Читать книгу Verdammter Sex - Margaret A. Farley - Страница 9
Der Weg
ОглавлениеDie Geschichte der Sexualethik ist in westlichen Gesellschaften weit gehend eine Geschichte eindeutiger Regeln oder zumindest Ideale. Natürlich hat es auch in der Vergangenheit Uneinigkeit über sexuelle Sitten gegeben, und die Geschichte kennt zahllose Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis. Abhängig von Zeit und Ort wurden die ethischen Normen für sexuelle Beziehungen und Aktivitäten verschieden formuliert. Darüber hinaus spiegelten sich in ihnen stets kulturelle und klassenbedingte Unterschiede. Aber im Großen und Ganzen ist die Entwicklung unserer Sexualmoral doch von Klarheit und augenscheinlicher Kontinuität gekennzeichnet.
In der westlichen Kultur (aber auch anderswo) werden heute jedoch die traditionellen Regeln für sexuelles Verhalten auf die eine oder andere Weise infrage gestellt. Lange anerkannte Verpflichtungen und Verbote werden beispielsweise von staatlicher Seite neu ausgehandelt, und religiöse Traditionen geraten zunehmend unter Druck. Das Problem ist nicht bloß im Gegensatz von Traditionalismus und radikalem Veränderungswillen begründet. Vielmehr hat eine umfassende Erschütterung der sexuellen und moralischen Sitten eine Verwirrung und den Wunsch nach Selbstversicherung in diesen quälenden menschlichen Fragen erzeugt. Lange für selbstverständlich gehaltene Überzeugungen sind wieder zu offenen Fragen geworden. Angefangen mit der Fortpflanzung über die destruktiven Elemente in sexuellen Beziehungen bis hin zur Frage, wie die Sexualität in unseren Alltag integriert werden kann und wie wir die gesunde psychosexuelle Entwicklung von Kindern gewährleisten. So intensiv wie niemals zuvor machen wir uns Gedanken über die Konsequenzen von sexueller Gewalt, die Sexindustrien, sexuelle Belästigung und genderbedingte Machtverhältnisse, die grassierende Bindungslosigkeit und die offenbar weitverbreitete Hilflosigkeit bei der Suche nach Vertrautheit. Obwohl einige Personen und Gruppen klare Antworten auf diese Fragen zu haben scheinen, trifft das auf viele andere nicht zu.
All dies hat vielfältige Gründe. Es geht ganz sicher nicht an, dem sogenannten Liberalismus und seinen vermeintlichen Nachkommen, dem Materialismus und Hedonismus, die gesamte Schuld in die Schuhe zu schieben. Und auch die sexuelle Revolution ist mitsamt ihren Widersprüchen nicht aus dem Nichts gekommen. Es waren die vielfältigen und tief greifenden ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen des 20. und 21. Jahrhunderts, die den Zugang zum Wissen verbreitert, die praktischen Möglichkeiten für eine sexuelle Selbstbestimmung geschaffen und damit das sexuelle Verhalten insgesamt beeinflusst haben. Ohne allzu stark zu vereinfachen, ist es möglich, einige maßgebliche Entwicklungen zu bestimmen. Eine Flut von Studien zur Sexualität (nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch philosophische, historische, psychologische, anthropologische und literarische) hat uns die gesamte Breite von Verhaltens- und Beziehungsmustern vor Augen geführt, und wir tendieren dazu, diese Entwicklungen für selbstverständlich zu nehmen. Dabei vergessen wir leicht, wie neu viele von ihnen sind und wie komplex sie die menschliche Erfahrung gestalten. Trotz der Gefahr, Bekanntes zu wiederholen, lohnt es sich, an einige dieser Entwicklungen zu erinnern.