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So ist zum Beispiel ein ganz erstaunlicher Fortschritt hinsichtlich der wissenschaftlichen Erkenntnis über sexuelle Reaktionen als solche und über den menschlichen Fortpflanzungsprozess zu verzeichnen. Während das Ovum schon (oder erst, je nachdem) 1828 entdeckt wurde, war noch bis ins 20. Jahrhundert unklar, wie der aktive physiologische Beitrag des weiblichen Partners im Fortpflanzungsprozess eigentlich aussieht. In den Jahrhunderten davor pflegte man das Bild eines männlichen »Samens« und eines weiblichen »Nährbodens«, was wiederum die Ansicht stärkte, der Mann sei bei der Fortpflanzung und ganz allgemein in sexuellen Beziehungen überwiegend aktiv, die Frau dagegen passiv.1

Im 20. und 21. Jahrhundert hat nicht nur die Biologie für neue Erkenntnisse gesorgt, sondern auch die Psychologie, Ethnologie und Soziologie2 – und das nicht nur in Bezug auf die Interaktion zwischen Mann und Frau, sondern auch in vielen anderen Punkten. In der neuen Disziplin der »Sexualwissenschaft«3 kamen viele traditionellere Disziplinen zusammen, um Bedeutung und Praxis der Sexualität sowie ihre ökonomischen und politischen Implikationen zu erforschen. Auf der Grundlage von Laborversuchen und Feldforschung, von psychiatrischen Fallanalysen und dem Zusammentragen von Daten zu sexuellen Praktiken hat die sozialwissenschaftliche Forschung stark zugenommen. Wie umstritten einige der Studien im Einzelnen auch sein mögen, sie haben vorherige pseudowissenschaftliche Anschauungen erfolgreich zurückgedrängt, zum Beispiel das Risiko des Wahnsinns durch Masturbation, die Unnatürlichkeit homosexueller Praktiken bei Tieren (und damit beim Menschen), die Fruchtbarkeit der Frau während ihrer Menstruation und so fort. Keine dieser Erkenntnisse konnte für sich genommen die traditionellen sexuellen Normen zu Fall bringen, aber ihre Geltung wurde entschieden geschwächt. Wenn zum Beispiel Alfred Kinsey recht (oder annähernd recht) hatte, dass 95 Prozent der männlichen Bevölkerung der Vereinigten Staaten und 70 Prozent der weiblichen Bevölkerung autoerotische Handlungen vornehmen, ist es schwer vorstellbar, dass Masturbation zu Krankheit und Wahnsinn führt (was zuvor geglaubt oder zumindest behauptet wurde). Und sofern William Masters und Virginia Johnson die physiologischen Reaktionen sowohl von Männern als auch von Frauen akkurat aufgezeichnet haben, ist das Ideal von männlicher Aktivität und weiblicher Passivität nicht mehr haltbar. Während die Biologie der menschlichen Fruchtbarkeit zunehmend besser verstanden wurde, ist die Behauptung, dass jegliche sexuelle Aktivität der Fortpflanzung zu dienen habe, zunehmend in Zweifel gezogen worden.

Interkulturelle Studien haben die große Variationsbreite sexueller Verhaltensmuster in den unterschiedlichen Kulturen festgestellt. Was in der westlichen Gesellschaft als abweichend angesehen wurde, erwies sich in anderen Gesellschaften als erlaubt und sogar akzeptiert. Berichte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zeigten zum Beispiel, dass in 49 von 76 Gesellschaften homosexuelle Aktivitäten verschiedener Art für bestimmte Angehörige der Gemeinschaft als normal betrachtet wurden. Masturbation gab es bei beiden Geschlechtern in fast jeder Gesellschaft überall auf der Welt. Es fanden sich keine einheitlichen Normen für vorehelichen oder außerehelichen Sex.4 Für sich genommen konnten solche Informationen die traditionellen westlichen Normen wiederum nicht zu Fall bringen, aber sie trugen dazu bei, etliche Normen, die zuvor als absolut und allgemein betrachtet wurden, zu relativieren. Mit jedem weiteren Jahrzehnt haben interkulturelle Studien den Glauben an die gesellschaftliche Konstruktion sexueller Normen weiter gestärkt: Unsere Normen sind nicht wesensmäßig mit uns verknüpft, sondern werden von den Kräften innerhalb einer gegebenen Gesellschaft geprägt.

Auch historische Studien haben dazu beigetragen, sexuelle Normen zu relativieren und zu schwächen. Allein die Enthüllung, dass sexuelle Vorschriften eine Geschichte haben, hat ihre Kontingenz aufgezeigt. Dass etwa die Ethik der Fortpflanzung ebenso auf der stoischen Philosophie basiert wie auf der Bibel, hat vielen Christen gestattet, ihre Gültigkeit infrage zu stellen. Die Belege für eine alternative Sexualmoral und die tatsächlichen Praktiken in vergangenen Gesellschaften führten zu der Erkenntnis, dass die sexuellen Sitten veränderlich sind.5 Mit dem Ziel, zeitgenössische Anschauungen besser zu verstehen, haben Historiker nach den Wurzeln und Entwicklungen dieser Anschauungen gesucht und sind dabei selten auf vernünftige oder logische Grundlagen gestoßen.

Zusätzlich zu den Entwicklungen in den theoretischen Disziplinen war die Stärkung des weiblichen Selbstbewusstseins – besonders in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – ein signifikanter Faktor bei der Lockerung traditioneller Sexualnormen. Das neue Selbstverständnis von Frauen hat eine enorme Auswirkung auf die Wahrnehmung von sexuellen Normen gehabt. Viele Jahrhunderte, in denen eine von Grund auf falsche Weltwahrnehmung dem Sexismus – trotz gegenläufiger Tendenzen in allen großen religiösen und philosophischen Bewegungen – zur Blüte verhalf, ließen viele Frauen an der Gültigkeit fast aller früherer Lehren zu den Grundsätzen der Sexualmoral zweifeln. Frauen haben die Irrationalität sexueller Tabus unmittelbar erfahren; so meinte Freud in Bezug auf den Glauben, Menstruation, Schwangerschaft und Geburt stellten eine Verunreinigung dar: »… beinahe könnte man sagen, das Weib sei im Ganzen tabu.«6 Ökonomische und soziale Veränderungen haben mit verschiedenen Formen der Bewusstseinsbildung zusammengewirkt und damit Frauen neue Perspektiven auf alte Fragen vermittelt. Doppelmoral, repressive genderspezifische soziale und politische Strukturen, männliche Interpretationen der weiblichen Sexualität, die medizinische und soziologische Beschreibung von unerreichbaren Idealen und destruktiven Rollenbildern – all diese Erfahrungen haben viele Frauen dazu gebracht, traditionelle sexuelle Anschauungen und Verhaltensweisen radikal infrage zu stellen.

Neben der Frauenbewegung führte auch das Entstehen der Schwulenbewegung zu einer völlig anderen öffentlichen Wahrnehmung von sexuellen Praktiken, die zuvor für unannehmbar gehalten wurden. Was weitgehend verborgen war, ist sichtbar geworden, und das selbstbestimmte Outing von Schwulen und Lesben in Familien, Vereinen, Kirchen und am Arbeitsplatz trug zur nachhaltigen Stärkung einer Bewegung bei, die ansonsten möglicherweise klein geblieben wäre.7 Natürlich gibt es immer noch viele Unbelehrbare, aber die – wenn auch zögerlich vollzogene – öffentliche Anerkennung von Schwulenrechten (vom Recht auf Gleichbehandlung bis zu eingetragenen Partnerschaften und gleichgeschlechtlichen Ehen) spiegelt im Großen und Ganzen die Toleranz alternativer Ansichten zur menschlichen Sexualität und die Erschütterung früherer Überzeugungen zur Sexualmoral im Allgemeinen wider. Die Unbeständigkeit der öffentlichen Meinung in Fragen der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften enthüllt vielleicht sogar besser als alles andere, wie sehr die Dinge in Bewegung geraten sind.

Für all diese Entwicklungen kann die Bedeutung der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die weitverbreitete Verfügbarkeit von wirksamen Kontrazeptiva erlaubte zum ersten Mal die Trennung von heterosexuellem Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft. Und trotz aller Rückschläge – vor allem aufgrund von AIDS – haben medizinische Entwicklungen in Prävention und Behandlung auch dazu geführt, sexuelle Aktivität und das Auftreten von Infektionskrankheiten weitgehend zu entkoppeln. Die Entwicklung reproduktiver Techniken hat vorher unfruchtbaren Paaren, aber auch fruchtbaren Einzelpersonen Möglichkeiten des Kindergebärens geschenkt, die bislang unvorstellbar waren. Viele Arten von sexuellen Funktionsstörungen sind durch Medikamente oder andere Therapien behandelbar geworden.

Wie interessant es auch ist, über den Beitrag dieser und anderer Faktoren bei der Relativierung von sexuellen Normen zu spekulieren: Die Probleme, vor die uns unsere Sexualität stellt, können sie nicht lösen. Genau genommen stellen sie uns sogar vor neue ethische Herausforderungen.8

Von den offensichtlich negativen Entwicklungen war damit noch gar nicht die Rede. Alle hier angesprochenen Entwicklungen haben das Potenzial, uns zu wirklicher Freiheit und Wohlbefinden in der sexuellen Sphäre zu verhelfen. Es ist schließlich eine gute Sache, von irrationalen Tabus erzeugte Angst und Scham zu überwinden und eine auf Unwissen beruhende Selbstgefälligkeit hinter sich zu lassen. Es ist auch gut, Klarheit über solche sexuellen Beziehungsmuster zu erlangen, die verletzend und ungerecht sind. Dennoch haben uns diese Entwicklungen zwangsläufig zu weiteren Fragen geführt. Wir brauchen die Erkenntnisse der Biologie und Psychologie, der Ethnologie, Soziologie, der Wirtschaftstheorie und Geschichte; und wir brauchen auch den befreienden Einfluss der sozialen Bewegungen. Aber wir brauchen noch mehr. Individuen und Gesellschaften stellen sich weiterhin drängende Fragen: Wie geht es von hier aus weiter? Wie gehen wir mit den noch existierenden Problemen im sexuellen Bereich um? Können wir unser neues Wissen und die vielen neuen Handlungsmöglichkeiten in jene Weltanschauungen integrieren, die unserem ganzen Leben einen Sinn geben? Wenn wir nicht mehr auf den Kompass traditioneller Normen zählen können, an wen wenden wir uns, wenn wir uns nach Rat und Führung sehnen? Nicht nur die Wissenschaftler haben über diese Fragen nachgedacht. Sie lagen auch in der Verantwortung von Gesetzgebern, Gerichten und Glaubensgemeinschaften. Letztere wurden wiederum stark von den Erkenntnissen und Argumenten der Philosophen und Theologen beeinflusst. Um zu verstehen, wo wir uns befinden und warum, müssen wir deshalb auch auf die Entwicklungen in diesen Disziplinen schauen.

Verdammter Sex

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