Читать книгу Teufelsweg - Maren Nordberg - Страница 11
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ОглавлениеEtwas störte sie. Sie lauschte in die Dunkelheit. Es war warm und stickig. Da, sie hatte es jetzt deutlich gehört, es raschelte hinter ihr. Das passte nicht hierher, okay, sie erinnerte sich, dass sie nicht im warmen Süden war, sondern in Bremen–Ost, in der Psychiatrie. Sie hatte so schön geträumt, aber jetzt kamen die Erinnerungen wieder.
Nun bildete sie sich auch noch ein, ein leises Atmen zu hören. Bin ich schon total verrückt, dachte Inga, ich habe wohl Halluzinationen, es ist stockdunkel im Raum, jede Nachtschwester würde Licht anmachen, bevor sie den Raum betritt. Oder sitzt hier etwa ein Verrückter im Raum, Verrückte gibt es hier schließlich genug. Sie spürte ihren ausgetrockneten Hals. Durch die heruntergelassenen Rollläden kam nur ein minimaler Lichtschimmer, es konnte nur von den alten Leuchten im Park sein, die die kleinen Fußwege nachts friedlich erhellten. Man konnte sich nicht vorstellen, dass hier in der Psychiatrie mit dem schön angelegten Park während der Nazizeit fürchterliche Gräueltaten geschehen waren. Es passte auch nicht dazu, dass hier heute immer noch Menschen gegen ihren Willen festgehalten wurden, nur damit sie sich nichts antaten. Jeder freie Mensch hatte das Recht zu bestimmen, ob er seinem Leben selbst ein Ende setzt, war Inga überzeugt. Von wegen, entmündigen und einsperren, das ließ sie sich nicht gefallen. Sie tastete nach einem Glas, fand es aber nicht, also griff sie seitlich an die Wand, um den Schalter der Lampe zu finden. Ihre Hand suchte die Wand auf Kopfhöhe ab, wahrscheinlich war ihr Bett bei der Aktion mit der Beruhigungsspritze verschoben worden und der Schalter war noch weiter hinter ihrem Kopfende. Sie richtete sich im Dunkeln auf und langte beherzt nach hinten.
Sie griff genau in ein Büschel Haare, gleichzeitig ging das Licht an, ohne dass Inga den Schalter selbst gefunden hatte. Das Licht blendete sie so sehr, dass sie nichts mehr sah. Sie wollte schreien, aber es kam nur ein heiseres Krächzen aus ihrem Mund. Gleichzeitig zischelte es neben ihrem Ohr.
»Pscht, Schschscht.« Eine knochige kalte Hand schob sich über ihren Mund.
Inga schüttelte sich und drehte sich entschlossen um. Die kalte Hand zuckte zurück und Inga erkannte langsam Petra Anders schwarze Haare und ihr schmales Gesicht.
»Was soll das?« stieß Inga heiser hervor.
»Der Schlüssel kann uns beide befreien«, versuchte Petra die Lage zu erhellen.
Inga runzelte die Stirn: »Welcher Schlüssel?«
»Na, genau der, den du aus Herrn Dr. Langners Tasche gezogen hast. Ich habe es genau gesehen. Die haben schon mit mehreren Helfern die Zimmer inspiziert, deins auch, und zwar sehr lange, aber das Schlüsselbund wurde nicht gefunden. Was glaubst du, was das da draußen für eine Stimmung ist, noch dazu, wo Dr. Langner morgen seinen dreiwöchigen Urlaub beginnt.«
Inga war plötzlich hellwach, so wach wie schon seit Wochen nicht mehr.
»Das heißt, mit den Schlüsseln kann man dieses Gebäude tatsächlich verlassen?«
»Nun, nicht direkt, unten für den Ausgang braucht man eine Karte mit Pin, wie du eigentlich schon bemerkt haben solltest.«
»Bis gestern wusste ich nicht, dass ich als Gefangene hier lebe.« Sie spie Petra Anders diese Worte förmlich in das ausgemergelte Gesicht. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass die mich hier entmündigen lassen und mit Hilfe meines Mannes einsperren.« Bei dem Gedanken schossen Inga wieder Tränen in die Augen, diesmal aber vor Wut.
»Das ist bei mir ähnlich gelaufen, und ich war so blöd und habe meine kleine Chance verpasst, die du die nächsten Tage noch hast.«
Inga brauchte einige Sekunden und sah ihr Gegenüber dabei zweifelnd an. »Die Chance habe ich aber noch nicht bemerkt.«
Petra setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und erholte sich zwei schweigsame Minuten lang vom bisherigen Gespräch. Inga wartete ungeduldig, sie musste Petra die Verschnaufpause lassen. Es war sowieso ein Wunder, dass Petra zu einem richtigen Gespräch fähig war. Inga hörte von Ferne Schritte, eigentlich müsste regelmäßig jemand nach ihr schauen, während sie sediert war, überlegte sie. Schnell sprang sie aus dem Bett und schob einen kleinen Plüschhocker hinter das Kopfende ihres Bettes. Dann zog sie Petra am Arm zum Hocker und bedeutete ihr, sich darauf niederzulassen. Petra setzte sich ohne Widerspruch und Inga schlich durch den Raum, um festzustellen, aus welchen Positionen Petra noch zu erkennen war. Sie war ausreichend verborgen, befand Inga, legte sich wieder ins Bett und schaltete das Licht aus. Vor der Tür war es wieder leise. Es wäre doch schade, wenn ihre Unterhaltung zu schnell beendet werden würde.
»Und, welche Chance habe ich?« nahm Inga das Gespräch leise wieder auf.
Petra tat verschwörerisch. »Du musst mir erst etwas versprechen.«
»Ich?«
»Ja, Inga, ich habe nichts davon, wenn ich dich verpfeife, dann finden sie die Schlüssel, die auf dieser Station alle Türen und Schränke öffnen, und ich brauche sie unbedingt.«
Inga wusste nicht, worauf Petra hinaus wollte. »Was muss ich dir denn versprechen?«
»Dass du dir die Schlüssel von niemandem abnehmen lässt und dass du sie mir gibst, bevor du in wenigen Tagen offiziell dieses Haus verlässt.«
Inga beschlich ein leiser Zweifel, wusste Petra eigentlich, was sie da redete? Eine Tür klappte und quietschende Sohlen näherten sich leise und stetig. Sofort erstarb jede Unterhaltung im Raum.
Die Tür wurde geöffnet, Licht fiel vom Gang herein. Eine forsche Krankenpflegerin durchquerte sicher das Zimmer und zog den Rollladen hoch. Damit hatte Inga nicht gerechnet, vom Fenster aus war Petra leicht zu entdecken.
Die Krankenpflegerin arbeitete stupide ihre Aufgaben ab, sie stellte das Fenster auf Kipp, beugte sich kurz zu Inga hinüber um sich zu vergewissern, dass sie ruhig atmete und zog schnell wieder die Tür von außen zu.
Komisch, dass man als Mensch nur das wahrnimmt, was man auch erwartet, zumindest, solange man arglos ist, dachte Inga.
Im Nachhinein war ihr klar geworden, warum einmal auf Rainers Gepäckträger eine Aktentasche geklemmt hatte, als sie ihn durch den Park des Klinikums Ost fahren sah. An dem Tag hatte er die Unterlagen für die Entmündigung transportiert. Sie meinte sich auch daran zu erinnern, dass er an diesem Tag seinen schwarzen Mantel, die dunkle Hose mit dem feinen Stoff und die guten Schuhe getragen hatte. Aber sie war völlig arglos gewesen und hatte das herannahende Unheil nicht erkannt.
Inga riss sich zusammen, sie durfte jetzt nicht in Grübeleien abdriften und nahm das Gespräch nach der unfreiwilligen Pause wieder auf.
»Petra, ich verspreche dir alles, wenn du mir nur sagst, wie ich hier rauskomme.«
»Okay, ich werde es dir verraten, dann kann der Schlüssel uns beide befreien.«
Inga verstand nicht, wie Petra dieses Haus mit Zimmer- und Schrankschlüsseln verlassen wollte, aber sie hörte gespannt zu.
»Inga, du bist heute noch nicht entmündigt, das ist ein offizieller Akt, am Vormundschaftsgericht gibt es ein Verfahren dazu, es müssen Gutachten geschrieben und eingereicht werden, das dauert immer eine gewisse Zeit. Es heißt heute offiziell übrigens nicht mal mehr Entmündigung, sondern rechtlich Betreuung, läuft aber für dich auf das Gleiche hinaus. Doch solange das Verfahren nicht abgeschlossen ist, bist du noch dein eigener Herr, jeder Anwalt kann dich hier herausholen. Und mit dem Schlüsselbund hast du unbegrenzten Zugang zu Telefon und Faxgerät.«
Inga schluckte, sie schöpfte langsam wieder Hoffnung. Ein Telefon in einem verschlossenen Büro war gut, denn den Patienten ihrer Abteilung wurden auf Wunsch schnurlose Leihtelefone ausgehändigt, deren Funkreichweite sich lediglich auf einen kleinen Radius um den Aufenthaltsraum herum beschränkte. Das konnte man nicht unbedingt Privatsphäre nennen. Weitere Telefone waren wegen der Kabel und damit verbundener Selbstmordgefahren nicht vorhanden. Handys waren verboten, angeblich damit die medizinischen Geräte störungsfrei liefen.
Welchen Anwalt konnte sie anrufen? Am besten den alten Herrn Strecker, der schon damals für ihre Mutter die Testamentsangelegenheiten geregelt hatte. Sie musste nur aufpassen, dass Petra das Versteck der Schlüssel nicht erfuhr, sonst nahm sie diese noch an sich, bevor Inga gehen konnte.
Nach einer gedankenschweren Pause erklärte sie: »Das könnte gehen, Petra, gleich morgen früh werde ich Kontakt zu einem Anwalt aufnehmen.«
»Wir müssen unbedingt zusammenhalten, ich beobachte immer, ob die Luft rein ist, dann kannst du deine Befreiung in die Wege leiten. Bei mir wundert sich sowieso keiner, wenn ich reglos stundenlang im Flur sitze.«
Inga ließen diese Aussagen ein wenig frösteln, so kristallklar nahm Petra also ihren derzeitigen Zustand wahr. Sie spürte ein inniges Verlangen, Petra samt ihrem kalten Todeshauch auf Abstand zu halten.
»Jetzt musst du aber in dein Zimmer gehen, sonst entdeckt noch jemand, dass wir ab heute ein Team sind«, meinte Inga. Sie fürchtete insgeheim, dass Petra das Zimmer nicht mehr verlassen wollte, um dem Schlüsselbund auf die Spur zu kommen. Sie konnte sich denken, dass das Versteck hier sein musste.
»Hörst du nicht die Schritte auf dem Flur? Es ist jetzt fünf Uhr dreißig und die Reinigungskräfte sind bei der Arbeit, da komme ich schlecht ungesehen in mein Zimmer«, wiegelte Petra ab.
»In dein Zimmer vielleicht nicht, aber sicher aus meinem Zimmer raus, wenn du hierbleibst, findet dich die nächste Schwester, die in der Morgendämmerung nach mir sieht.«
Im Zimmer war es zwar noch ziemlich dunkel, aber Inga konnte im anhaltenden Schweigen fühlen, wie Petra mit sich rang.
»Du musst wirklich sehen, dass du hier wegkommst, sonst riechen die den Braten oder denken noch, du bist eine Gefahr für andere Patienten, weil du heimlich in fremde Zimmer schleichst. Nicht, dass sie dich noch die nächsten Wochen ganz wegsperren, dann wird das nichts mit unserer Freiheit.«
Inga fragte sich gerade wieder, wie Petra sich mit diesen Schlüsseln befreien wollte. Sie mochte jetzt aber nicht mehr mit ihr reden, sondern sie musste sie rechtzeitig aus dem Zimmer bekommen. »Los, Petra, du musst jetzt aufstehen, damit ich den Hocker wieder an Ort und Stelle rücken kann.«
Petra erhob sich schwerfällig und Inga zog den Hocker leise durch den Raum. Dann fasste sie Petra sanft an den Schultern und schob sie Richtung Tür. Bevor sie die Tür öffnete, horchte sie angestrengt. Es war wieder ganz still, die Reinigungskräfte würde man ganz sicher hören. Sie öffnete leise die Tür und schob Petra einfach nach draußen. Schnell drückte sie die Tür wieder zu und lehnte sich erschöpft dagegen. Jetzt merkte sie erst, wie wackelig sie noch auf den Beinen war. Hoffentlich blieb Petra nicht wie angewachsen vor der Tür stehen. Inga lauschte wieder und hörte nichts.
In der Hoffnung, dass alles gut ging, machte sie sich auf den Weg zur Toilette. Danach drückte sie auf den Spülknopf, hörte erleichtert, dass die Spülung durch die versenkten Schlüssel nicht blockiert wurde, und schleppte sich wieder ins Bett. Vorsichtshalber stellte sie ihren Wecker auf acht Uhr und schlief sofort wieder ein.
*
Um neun Uhr war Inga so weit. Sie hatte sich umgezogen, ordentlich gefrühstückt und sehnlichst auf Petra gewartet. Die Pflegekräfte hatten sie bisher unbehelligt gelassen. Als ihre Mitwisserin um halb zehn endlich im Speiseraum auftauchte, sah Inga das als Startsignal, den Schlüssel aus dem Spülkasten zu angeln. Für dieses Unterfangen hatte sie eine Gabel vom Frühstücksbüfett im Ärmel verschwinden lassen. Der Zeitpunkt war günstig, Petra brauchte mindestens zehn Minuten für ihren Kaffee und die meisten Angestellten der Station saßen zu dieser Zeit bei ihrer Frühstücksrunde im Büro am anderen Ende des Gangs.
Inga gelangte in ihr kleines Bad und begann, die Drückergarnitur zu demontieren, um die Schlüssel herauszuholen. Immer wieder unterbrach sie ihre Arbeit und vergewisserte sich, dass noch niemand in ihrem Zimmer war. Der Schweiß lief ihr aus allen Poren, denn Anstrengung, Schwäche und Aufregung schienen sich zu potenzieren. Sie hatte die Zinken der Gabel umgebogen, zum Glück waren die billigen Gabeln so weich, dass es ohne Zange ging. Nun steckte sie ihre Hand samt Handgelenk durch das Loch im Spülkasten und versuchte, den Schlüsselring anzuhaken, um ihn hochzuheben. Sie erwischte ihn aber nicht richtig und schob die Schlüssel nur hörbar hin und her. Zu schade, dass sie nicht etwas biegsamere Arme hatte, dachte sie. Ständig glaubte sie, Schritte in ihrem Zimmer zu hören und zuckte zusammen.
So fahrig würde sie es nie schaffen. Sie musste diesen Raum irgendwie absperren, damit sie ein Mindestmaß an Sicherheit hatte. Nur leider öffnete sich die Tür nach außen, sonst hätte sie leicht etwas in diesem schmalen Raum zwischen Tür und Wand klemmen können. Die Türklinke, dachte sie, dann musste sie eben die Türklinke von innen festbinden, vielleicht am Wasserhahn, der war genau gegenüber der Tür. Das könnte gehen.
Sie lief in ihrem Zimmer auf und ab und überlegte, womit sie die Tür zubinden konnte. Kabel gab es hier natürlich nicht, wo alles aus dem Weg geräumt war, womit sich lebensmüde Patienten aufknüpfen konnten. In ihrer Wut riss sie an der Klinke der Toilettentür. Da, die Klinke ließ sich etwas herausziehen, das bedeutete, die Arretierschraube hatte sich gelockert. Inga deutete es als gutes Zeichen, nun würde sie bestimmt auch alle weiteren Hürden auf dem Weg in die Freiheit nehmen. Sie benötigte nicht lange, um die Türklinke vollständig zu lockern und herauszuziehen. Glücklich hielt sie in jeder Hand eine Klinke, in einer steckte noch der viereckige Bolzen, der durch die Tür gesteckt werden musste. Das Ende ohne Vierkant legte sie in ihrem Zimmer auf den Boden. Sie schob es so nah es ging an die Tür ihrer Nasszelle, als mehr konnte man ihr Minibad nicht bezeichnen. Es sah aus, als ob die Klinke gerade abgefallen war, so konnte niemand die Tür auf Anhieb öffnen. Das andere Ende nahm sie mit ins Bad, steckte ihren kleinen Finger in das viereckige Loch, das sich an der Stelle auftat, an der sonst die Klinke angebracht war, und zog die Tür mit einem Ruck hinter sich zu.
Jetzt fühlte sie sich sicher und verbuchte das als ersten Punkt auf ihrer Seite. Ruhig griff sie zu ihrem Werkzeug, der verbogenen Gabel. Die Gabel hatte vier Zinken, vielleicht war sie zu breit, um damit das Schlüsselbund anzuhaken. Inga versuchte, drei Zinken weiter umzubiegen, damit sie nicht mehr im Wege waren. Alle drei brachen sofort ab. Na, auch gut, solange die letzte Zinke hält, dachte sie und tauchte ihre Hand wieder in das kalte Wasser des Spülkastens. Jetzt ging alles sehr schnell. Triumphierend zog sie die Schlüssel mit der Gabel nach oben. Schnell nahm sie ein Handtuch und trocknete das Schlüsselbund ab, anschließend ließ sie es in ihre Hosentasche gleiten. Für den Rest dieser Aktion benötigte sie nochmals gut fünf Minuten, dann hatte sie alles wieder in Ordnung gebracht und die Türklinke so gut es eben ohne Werkzeug ging wieder befestigt. Die Gabel hatte sie ganz weit oben in die dicken gewebten Ziervorhänge in ihrem Zimmer gehakt, dort war sie schnell zur Hand, aber trotzdem gut versteckt. Völlig erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett sinken.
Sie schreckte auf. Jemand rief leise »Inga, Inga« und schüttelte sie vorsichtig, aber unnachgiebig. Sie musste vor Erschöpfung kurz eingenickt sein, vielleicht waren das auch noch die Nachwehen der ganzen Beruhigungsmittel, dachte sie. Sofort schlug sie die Augen auf. Wie sie vermutet hatte, stand Petra an ihrem Bett. Inga setzte sich auf und bemerkte den störenden Druck, den das Schlüsselbund in ihrer Hosentasche verursachte. Wie leicht hätte Petra sie hintergehen können und sich die Schlüssel aus ihrer Hosentasche nehmen können, durchfuhr es Inga.
»Los, Inga, draußen ist es gerade ruhig, jetzt musst du telefonieren.«
»Ja, sofort, ich muss nur noch schnell um die Ecke«, antwortete Inga, »setz du dich doch schon vor Herrn Dr. Langners Büro, wenn er wirklich Urlaub hat, müssten wir dort doch ungestört sein.«
Petra verließ tatsächlich willig das Zimmer und Inga verschwand im Bad. Dort betrachtete sie die Schlüssel zum ersten Mal bewusst und stellte fest, dass nur ein Zimmerschlüssel dabei war, die anderen waren so klein, dass es sich nur um Schrankschlüssel handeln konnte. Sicher ist sicher, dachte Inga, drehte den Zimmerschlüssel vom Ring und steckte ihn durch den Ausschnitt ihrer Bluse in den BH. Sie schob ihn vorsichtig mit der rechten Hand in das linke Körbchen, so dass er dort einigermaßen sicher ruhte und nicht bei der nächsten Bewegung unter dem Gummizug herausrutschte. Sie bedauerte, dass sie nur so kleine, Brüste hatte, in einem größeren Körbchen ließe sich der Schlüssel sicher viel besser unterbringen. Die Schrankschlüssel steckte sie wieder in ihre Hosentasche und gleich darauf verließ sie ihr Zimmer.
Es fühlte sich einen Hauch spannend und angenehm aufregend an. Mit dem Schlüssel fühlte sie sich sicher und sie zweifelte nicht daran, dass sie hier einen triumphierenden Abgang machen würde. Schade nur, dass Langner Urlaub hatte und nichts davon mitbekam. Inga hatte sich seit den Urlaubstagen am Lago Maggiore nicht mehr so leicht und gut gefühlt, auch nicht, wenn sie eine ihrer vielen Pillen geschluckt hatte. Sie dachte, es ist doch tatsächlich so, dass der Mensch eine Aufgabe braucht, der er sich stellt und schon geht es ihm viel besser. An speziellen Aufgaben in der kommenden Zeit sollte es ihr nicht mangeln.
Vor Dr. Langners Büro traf sie auf Petra, die stumm Wache saß. Mit einem Kopfnicken gab sie ihr zu verstehen, dass die Luft rein war. Inga wandte sich der Tür zu, zog schnell den Schlüssel aus ihrem BH, so dass Petra den aktuellen Aufbewahrungsort nicht sah, und öffnete unter heftigem Herzklopfen die Tür. Das passte. Sie zog den Schlüssel ab und Petra murmelte noch: »Immer, wenn jemand kommt, huste ich, wenn keine Gefahr mehr besteht, rutsche ich zur Entwarnung mit dem Stuhl hin und her, das hörst du drinnen ganz sicher.«
»Okay, ich schließe vorsichtshalber von innen ab, wenn jemand ins Zimmer kommen sollte, muss ich mich eben verstecken. Vielleicht unter dem Schreibtisch«, kicherte Inga albern. Die ganze Aktion machte ihr langsam Spaß.
Drinnen stürzte sie sich sofort auf das Telefon und hob den Hörer ab. Erleichtert vernahm sie das Freizeichen und setzte sich auf den bequemen Bürostuhl mit Kopfstütze. Wie gut, dass sie direkt nach draußen telefonieren konnte, ohne vorher eine Ziffernkombination einzugeben. Der Stuhl sah so aus wie einer der besonders teuren Bürostühle aus dem Katalog, den Rainer im Frühjahr von der Arbeit mitgebracht hatte, als in seiner Abteilung neue Büromöbel angeschafft werden sollten. Na, kein Wunder, wenn man hier das finanzielle Fingerspitzengefühl verloren hatte, dachte Inga. Im Krankenhaus Ost hatte es vor einigen Jahren einen Skandal um einen betrügerischen Geschäftsführer gegeben, der maßgefertigte Rollschränke mit elektronischer Hightech-Ausstattung bestellt hatte, die von der Größe her nicht mal in die Krankenzimmer passten. Diese Schränke waren nicht nur hoffnungslos überteuert gewesen, der Geschäftsführer wollte auch noch über Umwege gut an diesem Geschäft mitverdienen. Nachdem man im Vorfeld viele Warnhinweise übersehen hatte, wurde gerade noch rechtzeitig die Notbremse gezogen. Der Geschäftsführer wanderte tatsächlich ins Gefängnis und nach langwierigen Gerichtsverfahren konnte die Krankenhausgesellschaft sogar die Abnahme der Rollschränke verweigern, so dass sich der Schaden in Grenzen hielt. Inga schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, dass sich solche Affären immer wiederholten, wo doch schon das Klinikum Bremen Mitte Jahre zuvor ebenfalls finanziell von einem betrügerischen Leiter ausgebeutet worden war.
Im Flur hustete Petra, Inga schrak aus ihren Grübeleien auf. Sie hielt den Atem an und horchte angestrengt. Jetzt hörte sie wieder die typischen quietschenden Schritte, die sich langsam näherten. Vorsichtshalber ging Inga schon mal auf Tauchstation hinter der Liege, die dem Schreibtisch gegenüberstand. Nun hörte sie von draußen nichts mehr. Eine Tür klappte in einiger Entfernung und erleichtert vernahm Inga einen über den Boden schabenden Stuhl im Flur. Das war Petras Entwarnung.
Jetzt musste sie die Auskunft anrufen, denn ein Telefonbuch stand nirgends in den Regalen und Inga wollte keine Zeit damit verschenken, die Türen der Büroschränke aufzuschließen.
Sie sah sich nach Papier und Stift zum Notieren der Telefonnummer um. Der Schreibtisch war vollständig abgeräumt, aber in einem offenen Regalfach hinter ihr türmten sich Werbeartikel verschiedener Pharmaunternehmen. Sie wählte einen Notizklotz von riopharm und einen Kugelschreiber von Boyar.
Die Nummer der Auskunft wusste sie auswendig, seit Verona Feldbusch die spezielle Werbung mit da werden sie geholfen gemacht hatte. Inga fiel ein, dass Verona schon lange nicht mehr Feldbusch hieß und ihr Werbewert durch die Finanzaktionen ihres Mannes nachhaltig beschädigt worden war. Das Leben war eben eine Achterbahnfahrt und ihr eigenes Leben sollte jetzt noch mal richtig an Fahrt aufnehmen, gespannt wählte sie die Nummer der Auskunft. Nun ging es ganz schnell, die Nummer von Herrn Strecker wurde angesagt und Inga ließ sich gleich weiterverbinden. Leider wurde der Rechtsanwalt Strecker erst heute Nachmittag ab vier wieder im Büro erwartet.
»Soll Herr Strecker zurückrufen? «, fragte die Frau am Telefon.
»Nein, danke«, stotterte Inga, »ich melde mich nachher noch mal.« Darauf war Inga nicht eingestellt gewesen. Nun musste sie wieder warten, oder sollte sie einen anderen Anwalt anrufen, fragte sie sich. Aber sie hatte sonst noch nie einen Rechtsbeistand benötigt und einer der sie nicht kannte, würde ihr am Ende nicht trauen und sie hier versauern lassen. Also hieß es warten.
Sie legte den Block wieder ins Regal zurück, steckte den Zettel mit der Telefonnummer und auch den Kugelschreiber ein, dann machte sich auf den Weg zur Tür. Das Faxgerät, erinnerte sie sich, Petra sagte etwas von einem Faxgerät. Vielleicht muss ich etwas unterschreiben, das kann ich schnell und unkompliziert per Fax erledigen, falls ich das Gerät finde und auch bedienen kann.
Inga verbrachte die folgenden zehn Minuten mit dem Faxgerät, das betriebsbereit auf einem kleinen Tischchen rechts hinten in der Ecke des Raumes stand. Sie studierte die auf das Gerät geklebte Kurzanleitung genau und suchte die genannten Tasten. Sie fand auch den Einschubschlitz für das Papier und merkte sich, dass die Rückseite ihres Dokuments nach oben zeigen musste, wenn sie ihr Fax absenden wollte. Wie zu Hause dachte sie, die Faxnummer musste sie sich also auf einen Extrazettel notieren, da sie auf ihrer eingelegten Vorlage nicht zu sehen sein würde. Wieder etwas, was man viel besser und nutzerfreundlicher gestalten konnte, wahrscheinlich fehlten in den Entwicklungsabteilungen Frauen, die ihr Augenmerk auf das Praktische richteten. Zuletzt notierte sie noch die Rufnummer des Faxgeräts auf dem riopharm–Zettel und ging Richtung Tür. Mehr konnte sie jetzt nicht ausrichten. Petra hatte nicht wieder gehustet, sie müsste das Zimmer also ungestört verlassen können.