser brauchte sie jetzt, aber schon der Gedanke an den Schweißgeruch ließ sie wieder würgen. Ihr Blick fiel auf die Infusionslösung, was wollten die ihr eigentlich in den Körper leiten? Freundlich gestimmt, weil sie den Tropf los war, griff sie nach dem Beutel mit der Flüssigkeit.
Im Stehen erreichte sie ihn ohne Schwierigkeiten, interessiert las sie die Inhaltsstoffe. Isotonische Kochsalzlösung, irgendwelche Mineralstoffe, sonst nichts. Ein anständiges Essen, eine Fruchtsaftschorle und der Tropf wäre überflüssig gewesen. Unentschlossen schüttelte sie den noch fast vollen Beutel und wartete, dass sich der ausgedehnte Wadenkrampf endlich ganz löste. Nun fing auch der Muskel im anderen Bein an zu mucken. Es reichte jetzt, fand sie und drehte den Kunststoffschlauch vom Infusionsbeutel ab. Wenn sie ihr nichts anderes anboten, musste sie eben nehmen, was da war. Sie ließ sich etwas Lösung in den Mund laufen und spürte dem komischen Geschmack nach.
Langsam führte sie ihren Gang fort, acht Schritte zum Fenster, acht Schritte zurück, dabei trank sie Schluck für Schluck den Infusionsbeutel aus und schob ihn anschließend unter das Bett. Der Beutel war leer und sie selbst fühlte sich mit einem Mal auch völlig erschöpft.
Mühsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und zwang sich wieder zurück in die Erinnerungen.
Sie hatte ganz deutlich eine Szene von der Rückfahrt vor Augen. Marc wären beinahe einige von Rainers Weinflaschen mit Tessiner Merlot aus dem Kofferraum auf den Parkplatz einer Raststätte gerutscht. »Wenn die zu Bruch gehen, kannst du sofort per Anhalter zurückfahren und neue kaufen«, war der Originalsatz von Rainer gewesen.
»Gerne, etwas Besseres als unser Bremer Schmuddelwetter und die Schule finde ich dort bestimmt«, hatte Marc gut gelaunt als Anspielung auf die Bremer Stadtmusikanten zurückgegeben und eine der dunkelgrünen Flaschen mit einem schlichten Etikett zum Spaß in die Höhe gehalten.
»Etwas Besseres als den Tod findest du überall, also so lass uns ruhig nach Bremen fahren«, variierte sie selbst die Märchenstunde. Obwohl das Wetter in Bremen natürlich wirklich zu wünschen übrig ließ, fühlte sie sich dort wohl und heimisch. Der Urlaub hatte ihnen anscheinend allen gut getan, so entspannt und freundlich, wie sie dort auf dem Rastplatz miteinander umgegangen waren. Und sie war sich ganz sicher, dass auch Marc nach Bremen zurück wollte. Dort musste er langsam wieder ins Leichtathletik-Training einsteigen, denn die nächsten überregionalen Wettkämpfe standen bald an.
Wenn Marc nicht im Raststätten-Shop auf die verrückte Idee gekommen wäre, eine DVD zu kaufen, wäre alles anders ausgegangen.
*
Inga blieb stehen und rieb sich müde die Augen.
Gern hätte sie sich hingelegt und geschlafen, aber sie mochte sich nicht wieder in dieses Krankenhausbett legen. Vor Anstrengung und Wärme lief ihr der Schweiß mittlerweile über das ganze Gesicht, aber das war ihr egal, sie musste weitergehen.
Sie konnte ihre Erinnerungen jetzt wie einen Film ablaufen lassen. Marc kam zum Wagen zurück und schwenkte lachend eine DVD in der Sommerhitze.
»Schaut mal, welche DVD im Raststätten-Shop im Angebot war«, dabei hielt er Bastian Pastewkas erste Comedie-Staffel hoch. »Komm Mum, wenn ich in meinem hohen Alter mit den beiden Alten noch in den Urlaub fahre, lass es uns doch richtig gemütlich machen«, dazu knisterte er mit einer rotgelben Tüte Chips und schwenkte eine Colaflasche.
»Während Rainer uns fährt, schauen wir im Fond die DVD an.« Danach hatte er das Notebook im Kofferraum gesucht, die Merlotflaschen fast zerdeppert und anschließend die Filmvorführung auf der Rückbank vorbereitet. Inga wusste noch genau, wie sie sich in dem Moment gefragt hatte, seit wann er den Ausdruck Fond benutzte. Ihr Sohn wurde wirklich langsam erwachsen.
Sie hielt mitten im Krankenzimmer inne und erstarrte förmlich, was jetzt kam, gehörte nicht mehr zum Urlaub.
Sie hatte sich tatsächlich zu Marc auf die Rückbank gesetzt und die Kopfhörer übergestülpt. Und sie hatten gemeinsam Tränen gelacht, Pastewkas Gesichtsausdrücke waren zu komisch, aber sie würde ihn nie wieder ansehen können. Dann war da das Auto, das sie überholte. Ingas Hand zuckte unwillkürlich, während sie starr mitten im Raum stand und mit ihren Erinnerungen kämpfte. Hinten saß das kleine Mädchen mit den blonden geflochtenen Zöpfen. Sie hatte diesem Mädchen, das beim Lachen eine große Zahnlücke entblößte, zugelacht und sie wollte auch winken. Dazu war sie aber nicht mehr gekommen.
Inga schüttelte sich und eine eiskalte Welle ergriff ihren Körper. Es war so, als ob der Knall immer noch nachhallte und ihre Ohren wieder taub werden ließ.
Es hatte sich so angefühlt, als ob alle Luft aus ihrem Körper gepresst wurde, während die ganze Welt ein Strudel war, dann musste sie ohnmächtig geworden sein, auf alle Fälle war da nichts mehr, keine noch so kleine Erinnerung. Als Nächstes hing sie irgendwie auf der Seite und überall waren diese, zunächst noch weißen, Beutel. Sie spürte wieder die unendliche Angst der ersten Sekunden, als sie nichts von Rainer und auch nichts von Marc hörte.
Inga merkte, wie ihr Körper jetzt mitten in der Hitze einfror, diese Erinnerungen zerstörten sie regelrecht, aber sie konnte nicht anders, die Bilder drängten aus dem Gedächtnis ins Bewusstsein. Rainers erstes Stöhnen und ihre Furcht, dass Marc tot war. Es war entsetzlich gewesen und diese Angst hatte nicht nachgelassen, sie hatte sich nicht getraut, zu ihm hinzusehen. Stattdessen war ihr Blick an den Resten des Beifahrersitzes klebengeblieben. Dort, wo sie eigentlich hätte sitzen sollen, waren irgendwelche Metallteile sichtbar gewesen, die sich von vorne in die Rückenlehne gebohrt hatten. Und dann hatte sie den ersten Tropfen abbekommen, es tropfte und tropfte warm und bräunlich-rot auf sie herab. Und es stank nach Exkrementen und Erbrochenem. Sie sah wieder den rot-bräunlich verfärbten Airbag über sich, aber sie schaffte es, die aufkommende Ohnmacht abzuwehren. Ganz sicher war sie im Unfall-Wrack wieder ohnmächtig geworden, denn bis sich die Rettungskräfte bis zu ihnen vorgearbeitet hatten, musste es noch eine Weile gedauert haben. An eine Wartezeit fehlte Inga aber jegliche Erinnerung, vielleicht hatte ihr Gehirn aus Selbstschutz diese Zeit aber auch ausgeblendet, denn der nächste gespeicherte Eindruck war dann Marcs Stimme. Marc, ihr ein und alles, er hatte mit den Sanitätern gesprochen, es ging ihm anscheinend gut. Danach war es relativ schnell gegangen, die Gurte wurden durchtrennt, das Metall der Karosserie an einer Stelle mit schwerem Gerät geöffnet und sie alle nacheinander aus dem Wrack herausgeholt.
Erst jetzt setzte Inga ihren Gang im Zimmer wie in Zeitlupe fort. Als sie an den verwrungenen Blechhaufen auf der Autobahn dachte, rammte sie sich ihre Daumennägel in die Kuppen der Zeigefinger. Es tat alles so weh, aber sie selbst hatten ja Glück gehabt.
»So, jetzt rasiere ich vorsichtig die Haare an der Wunde etwas ab, damit wir sie gut und sauber kleben können.« Etwas knisterte, dann war es wieder still. Warum sie jetzt plötzlich überlaut jedes vergangene Detail hörte, war ihr unklar. Das war die Stimme des Arztes gewesen, der Marcs Platzwunde am Kopf geklebt hatte. »Jetzt bitte nicht bewegen.« Inga sah wieder ganz genau, wie er sich mit angespanntem Gesicht über Marcs Haaransatz beugte und die Wundränder zusammenpresste, damit sich nur eine ganz kleine Narbe bildete.
Sie lauschte in ihre Erinnerungen an die nüchterne Stille hinein, die nur ab und zu durch Rascheln, Rollen oder wenige menschliche Laute unterbrochen wurde. Außer ihnen schien an diesem schönen Sommertag niemand im Krankenhaus zu sein.
Rainer hatte am wenigsten abbekommen, lediglich die Bisswunden im Mund, die üblicherweise bei einem starken Aufprall von den Zähnen gerissen wurden, teilte er mit Inga und Marc.
Inga schleppte sich jetzt mit letzter Kraft ins Bett, ob sie wollte oder nicht, sie musste sich hinlegen, und zwar sofort. Sie schloss die Augen und sah die nicht mehr zu differenzierenden Schrottwagen. Wie bestellt öffnete sich plötzlich die Tür des Krankenzimmers und Inga ließ das Rütteln sowie das Blenden mit dem hellen Taschenlampenlicht über sich ergehen.
Es hatte sowieso alles keinen Sinn mehr, jede noch so schöne Erinnerung bekam automatisch einen Makel, sobald sie gedacht war. Sie merkte wieder die Wut in sich aufsteigen, Rainer hatte eine Prophezeiung abgeliefert, als er die Raser in Eraser umtaufte, eine Prophezeiung, die sich jetzt bewahrheitet hatte. In Wirklichkeit handelte es sich aber nicht um eine unerklärliche Vorahnung, sondern einzig und allein darum, dass sie gerade in schönster Konsequenz die natürlichen Folgen der deutschen Straßenverkehrsordnung ausbadeten. Und sie wusste nicht mal, wie viele Menschenleben diesem Eraser zum Opfer gefallen waren, am besten, sie dachte nichts mehr. Entschlossen kniff sie ihre Augen wieder zu und versuchte krampfhaft, an nichts zu denken.
Es knallte. Inga schrak zusammen, sie hatte diesen eigenartigen Knall ganz deutlich gehört. Wieder durchzog sie ein stechender Schmerz. Sie blinzelte unwillig, sie musste kurz eingenickt sein und dabei hatte sich ihre Erinnerung sofort selbständig gemacht. Unwillig tastete sie vorsichtig über die Decke. Der Stoff fühlte sich ganz glatt und weich an.
Ihre Gefühle, die musste sie noch viel besser unter Kontrolle bekommen und wirklich nichts mehr denken. Damit begann sie am besten jetzt sofort.