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Am nächsten Morgen erwachte sie vom lauten Klang ihrer Haustürglocke aus einem überraschend traumlosen Schlaf. Diese Klingel stammte noch aus der Zeit, als sie ihre schwerhörige Mutter im Haus aufgenommen hatten, um sie vor einem Lebensabend im Seniorenheim zu bewahren. Das waren für sie harte zwanzig Monate gewesen, bis ihre Mutter endlich für immer eingeschlafen war. Es war schon eigenartig, jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie den Tod der Mutter insgeheim herbeigesehnt hatte, damit sich die häusliche Situation wieder entspannte. Aber die eigene Mutter ins Heim abzuschieben hätte ihr auch Gewissensqualen bereitet. Da war sie anders als ihre ältere Schwester, die in Großbritannien lebte und sie immer gedrängt hatte, lieber einen Heimplatz zu suchen. Rainer wäre fast verzweifelt, weil ihre Mutter zu jeder Tages- und Nachtzeit im ganzen Haus herumlief und sich mit ihrer Altersdemenz überall einmischte. Inga wusste, dass ihr Mann nur deshalb alles ertragen hatte, weil er zu feige gewesen war, einen Ehekrach zu riskieren. Nach ihrem Tod hatte er sich vom Erbe zur Belohnung einen schönen neuen Wohnwagen angeschafft, der seit Sonnabend nur noch ein Schrotthaufen war. Inga überlegte, ob die Versicherung überhaupt zahlen würde, ohne dass sie sich einen anderen Campingwagen anschafften. Einen neuen Wohnwagen brauchten sie ganz sicher nicht, denn mit dieser Art von Urlaub hatte sie für immer abgeschlossen. Ihre Gedanken schweiften immer weiter ab. Es durchfuhr sie ein Schauer der Erleichterung, dass Rainers und ihre Eltern nicht mehr lebten und folglich nicht über den Unfall informiert worden waren. Das wäre eine schwierige Sache geworden, ihnen alles immer wieder zu erklären und ihr eigener Vater hätte am Ende sicher noch Rainer beschuldigt, nicht defensiv genug gefahren zu sein. Sie blickte auf den Wecker auf ihrem Nachtisch. Es war schon neun Uhr. Da hatten ihr die drei Schlaftabletten ja tatsächlich zu vielen Stunden Ruhe verholfen.

Es klingelte wieder. Rainer lag nicht mehr neben ihr, warum öffnete er nicht? Auch das leise Sirren ihres privaten Festplatten-Servers im Flur nahm sie wahr, was bedeutete, dass Marc schon den PC im Wohnzimmer gestartet haben musste, sein eigenes Laptop hatte er ja nicht mehr. Für Rainer wäre es äußerst untypisch, wenn er sich gleich vor den Computer gesetzt hätte.

Es klingelte zum dritten Mal. Inga kam die ganze Situation plötzlich surreal vor. Sie hoffte zu träumen. Vorgestern wäre sie fast auf dem Beifahrersitz aufgespießt worden, aber heute lag sie in ihrem eigenen gemütlichen Bett – und Maries Eltern hatten keine Tochter mehr. Nun hörte sie ein lautes Hämmern an der Tür. Inga quälte sich aus dem Bett, kämpfte erfolgreich gegen einen Schwindelanfall, warf sich eine dünne Jacke über ihr Sommernachthemd und zog ihre Jogginghose über. Wie gut, dass sie nicht alle bequemen Hosen mit in den Urlaub genommen hatte, dachte sie, während sie noch etwas steif die steile Reihenhaustreppe hinunterging.

Inga öffnete die Tür. Trudi Gehringsdorf, eine korpulente ältere Nachbarin, die während ihrer Abwesenheit den Briefkasten geleert und die Blumen gegossen hatte, stand aufgeregt mit dem Weser-Report in der Hand vor ihr. Dieses kostenlose Anzeigenblatt steckte immer mittwochs und sonntags im Kasten. Sie wedelte Inga mit der Zeitung vor dem Gesicht herum: »Mein Gott, wie gut, dass ihr wieder zurück seid. Wir hatten gestern schon alle befürchtet, dass ihr den Unfall hattet, von dem berichtet wurde.«

Inga fragte sich, wen sie wohl mit wir alle meinte, wo Trudi doch alleine lebte. Als sie sich die Zeitung genauer ansah, stockte ihr der Atem. Bremer Familie nur knapp dem Tod entkommen, ein Todesopfer durch Raserei auf der Autobahn stand dort als großer Aufmacher auf der Titelseite.

»Wir wussten doch, dass ihr Sonnabend unterwegs sein musstet und die Beschreibung einschließlich Marcs Alter passte genau. Als ich Rainer und Marc vor zehn Minuten mit ihren Rädern an meinem Küchenfenster vorbeikommen sah, fiel mir ein Stein vom Herzen und ich wusste, dass ich schon bei euch klingeln kann.« Ihr Redefluss sprudelte munter weiter, nur unterbrochen von kurzen, häufigen Atemzügen. »Gestern Abend hatte mich noch der nette Herr mit dem kleinen Dackel, der Herr Grümpel, beim Blumengießen im Garten angesprochen und erzählt, dass er euch gerade bei einem gemütlichen Spaziergang durch unser Wohnviertel gesehen hat. Obwohl ich noch nicht bemerkt hatte, dass Ihr schon zurück seid. Wir waren ja so erleichtert, dass ihr das nicht mit dem Unfall wart.«

In Ingas Kopf herrschte Chaos, ob die neugierige Trudi wirklich so dreist war und auf diese Art herausfinden wollte, ob sie den Unfall hatten.

Inga überlegte kurz, ob sie den Unfall einfach verschweigen sollte, sie hatte weniger als keine Lust, darüber jetzt mit ihrer klatschsüchtigen Nachbarin zu sprechen. Auf der anderen Seite würde die sowieso bald merken, dass sie praktisch mit nichts zurückgekehrt waren. Während sie noch sinnierend in der Haustür stand, bog Rainer mit dem Rad um die Ecke, am Lenker baumelte eine Tüte vom Supermarkt. Er rief: »Wir sind hier schon berühmt, ganz viele haben mich unterwegs auf unseren Unfall angesprochen.«

Da war nichts mehr zu überlegen und Trudi Gehringsdorf fiel die Kinnlade herunter. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und meinte: »Oh nein, und ich klingel auch noch so früh bei dir, Inga, wo Du Dich doch bestimmt noch erholen musst, seid ihr wirklich nicht verletzt?« Inga schüttelte nur leicht mit dem Kopf, denn diese Bewegung tat noch immer höllisch weh. »Da will ich Euch jetzt aber in Ruhe lassen, ich komme heute Nachmittag noch mal wieder.« Mit dieser Drohung machte sie auf dem Absatz kehrt.

»Die telefoniert gleich als Erstes ihren ganzen Telefonnummernspeicher durch und spielt rasende Berichterstatterin, glaube mir«, sagte Rainer. »Lass uns mal sofort frühstücken, damit wir gestärkt sind, wenn weitere Neugierige kommen. Marc ist gleich vom Supermarkt zu Stefan gefahren, der hatte ihm schon eine Email geschrieben, dass er sich bei ihm melden soll, sobald er wieder in Bremen ist. Ich denke, Marc will so dem Rummel aus dem Weg gehen, der hier bald losgehen könnte.«

Inga lächelte unsicher: »Ich verzichte auch freiwillig auf jeden neugierigen Mitleidsbesuch! Glaubst du wirklich, dass unsere Freunde und Bekannten so dreist und neugierig sind und sich gleich bei uns melden?«

Rainer nickte bestätigend, legte beschützend seinen Arm um ihre schmalen Schultern und lenkte sie in die Küche. Dort schob er sie in Richtung Stuhl, worauf sie sich dankbar niederließ. Rainer kochte zuerst einen starken Kaffee, deckte den Tisch und zog die Brötchen und die frische Auflage aus der Tüte. Dann ließ er es sich schmecken, während Inga an ihrer trockenen Brötchenhälfte herumknabberte und bei jedem Geräusch zuckte, weil sie dachte, es kämen schon die ersten Besucher. Sie fühlte sich zerschlagen und verklebt. Sie beschloss, gleich zu duschen, danach ging es einem ja oft schon besser.

*

Die Nachricht breitete sich schnell über die Nachbarschaft hinaus aus, zumal auch die Bremer Nachrichten und der Weser-Kurier vom Unfall berichtet hatten. Als ein Redakteur des Regionalteils erfuhr, dass die Bremer Familie bei dem Unfall nur glücklich mit dem Leben davongekommen war, weil sie ein modernes Fahrzeug mit Airbags, Seitenaufprallschutz und Gurtstraffern auf allen Plätzen besaß und die Mutter obendrein durch einen Zufall hinten und nicht auf dem zerstörten Beifahrersitz saß, rückte er mit einem Fotografen zum Interview an.

Inga ließ alles über sich ergehen, sie hatte schon zu viel bekommen, als am Montagnachmittag nicht nur ihre Nachbarin wieder aufgetaucht war, sondern auch viele andere Bekannte und Freunde zufällig in der Gegend waren und mal kurz vorbeischauen kamen.

Im Gegensatz dazu redete Rainer viel und gerne. Er kam mit seiner ruhigen Art gut an bei der Presse, sodass er einige Tage später sogar eine Einladung der regionalen Nachrichtensendung buten & binnen erhielt. Er sollte in der Live-Sendung im Studio interviewt werden.

Marc hielt sich aus allem heraus, indem er sich von früh morgens bis spät in der Nacht mit seinen Freunden traf und die übrige Zeit am Computer saß. Inga hatte das Gefühl, dass er in diesen Tagen noch weniger schlief als sie selber.

Für Rainer hatte das Interesse seiner Mitmenschen und der Medien offensichtlich eine ganz andere Bedeutung als für Inga. Er erkannte in der Einladung von buten & binnen eine einmalige Chance, für seine Überzeugung, für Tempo 130 auf deutschen Autobahnen zu werben, also nahm er die Einladung ohne zu zaudern an. Inga wunderte sich nicht, das war typisch Rainer, reden und andere auf freundliche Art überzeugen, das lag ihm.

Seine Vorgehensweise arbeitete er anscheinend strategisch aus, denn er zog sich stundenlang an den Computer zurück. Und für dieses Interview hatte er auch Inga eingeplant, aber sie scheute das Rampenlicht, in dem sich Rainer mit Genuss sonnte. Bisher hatte er sie noch nicht direkt um ihre Hilfe gebeten, aber sie kannte ihren Mann genau, er schlich nur um sie herum, um einen günstigen Zeitpunkt abzupassen, sie zu fragen.

Der Unfall war inzwischen eine knappe Woche her und Inga wischte gerade trotz des weiterhin herrlichen Sommerwetters den Staub von den Büchern im Wohnzimmer, als sie Rainer eintreten hörte. Er sah ungewöhnlich ernst aus, Inga ahnte nichts Gutes.

»Inga, heute Abend ist das Interview.«

»Ach ja?« Für Inga verliefen derzeit alle Tage in einem einheitlichen, grauen Nebel, sie sah die Tage kommen und gehen, alles war egal.

»Nicht ach ja, du musst jetzt endlich wieder aufwachen!«

So hatte ihr Mann sie noch nie angesehen.

Sie ließ den Staublappen auf das Regalbrett sinken und folgte ihrem Fluchtinstinkt. Allerdings hatte sie nicht mit Rainer gerechnet. Er stellte sich vor die Zimmertür und packte sie an den Schultern. Erstarrt blickte sie ihn an und versuchte, den Sinn seiner ernsten, langsam gesprochenen Worte zu erfassen. »Wir sind es Marie schuldig, dass wir gegen die Raser auf deutschen Autobahnen kämpfen. Inga, du musst mitkommen, Marie braucht dich!«

Inga schüttelte seine Hände ab. Aber er hatte den Nerv getroffen. Sie hatte sich mit solchen Gedanken schon selbst das Hirn zermartert, aber staunte doch über die Worte, die ihren Mund verließen. »Ich weiß, ich werde tun, was zu tun ist.«

Rainer atmete erleichtert auf, seine Inga, er wusste, auf sie war Verlass, wenn es drauf ankam. Zum Glück ahnte er nicht, welche Bedeutung ihr Satz noch erlangen sollte.

Am Nachmittag fuhren Inga und Rainer im Leihwagen zum Sender. Rainer redete während der Fahrt ohne Unterlass, Inga ließ ihn und übte sich im Denken an nichts.

Später saßen sie im hellen Licht der Strahler, Inga wurde richtig heiß. Rainer berichtete von der getöteten Marie, die nur sechs Jahre alt werden durfte, weil ein Raser auf der linken Fahrspur alle anderen Fahrzeuge zum unkontrollierbaren Ausweichen genötigt hatte.

Dann war Inga dran. Doch sie schwieg und hatte das Gefühl, dass sie niemals etwas sagen konnte. Alle warteten und niemand anders sagte etwas, so begann sie zu ihrer eigenen Überraschung stockend und leise.

»Ich wollte Marie gerade zuwinken, sie hat so vergnügt gelacht, mit ihrer Zahnlücke und den süßen Zöpfen.« Inga rang mit den Tränen, zwang sich aber zum nächsten Satz. »Und dann, dann ist sie im nächsten Moment zu Tode gequetscht worden und ihr Innerstes ist mir auf den Hals getropft.« Sie hielt mit der Hand die Stelle am Hals bedeckt und verstummte, von einem Weinkrampf geschüttelt.

Rainer ergänzte: »Wir haben inzwischen erfahren, dass Maries Körper so zerquetscht worden ist, dass Lungen, Herz und Darm über uns ausgepresst wurden.«

Inga hatte sich wieder etwas gefangen und beschrieb den Zuschauern stockend, aber sehr genau den eigenartigen Geruch, den die tropfenden Körperflüssigkeiten verströmt hatten. Rainer lieferte weitere Informationen: »Marie hatte das Pech, in einem älteren Kleinwagen ohne Airbags und ohne Seitenaufprallschutz zu sitzen.«

Nun endlich war der richtige Zeitpunkt, Rainer konnte seine vorbereitete Argumentationskette anbringen, an der er so lange gefeilt hatte: »Es ist leider heute so, dass Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Sicherheitseinrichtungen gemeinsam die Straßen nutzen. Angefangen beim Seitenaufprallschutz, der erstmals von Volvo im Jahr 1991 angeboten wurde über diverse Airbagsysteme bis hin zu ESP. Auch in der Größe und im Gewicht unterscheiden sich die Fahrzeuge, man denke an die kleinen Smarts, die beliebten SUVs und die viele Tonnen schweren Lkw. Alle sollen gemeinsam die gleichen Straßen nutzen, auch die Autobahnen, da wird gleiche Sicherheit für alle nie zu erreichen sein. Aber«, und hier machte Rainer eine wohlüberlegte Pause, »wenn keiner mehr über 130 Kilometer pro Stunde fahren würde, hätten wir einen immensen Zuwachs an Sicherheit. Es wären viel weniger Fahrspurwechsel nötig, da die Zahl der Überholvorgänge deutlich reduziert würde. Außerdem wären die physischen Kräfte, die bei einem Unfall entstehen auf einem viel niedrigeren Niveau gedeckelt. Man stelle sich mal den Unterschied vor, ob ein Fahrzeug mit 130 oder mit 190 Kilometern pro Stunde auf einen anderen Wagen prallt. Das sind glatte 60 Kilometer pro Stunde weniger. Und wie viel 60 Kilometer pro Stunde ausmachen, kann man sich leicht bei Crashtests im Internet ansehen, bei denen Fahrzeuge mit dieser Geschwindigkeit gegen eine Wand fahren.« Um diesen Umstand zu unterstreichen, erinnerte er an den Fahrer eines Erlkönigs, der erst im April 2010 nachts mit 190 Kilometern pro Stunde in eine Unfallstelle auf der rechten Fahrspur einer deutschen Autobahn gefahren war und dadurch einen Menschen getötet hatte. Rainer hatte sich vorgestern bei der der Zeitungslektüre sehr darüber gewundert, dass vor Gericht verhandelt wurde, ob dem Fahrer deswegen wohl der Führerschein entzogen werden solle.

Rainer war mit sich zufrieden, jetzt brauchte er nur noch einmal kurz auszuholen, um sein Vorhaben mit Eleganz abzuschließen. Im Publikum blieb es still, entweder er hatte die Menschen wirklich erreicht oder er hatte sie einfach mit seinem Gerede schläfrig gemacht. Der Moderator machte jedenfalls keine Anstalten, ihn zu unterbrechen. Das lag vielleicht auch daran, dass er ihn aus dem Konzept gebracht hatte, eine Wendung des Gesprächs in diese Richtung hatte Rainer vorher absichtlich nicht angekündigt. Rainer folgerte: »Da wir unsere Autobahnen weiterhin für die verschiedensten Fahrzeuge offen halten müssen, sind wir gleichermaßen verpflichtet, eine größtmögliche Sicherheit herzustellen. Und die effektivste und einfachste Lösung, die bereits seit vielen Jahren in den USA praktiziert wird und auch in allen anderen Ländern der Europäischen Union Anwendung findet, ist das Tempolimit. Mit jedem Tag, den es in Deutschland nicht eingeführt wird, sterben überflüssigerweise Menschen auf deutschen Autobahnen, die mitten aus dem Leben gerissen werden, wie die kleine Marie.«

Nach diesen Worten herrschte absolute Ruhe. Der Moderator schwieg anscheinend minutenlang, bevor er sich bei Inga und Rainer für das Gespräch bedankte.

Teufelsweg

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