Читать книгу Verdammter Sex - Margaret A. Farley - Страница 18
Fortschrittsgeschichten
ОглавлениеFoucaults und MacKinnons Interpretationen der Geschichte der Sexualität und Sexualethik bestreiten die Leistung – wenn auch nicht die Möglichkeit – des Fortschritts. Weiterentwicklungen im Verständnis von Sexualität stehen sie kritisch gegenüber, und auch die Gegenwart halten sie keineswegs für aufgeklärt und frei. In gewissem Maße weisen sie sogar die Idee des historischen Wandels zurück – Foucault mit seinem Eintreten für andere, aber nicht kausal oder ideell verbundene historische Perspektiven; MacKinnon mit ihrem Fokus auf die Zeit überdauernde Gegebenheiten, die eine Unfähigkeit zur Veränderung belegen. Andere Forscher jedoch haben in der Geschichte der sexuellen Vorstellungen und der moralischen Normen zur Regulierung des Sex einen bedeutenden Fortschritt erkennen wollen. Hierher gehören jene, die glauben, dass moderne sexuelle Revolutionen Individuen und ihre sexuellen Möglichkeiten befreit haben. Hierher gehören auch Historiker, die Fortschritte in Biologie und Psychologie für substanziell halten und einer Anpassung der philosophischen und theologischen Ethik das Wort reden. Wieder andere wollen zwar nicht von Fortschritt sprechen, konstatieren aber trotzdem evolutionäre Veränderungen. Zu den wichtigsten Autoren, die solche Veränderungen beschreiben und interpretieren, gehören Edward Shorter, John D’Emilio, Estelle Freedman und Richard Posner.
Die historischen Narrative dieser Wissenschaftler haben zwei Din ge gemeinsam: ein starkes Interesse an ökonomischen Entwicklungen und die Hinwendung zu anderen Quellen als den traditionellen philosophischen und theologischen Diskursen. Bevölkerungsstatistiken, Erwerbsmuster, private Tagebücher und Erinnerungen, ärztliche Aufzeichnungen, kirchliche und standesamtliche Verzeichnisse von Eheschließungen, Geburten, Kindersterblichkeit und so fort – all diese Quellen dokumentieren wichtige Veränderungen der sexuellen Anschauungen. In Shorters Die Geburt der modernen Familie ist die Geschichte der westlichen Familie seit dem 17. Jahrhundert eine Geschichte der zerstörten Bindungen.15 Unter dem Einfluss des modernen Kapitalismus verlieren Familien das Interesse an traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen und der Interaktion zwischen den Generationen und im Rahmen von größeren Lebensgemeinschaften. Romantische Liebe und eine intensive Mutter-Kind-Bindung gewinnen die Oberhand; die enge Intimität der Kernfamilie und »hohe Mauern um ihre Privatsphäre« sorgen für eine eigene, isolierte Welt.16 Die Familie wird so von einer produktiven und reproduktiven Einheit zu einer emotionalen Einheit, die individuelle Freiheit und Erfüllung verspricht. Bei Shorter endet die Geschichte ironisch mit der Destabilisierung der Partnerbindung und der »Zerstörung des Nestes«, sowohl die Frauen als auch die Kinder treibt es fort.17
D’Emilio und Freedman legen in Intimate Matters den Schwerpunkt auf die Geschichte der Sexualität in den Vereinigten Staaten.18 Sie versuchen, ihre eigenen Forschungen mit den Ergebnissen spezialisierterer Untersuchungen zu verbinden, um ein »synthetisches Narrativ« zu schaffen.19 Sie schildern den Wandel von kolonialen, familienzentrierten Reproduktionsordnungen zu »romantischen, intimen und doch konfliktgeladenen« Ehen im 19. Jahrhundert bis hin zur zeitgenössischen »kommerzialisierten« Sexualität, in der »sexuelle Beziehungen mit der Erwartung verbunden werden, über die Reproduktion hinaus persönliche Identität und individuelles Glück bereitzustellen«.20 Die Geschichte endet in der politischen Krise: Die scheinbare Befreiung der Sexualität von den institutionellen Zwängen findet keinen gesellschaftsweiten Konsens, und die kontrovers geführten Debatten der Gegenwart zeigen, wie anfällig die sexuelle Sphäre für Konflikt, Verwirrung und Manipulation ist.
In Sex and Reason konstruiert Richard Posner ein Narrativ des Wandels, das auf einer »ökonomischen Theorie der Sexualität« basiert, wie er sie nennt.21 Posner bemüht überwiegend ökonomische Analysen, sowohl um die gesellschaftliche Praxis zu beschreiben als auch um die entsprechenden rechtlichen und ethischen Normen zu evaluieren. Es gebe, argumentiert er, drei Phasen in der Evolution der Sexualmoral, die mit dem Status von Frauen in ihrer jeweiligen Gesellschaft korrelieren. In Phase eins hat die Frau lediglich die Aufgabe, für Nachwuchs zu sorgen. In diesem Fall ist eine partneschaftliche Ehe sehr unwahrscheinlich, während Praktiken, die als »unmoralisch« gelten, vermutlich florieren (zum Beispiel Prostitution, Ehebruch, homosexuelle Beziehungen). Die zweite Phase beginnt, wenn die Frau über die Kinderaufzucht hinaus zur Gefährtin des Ehemannes wird: Jetzt ist eine partnerschaftliche Ehe möglich, und deshalb werden »unmoralische« Praktiken, die sie gefährden, vehement verurteilt. Wenn die partnerschaftliche Ehe als bevorzugtes und vielleicht einziges Modell für alle idealisiert wird, werden Gesellschaften sittenstreng in dem Bestreben, die Ehe zu fördern und zu schützen. In Phase drei erweitert sich die Rolle der Frau noch einmal und schließt Erwerbstätigkeit ein. Die Zahl der Ehen verringert sich, aber wo es sie gibt, sind sie partnerschaftlich. Andere Formen von sexuellen Beziehungen, die zuvor als »unmoralisch« galten, erscheinen jetzt nicht mehr unmoralisch oder anormal.
Es hat natürlich Kritiker dieser Fortschrittstheorien gegeben. Kritisiert wurden etwa die Auswahl und Interpretation der empirischen Daten, aber auch der theoretische Rahmen der Arbeiten.22 Angesichts des Interesses an dieser Art von Sozialgeschichte haben sich solche Studien in den letzten beiden Jahrzehnten jedoch vervielfacht, wobei häufig sozialwissenschaftliche Methoden mit einer Untersuchung historischer Diskurse über Sex verbunden werden. Literatur und bildende Kunst werden ebenso berücksichtigt wie Bevölkerungsstatistiken und philosophische Abhandlungen. Viele dieser Untersuchungen fügen sich zu großen Rahmenerzählungen, obwohl das gar nicht ihre Absicht ist. Ihr Schwerpunkt liegt häufig eher auf Lokalgeschichtlichem oder bestimmten Aspekten der menschlichen sexuellen Erfahrung – homosexuelle Beziehungen, Prostitution oder sexuelle Aktivitäten von Heranwachsenden.
Ohne die Schwierigkeiten und die besonderen Möglichkeiten der historischen Forschung zu unterschätzen, möchte ich im Folgenden einen kurzen Überblick über die Geschichte der Sexualmoral wagen. Recht verstanden kann uns diese Geschichte nicht nur als Hintergrund oder Genealogie aktueller Vorstellungen dienen, sondern auch als Diskussionspartner auf der Suche nach einer zeitgemäßen Sexualethik.