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Jacqueline 2 Von Frostbeulen und fauligen Kohlrüben

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22 août 1941

Dies wird eine kurze Eintragung, denn ich habe zwei Nächte lang nicht geschlafen. Wir sind alle mit Papas altem copain Georges aufs Land bei Fontainebleau gefahren, um auf zwei Bauernhöfen, wo Georges die Leute kennt, so viel Nahrungsmittel wie nur möglich zu kaufen. Es war heiß, und Maman ging nicht zur Arbeit, also beschlossen wir, fast eine Landpartie daraus zu machen. Der Zug war völlig überfüllt mit anderen, die genau das Gleiche taten, mit unzähligen Taschen und Rucksäcken, die wir alle mit Vorräten vollstopfen wollten. Bohnen- oder Kartoffelzüge werden sie genannt.

In diesen Zeiten ist außer den Deutschen und jenen, die ihnen nachlaufen und ihnen schöntun und ihnen dienen, niemand auch nur das kleinste bisschen elegant. Im Winter watscheln wir alle unter so vielen Schichten von Pullovern und Schals und Strickjacken und Strümpfen umher, wie wir uns nur überzwängen können, denn uns fehlt Heizmaterial, und wir sehen alle zunehmend schäbig aus, denn es herrscht Mangel an neuer Kleidung, die rationiert und meistens nicht zu kriegen ist (für uns; die Deutschen und ihre Kollaborateure prunken). Zu allen Jahreszeiten gehen wir mit leeren Einkaufstaschen durch Paris, um uns stundenlang für eine Handvoll alte Bohnen oder ein Glas Marmelade anzustellen. Niemand fährt Auto außer den Deutschen. Fahrräder sind die Lebensader, und wenn ein Schlauch kaputtgeht, muss man ihn reparieren, um zu überleben. Also standen die Menschen in dem Zug wie die Ölsardinen und beobachteten einander und überlegten, was jeder an Essbarem hamstern wollte und was er dafür eintauschte. Wir hatten ein paar Stücke Seife und ein Stück leicht räudigen, aber immer noch warmen Biberpelz, den jede geschickte Hausfrau zu einem Muff verarbeiten oder auf einen Mantelkragen nähen kann, und eine gute wollene Hose von Papa, die wir äußerst ungern weggeben, aber wir hatten Angst, sie würde von den Motten zerfressen. Wer weiß, wann wir Papa wiedersehen? Im Mai hat er sich einen Ausweis auf den Namen eines Toten gekauft, um in die unbesetzte Zone zu gelangen und eine von uns über Marseille nach Amerika zu schicken. Ich weigerte mich zu gehen, weil ich für mein bac lernte, das ich mit fliegenden Fahnen bestanden habe. Papa hat stattdessen Nadine mitgenommen, und wir haben ihn seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl wir regelmäßig von ihm hören.

Als wir heute zurückkamen, herrschte heilloses Durcheinander. Während wir fort waren, haben die Nazis das gesamte Elfte Arrondissement abgeriegelt, die Metrostationen geschlossen und sind eingerückt. Sie haben Juden auf den Straßen verhaftet, in Cafés und Restaurants, beim Anstehen in den Schlangen – wir tun ja tagaus, tagein nichts anderes – und sogar in ihren Wohnungen. Die Balabans sind spurlos verschwunden. Zwei Tage lang bin ich für Maman in Paris herumgerannt, denn sie weinte und weinte, und habe herauszufinden versucht, was man mit ihnen gemacht hat.

24 août 1941

Heute habe ich erfahren, dass die Balabans in einer Art Lager in Drancy sind, einem Eisenbahnknotenpunkt nur ein paar Kilometer außerhalb von Paris. Maman ist sehr erleichtert zu wissen, wo sie sind. Wir müssen sie aufsuchen und fragen, was sie brauchen. Ihre Wohnung ist verwüstet, alles auf den Boden geworfen und aufgeschlitzt. Nachbarn sagen, das war die Polizei. Wenn sie nach den sagenhaften Reichtümern gesucht haben, die solche Kerle bei Juden immer zu vermuten scheinen, dann haben sie umsonst gewühlt, denn die Balabans besaßen kaum mehr als die Kleider am Leibe und ein paar wackelige Möbelstücke vom Trödler.

26 août 1941

Es wird immer übler. Vor etwas mehr als einer Woche kam es zu Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei – sowohl gendarmes als auch deutsche Polizei – an der Porte Saint-Denis und der Porte Saint-Martin, und viele Leute wurden verhaftet, obwohl sich die Demonstrationen nicht von hundert anderen unterschieden, wie sie für jeden, der die letzten zehn Jahre in Paris gelebt hat, zum normalen Alltag gehören! Jedenfalls haben die Deutschen zwei von den Verhafteten hingerichtet. Um den einen machen sie besonderes Trara, weil er Jude ist, und sie setzen ihn in großen Lettern auf alle Plakate als »DER JUDE SZMUL TYSZELMAN«.

Henri sagt, das ist nur der Nazi-Wahn, und die Leute werden sie irgendwann auslachen, und dann kommt es zu Massenungehorsam, aber mir ist seine Einstellung dieser Tage zu optimistisch. Er hat mir heute ein wunderschönes Geschenk gebracht – fünf Kilo Kartoffeln und ein kleines Stück Hammelfleisch. Maman war außer sich vor Freude, obwohl ihre zweite Frage natürlich war: Schläfst du mit ihm? Wenn ich es täte, Maman, habe ich gesagt, vielleicht hätte er mir dann ein größeres Stück Hammelfleisch geschenkt! Sie holte aus, als wollte sie mich ohrfeigen, aber dann tat sie es nicht, weil sie in Wahrheit viel zu glücklich über das Hammelfleisch war und auch über die Kartoffeln.

Der Bruder seiner Mutter hat 25 Kilometer Richtung Norden einen Bauernhof, also ist er am Samstag mit dem Fahrrad hingefahren und am Sonntag mit Paketen beladen zurück. Wir hatten heute Abend ein Festessen, und Maman wird es über die nächsten zwei Tage strecken. Es ist so lange her, dass wir etwas anderes zu essen hatten als Suppe aus Viehfutter und Kräuterextrakt und ein bisschen verfaultem Gemüse, Bohnen Bohnen Bohnen Bohnen Bohnen und hin und wieder ein dünnes Scheibchen Käse, heruntergespült mit Ersatzkaffee und Kräutertees. Ab und an pro Person ein Ei.

Letzten Monat hatten wir unsere Brotzuteilung schon am zwölften aufgebraucht, und obwohl wir uns diesen Monat solche Mühe gegeben haben, war sie am siebzehnten alle. Wir hätten sie noch eher aufgezehrt, aber wir »organisieren« alle, was wir können, und meine copains, die Clique im Café Le Jazz Hot, laden mich fast jeden Tag ein. Die meisten von ihnen haben gute Schwarzmarktbeziehungen. Natürlich ist es viel leichter, wenn man kein Jude ist, aber ich kann mich nicht beklagen, da sie mit mir teilen.

Ich schreibe das heute Abend mit vollem Bauch, und es ist verblüffend, wie stark und wach ich mich fühle. Gleich nach dem Essen bin ich fast eingedöst. Wir saßen um den Tisch in der salle à manger, Maman, Renée und ich, und strahlten uns an. Wir fühlten uns friedlich wie Kühe auf der Weide, wobei ich mich nicht schämte, dass meine Seligkeit auf einem ausnahmsweise mal wohlgefüllten Magen beruhte, denn ich weiß inzwischen, wie schwierig es ist, sich mit einem leeren zu konzentrieren.

Es muntert mich auch auf zu wissen, dass wir morgen oder übermorgen keinen Hunger leiden werden. Ich kann mich den Problemen unseres Lebens mit stabilerer Kraft und weniger auf Kosten meiner Nerven stellen. Ich konnte nicht sagen, ob mir das Lammfleisch besser geschmeckt hat oder die Kartoffeln. Sogar die Kohlrüben, die wir verabscheuen und jeden Tag essen, schmeckten in dem Schmortopf fast essbar. Letzte Woche hat mir Céleste eine Tüte Möhren verkauft, die mindestens zwei Kilo gewogen haben muss. Maman hatte noch zwei davon für unseren großartigen Schmortopf.

Nahezu unser ganzes Leben verbringen wir mit Schlangestehen. Maman hat immer noch ihre Arbeit bei dem Kürschner, obwohl M. Cariot die Firma weggenommen worden ist. Sie beschlagnahmen alle jüdischen Unternehmen. Der Mann, der das Geschäft übernahm, hat die Juden nicht wie erwartet entlassen, denn er sagt, wie soll er ein Fachgeschäft führen ohne Fachkräfte? Maman sagt, wir haben großes Glück. Renée und ich besorgen das meiste Schlangestehen, aber ich kann es besser, weil ich größer bin, während Renée weggedrängelt wird. Ich kann inzwischen im Stehen lernen, und so lese ich das meiste für mein Studium beim Schlangestehen.

Als Neuestes haben die Deutschen angekündigt, dass alle, die aus irgendeinem Grund verhaftet werden – und über die Hälfte aller Verhafteten sind Leute, die nach Beginn der nächtlichen Ausgangssperre aufgegriffen wurden –, in Zukunft als Geiseln gelten. Man ist also ins Gespräch vertieft und versäumt die letzte Metro um 23 Uhr, und wenn einen dann nicht nette Freunde über Nacht beherbergen, wie Céleste es mehrere Male getan hat und Henri und Albert wie Gentlemen einmal, hat man Pech gehabt. Henri und Albert wohnen gleich den Hügel rauf bei der Sorbonne, in einer schmutzigen kleinen Seitenstraße, aber bequem gelegen. Maman geht an die Decke, wenn ich über Nacht wegbleibe. Ich tue das nicht absichtlich, aber hin und wieder verpasst jeder die letzte Metro. Dieses Dekret bedeutet, wenn ich bei irgendeinem kleinen Verstoß gegen die Vorschriften gefasst werde, dann können sie mich eines Morgens an die Wand stellen und erschießen, weil irgendein Hitzkopf einen Schuss auf einen deutschen Offizier abgegeben hat. Ich verstehe nicht, was die Deutschen mit dieser Brutalität erreichen wollen. Meinen sie, wenn irgendeine arme Tellerwäscherin, die ihre Bahn versäumt hat, als Vergeltung für eine Aktion einer der neuen Widerstandsgruppen erschossen wird, dann werden die Gaullisten oder die Kommunisten unweigerlich eingehen und verdorren?

Fast hätte ich es vergessen: Bei den Balabans sind schon andere Leute eingezogen. Sie haben die armseligen Sachen der Balabans auf die Straße geworfen, damit die Nachbarn alles durchwühlen können, aber die Küchenmöbel haben sie behalten. Ich weiß nicht, was die Balabans machen sollen, wenn sie zurückkommen. Ich hoffe nur, Mamans Familiensinn verleitet sie nicht dazu, sie aufzunehmen. Ohne Papas Verdienst haben wir mein Zimmer im obersten Stock aufgeben müssen. Maman teilt mit Renée ihr Doppelbett, und ich schlafe auf dem Klappbett in der salle à manger.

8 septembre 1941

Ich kam von meinem Schauspielunterricht und musste den Boulevard des Italiens entlang. Ich war gerade in Gedanken völlig mit der Berenice in Racines großer Tragödie beschäftigt, mit der ich mich in mancher Hinsicht ohne weiteres identifizieren kann, als ich eine große Menschenmenge sah, die vor dem Palais Berlitz Schlange stand.

»Was gibt es? Ist da eine Ausstellung?«, fragte ich eine ältere Frau. Ich achte immer darauf, auf der Straße Frauen um Auskunft zu fragen, da ich nicht irgendeinem Mann eine Bresche schlagen möchte, der sich einbildet, ich versuchte ihn aufzugabeln. Ich erinnere mich immer noch an den blöden Jungen, der mir den ganzen Weg zu Marie Charlottes Wohnung nachgegangen ist, nur weil ich seine Frage beantwortet und ihm gesagt habe, wo es zur Gare du Nord geht. Jetzt ist mir klar, dass er es ganz genau wusste. Henri sagt, ich bin absolut naiv, was Männer anbelangt, aber die Wahrheit ist, ich habe andere Sorgen und brauche nicht noch mehr.

»Eine große Ausstellung, alle Welt geht hin«, sagte sie und nickte mir zu. »Über ›Der Jude und Frankreich‹. Sie sollten auch hingehen. Sie sind nicht zu jung, um sich den Tatsachen zu stellen.«

Ich dachte zuerst, sie meinte, dass ich mir als Jüdin den Antisemitismus klar vor Augen führen müsse, aber dann fuhr sie fort: »Sie müssen sich rein erhalten, ein junges Mädchen wie Sie, aber Sie müssen sich auch kundig machen über die Durchseuchung. Es geht darum, sich für das Neue Frankreich heranzubilden.«

Ich schäme mich inzwischen, aber mir war es für sie derart peinlich, so dumm und primitiv zu sein, dass ich kein Wort hervorbrachte. Ich fürchte, meine Manieren veranlassten mich automatisch, ihr zu danken und fortzueilen. Sie war eine gut gekleidete Dame in den besten Jahren und trug ein Marinekostüm mit Schulterpolstern nach der neuesten Mode, dazu eine gestreifte weiße Bluse mit Krawattenschleife und einen wagenradgroßen Hut mit einem echten kleinen toten Vogel obendrauf.

Ich wünschte, ich hätte ihr eine runtergehauen, aber das wäre sinnlos, ja mehr noch, es wäre unmoralisch gewesen, verbale Gewalt mit physischer Gewalt zu erwidern. Vielleicht tat ich das Beste. Andererseits bezog ich keine Stellung. Was hätte ich tun sollen? Wäre ich ein wahrhaft edler Mensch wie die Antigone bei Sophokles, dann wären mir die Worte gekommen und ich hätte etwas Deutliches und Zündendes gesagt, das ihr ihre Dummheit gezeigt hätte, so von einem ganzen Volk zu sprechen.

Tatsächlich jedoch fühlte ich mich gedemütigt und ging einfach auf dem breiten Bürgersteig weiter auf die Menge zu. Direkt an der Fassade vom Palais Berlitz hing zwischen den Säulen ein riesiges, vier Stockwerke hohes Plakat von einem alten Mann mit Bart und langer Nase, der ein Jude sein sollte und Klauen dort in einen Globus grub, wo Frankreich eingezeichnet war. Grässlich. Mir wurde ganz heiß, und ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Ich hatte Angst, mitten auf der Straße in Tränen auszubrechen. Als ich sah, wie all diese ganz normalen Leute, meine Landsleute, die vielleicht gestern noch im Kino neben mir gesessen oder mich am Zeitungskiosk begrüßt haben, wie sie alle nur darauf warteten, sich in diese von einer französischen Einrichtung, dem Institut d’étude des questions juives, veranstalteten Nazi-Ausstellung zu drängeln, da fühlte ich mich wie eine Küchenschabe, die sie mit ihren elegant beschuhten Füßen zu zertreten suchten.

Ich wollte auf eine Seifenkiste steigen und sie anschreien: Wie könnt ihr wagen zu denken, dieses hässliche, von euch gezeichnete Bild hätte irgendetwas mit mir zu tun? Es ist eure eigene ekelhafte Phantasie, in der ihr euch suhlt. Wie die unanständigen Zeichnungen, die die Jungens immer machten und uns dann anzuschauen zwangen. Sag uns, was das ist, sag uns, was das ist. Eure eigene schmutzige Phantasie, habe ich da gesagt: Wenigstens ein Mal ist mir die richtige Antwort eingefallen.

Ich denke, einer meiner schlimmsten Fehler ist, dass ich – während mein Verstand rascher zu arbeiten scheint als der anderer Menschen – oft zu viele Seiten einer Frage sehe, was mich in meiner Erwiderung schwächt. Ich sollte mich bemühen, einfacher zu sein. Manchmal denke ich, Einfachheit ist eine Tugend, und wenn ich das schreibe, denke ich dabei an Maman, die immer ohne Umwege auf den Kern einer Sache zu sprechen kommt.

Als ich nach Hause kam, überlegte ich, ob ich das Gesehene erwähnen sollte, aber dann schaute ich Maman an, die von der langen Arbeit beim Kürschner jeden Tag so abgehärmt und erschöpft ist und dann noch herumrennt, um etwas für eine Suppe zum Abendbrot aufzutreiben, und die kleine Renée, die in diesen Tagen so fügsam und still ist, dass ich mir Sorgen um sie mache. Ich dachte, wenn Papa endlich nach Hause kommt, werde ich ihm davon erzählen, aber bis dahin muss ich, wie er es mir aufgetragen hat, auf Maman und Renée aufpassen, denn in mancher Hinsicht habe ich wirklich einen kühleren Kopf.

3 octobre 1941

Letzte Nacht sind sechs der Synagogen von Paris in die Luft gesprengt worden! Ich bin heute Morgen mit Renée losgegangen, und wir schauten nach unserer, wo wir an den Hohen Feiertagen hingehen, und da war nichts mehr als eine Ruine mit Glasscherben und Mörtelbrocken und Stofffetzen und stiebendem Papier. Juden aus der Nachbarschaft irrten herum und stocherten im Schutt, um irgendetwas zu retten. Es hat mich derart empört, dass ich vor Hilflosigkeit brenne. Was für eine schändliche, geistesgestörte Tat. Ein Gotteshaus zu zerstören. Was sind das für Kretins, die das für eine angemessene politische Tat halten?

All die pöbelhaften neuen Zeitungen schreien, das sei eine spontane Tat des französischen Volkes gewesen, das uns, die sogenannten fremden Elemente, hinauswerfen will. Das uns abwehrt, wie man eine Krankheit oder ein Gift abwehrt. Ich muss sagen, es ist reizend, zur Mikrobe geworden zu sein. Ich gehe in diesen Tagen durch Paris, und es ist, als schlüge mir alle zwanzig Schritte irgendein Flegel ins Gesicht, wenn ich sehe, wie diese Zeitungen darüber tönen, wie großartig die Sammlungsbewegung ist und wie Frankreich gesäubert und gereinigt wird, oder wenn ich eine wahrhaft entstellende und abstoßende Karikatur sehe, die mich oder Papa oder Maman darstellen soll, oder wenn ich in Erfahrung bringen möchte, was in der Welt geschieht, und statt der Zeitungen, die bei all ihrer Parteilichkeit wenigstens die Nachrichten aus aller Welt brachten, haben wir nichts als diese Hetzblätter, die Hass hinausschreien und unseren Tod fordern.

Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass alle diese Franzosen herumrennen und den Deutschen in den Hintern kriechen und ihnen schöntun und ihre Parolen nachplappern! Ich habe törichte Tagträume, dass ich in die Redaktion eines dieser Hetzblätter oder einer dieser Zeitschriften stürme, die sich literarisches oder philosophisches Niveau anmaßen. Les Nouveaux Temps, La Gerbe, Aujourd’hui, Nouvelle Revue Française, sie alle halten sich an die Richtlinien der Besatzer, und keine verteidigt uns. Sie sind lediglich höflichere Formen von L’Appel und Au Pilori, die uns täglich mit einem Schwall Erniedrigungen übergießen und offen unseren Tod fordern. Ich fühle mich, als lebte ich in einer tollwütigen Stadt, wo jeder Zweite vor mörderischem Irresein schäumt und geifert.

Ich erinnere mich, dass ich mir noch im letzten Jahr beim Lernen für mein bac ausgemalt habe, wie glücklich ich erst sein würde, sobald ich an der Sorbonne wäre. Ich würde anderen Studenten begegnen, die meine Interessen teilen, und ein Leben reicher intellektueller Gärung und strenger Hingabe an Ideen führen. Nun halte ich mich meistens von anderen Studenten fern, da ich den Schock der Entdeckung fürchte, dass auch sie Antisemiten sind. Die Mühsal des Überlebens ist so anstrengend, dass ich die Vorlesungen gar nicht zu schätzen weiß. Oft komme ich im Quartier Latin am Café Dupont mit seinem Schild KEINE JUDEN ODER HUNDE vorbei. Wie manche Konvertiten katholischer als der Papst sind, so eifern diese nachgemachten Nazis, ihre Herren zu übertreffen.

29 novembre 1941

Welch ein trauriger, stiller Geburtstag war das am 24. für mich. Dann erhielten wir Nachricht von Papa. Ein halbwüchsiger Junge in Pfadfinderuniform erschien damit, ein äußerst unwahrscheinlicher Überbringer geheimer Botschaften, aber er legte Wert auf die Feststellung, dass er in der EIF ist, was für Éclaireurs Israélites de France steht, die Jüdischen Pfadfinder. Er tat unseren Dank ab und sagte, es sei für ihn nicht schwierig, da er seine Methoden habe, die Grenze nach Vichy zu überqueren.

Er brachte uns auch eine Flasche Cassis als Geschenk von Papa, die sehr willkommen ist, weil Maman und besonders ich die Wärme von ein wenig Wein zum Abendbrot vermissen und es Monate her ist, seit wir irgendetwas Alkoholisches genossen haben. Unsere winzige Weinration tauschen wir bei Mme Cohen gegen ein wenig Butter und etwas Magermilch für Rivka. Cassis, sagt Maman, ist besonders willkommen, da wir uns so oft den Magen an verdorbenen Nahrungsmitteln verkorksen oder an Brot mit seltsamen Zutaten – wir vermuten alles von Knochenmehl bis zu zermahlenem Mörtel aus Ruinen. Der Cassis wird nur löffelweise ausgeteilt werden, und zwar nach dem Abendbrot, um uns zu wärmen und unsere armen gequälten Mägen zu besänftigen.

Papa ist in Toulouse, erzählte uns der Junge. Er scheint Papa sehr zu bewundern. Er sagte, Papa kann nicht über die Grenze nach Paris zurück, ist aber eine starke Kraft im Widerstand gegen die Deutschen und die Vichy-Regierung. Zweimal wäre Papa beinahe gefasst worden, konnte aber entkommen. Er sagte, Papa ist ein sehr tapferer Mann und wir können stolz auf ihn sein. Papa hat ihm aufgetragen, uns Papiere zu verschaffen, die er uns beim nächsten Mal auszuhändigen hofft, aber dafür braucht er von uns erst einmal neuere Fotos für gefälschte Ausweispapiere. Die werden uns in die Lage versetzen, nach Toulouse zu Papa zu gelangen.

An diesem Punkt gingen wir alle drei ins Schlafzimmer, schlossen die Tür und sahen uns sorgfältig Papas Brief an, um sicherzugehen, dass er wirklich von ihm war und dass wir es nicht mit einem verkappten Faschistenjungen zu tun hatten, der uns eine Falle stellen wollte. Aber es war ganz offensichtlich Papas Handschrift. Der Brief war kurz, und es stand nur darin, dass er uns lieb hat, uns fürchterlich vermisst und dass wir dem jungen Mann geben sollen, was er braucht, denn er würde es ihm auf seinen nächsten Runden überbringen, wie Papa sich ausdrückte.

Das Problem war nur, wir haben uns schon seit mehreren Jahren nicht mehr fotografieren lassen, und wir wagten nicht, sosehr wir sie auch hassen, von unseren Kennkarten mit dem großen roten Stempel JUIVE die Fotos zu entfernen. Wir sagten dem jungen Mann, wir könnten in der nächsten Woche versuchen, Fotos zu bekommen. Wir haben kaum Geld. Er erwiderte, wir sollten sehen, was wir tun könnten, aber er könne nicht warten, da er weiter nördlich noch etwas zu erledigen habe. Er wolle auf dem Weg nach Süden vorbeischauen, sagte er, und die neuen Fotos abholen.

Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich keinem außerhalb der Familie ein Wort davon erzählen werde, und ich warnte auch Maman, die immer vernünftig ist, und Rivka, die es nicht ist, über diesen Besuch Stillschweigen zu bewahren. Ich habe dem Wunsch meiner Schwester, bei ihrem hebräischen Namen genannt zu werden, nachgegeben, denn sie hat in diesen Tagen so wenig Freuden.

Dann kam ein Geschenk von Naomi aus Detroit in den USA. Ich war überrascht, dass der kleine Quälgeist an meinen Geburtstag gedacht hatte, aber wahrscheinlich hat wohl ihre Tante für das Paket gesorgt. Es ist vor zwei Monaten aufgegeben worden, aber alles ist heil geblieben, und wir waren entzückt. Sie hat uns eine große koschere Wurst geschickt, also nehme ich an, dass es da drüben auch so etwas gibt, ein Kilo Zucker, ein Glas Stachelbeermarmelade, ein Glas Aprikosenmarmelade und ein Glas Himbeermarmelade. Alles Süße ist bei uns ein Volltreffer. Sie hat auch zwei Stück Camay-Seife und ein Glas Leberpâté hineingelegt.

Naomi schreibt regelmäßig, aber ihre französische Grammatik ist entsetzlich und wird immer schlimmer. Sie wird zu einer Wilden. Ich weiß nicht, ob Papa das Richtige tat, sie so ganz allein wegzuschicken. Wir bekommen auch Briefe von Rose Siegal in Jiddisch, einer Sprache, die ich nicht lesen kann, aber Maman übersetzt. Tante Rose (Mamans älteste Schwester) versichert uns, dass Naomi wohlauf ist und ihr Englisch verbessert (während sie ihre eigene Sprache verleugnet, ergänze ich) und rasch wächst. Das tut Rivka auch, aber sie ist zu dünn. Wenn wir nur ein bisschen mehr für sie zu essen hätten. In der Schule bekommen die Kinder Vitaminkekse. Manche Kinder tauschen ihre ein, aber ich habe Rivka eingeschärft, ihren jeden Tag zu essen. Tante Rose fragt nach Tante Batya, ihrer Schwester, die immer noch in Drancy ist. Maman wird ihr das wenige, was wir wissen, schreiben, denn wir dürfen die Gefangenen nicht besuchen.

Es war sehr einfühlsam von Naomi oder Tante Rose, uns diese Geschenke zu schicken. Der Winter setzt früh ein, und wir frieren erbärmlich. Wir haben keine Heizung. Maman bekommt Frostbeulen. Wir gehen mit einer Wärmflasche ins Bett, aber die bleibt nur eine Stunde lang warm. Wir schlurfen herum wie Altkleiderbündel und haben ständig Handschuhe an, die wir nur ausziehen, wenn wir abwaschen müssen.

Die Seife ist eine besondere Wohltat, denn wir können ein regelmäßiges System einführen, einmal in der Woche zu baden. Wir hatten seit Oktober keine Seife, da wir sie gegen Nahrungsmittel eingetauscht haben. Rivka braucht etwas zu essen und Maman auch. Ich futtere mich noch am besten durch, weil ich von meinen Freunden verwöhnt werde, die alle gute Schwarzmarktbeziehungen und immer ein Häppchen für mich haben und manchmal sogar eine ganze Mahlzeit. Wo immer ich kann, versuche ich, ein Brötchen oder ein Stück Hühnchen für Rivka und Maman einzustecken, heimlich, denn einmal hat mich Céleste dabei ertappt, wie ich einen halben Croque-Monsieur in die Tasche stecken wollte, und sagte: Na, wenn du keinen Hunger hast, esse ich ihn, und das tat sie.

Ja, außerhalb des Hauses esse ich Schinken. Ich würde eine Kröte essen, wenn mir jemand eine vorsetzte. Ich hätte den Schinken Rivka gegeben und ihr gesagt, es sei Cornedbeef. Ich fühlte mich elend, weil ich Hunger hatte und ihn entsetzlich gern gegessen hätte, aber noch lieber hätte ich ein bisschen davon Rivka gegeben, die nur noch Haut und Knochen und fast blau im Gesicht ist. Maman meint, vielleicht hat sie Blutarmut, aber was können wir dagegen tun? Henri hat mich diese Woche nicht zum Mittagessen eingeladen. Für ihn steht inzwischen fest, dass ich meine Jungfräulichkeit zum Fetisch erhebe, und er sagt, solchen bürgerlichen Humbug müsste ich überwinden.

Gut, sagte ich, ich werde auf den Boule Mich’ gehen, das erstbeste Fahrradtaxi anhalten und mich anbieten.

Ein Fremder könnte eine Krankheit haben, sagte er. Ich denke dabei nur an dich.

Ich weiß, wie du an mich denkst, und träum weiter, sagte ich. Ich tue völlig gelassen, denn das muss man, aber ich fühle mich ganz merkwürdig, wenn ich mit ihm am Tisch sitze und er ständig wie rein zufällig mein Knie berührt, meinen Ellbogen, meine Schulter. Wenn wir nicht so viele Kleiderschichten anhätten, könnte er sehen, dass ich manchmal eine Gänsehaut bekomme. Zu meinem Glück sind wir beide in unsere Sachen eingewickelt wie Mumien im Museum, und selbst wenn er mich zu küssen versucht, kommt er nicht näher als fünfzehn Zentimeter, weil wir so ausgestopft sind. Trotzdem träume ich davon, wie seine Augen, hellbraun wie nasser Sand, sehnsüchtig an mir hängen.

12 décembre 1941

Jetzt befindet sich Deutschland also im Krieg mit den USA. Henri sagt, die Deutschen haben am Ende mehr abgebissen, als sie kauen können, aber uns scheinen sie leicht genug verdaut zu haben. Ich habe wenig konkrete Hoffnung, jemals in einer nicht von Irrsinn beherrschten Welt zu leben, oder höchstens irgendwann einmal als alte Frau. Wir werden keine Pakete mehr von Naomi bekommen und auch keine Briefe mehr. Wir sind von unserer Schwester abgeschnitten, als wäre sie auf dem Mond! Maman weint viel über Naomi und schilt sich dann für ihre Selbstsucht, da doch wenigstens eines ihrer Kinder in Sicherheit ist. Rivka war nie mehr die Alte, seit Naomi fort ist; sie ist nur noch ein halbes Kind, still, fügsam und zutiefst einsam, obwohl ich so sehr viel mehr Zeit mit ihr verbringe.

Gestern ist etwas einfach Unvorstellbares geschehen. Die Nazis haben in einer Razzia eintausend französische Juden zusammengetrieben, darunter alle Rechtsanwälte, die bei der Pariser Anwaltskammer zugelassen sind, ja überhaupt alle. Sie haben Ärzte, Anwälte, Schriftsteller und Intellektuelle geholt und einfach verhaftet. Niemand scheint zu wissen, wohin sie gebracht worden sind, außer dass es diesmal nicht Drancy ist, wo die armen Balabans eingesperrt sind. Wir haben ihnen kleine Päckchen gebracht, wurden aber nicht hineingelassen. Das Lager stinkt schon aus zweihundert Metern Entfernung. Es ist eine unfertige Neubausiedlung, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen. Man müsste meinen, die armen Balabans seien Vergewaltiger, Mörder und Terroristen und nicht eine Familie von Fabrikarbeitern.

Wohin sie die schrecklich gefährlichen Schriftsteller, Anwälte und Ärzte gebracht haben, ist reine Vermutung. Wir machen uns Gedanken und haben Angst, wir geben Gerüchte weiter und warten auf die Rückkehr des Pfadfinders, aber bis jetzt war er noch nicht da. Die Rechtfertigung für diese Razzia – aus irgendeinem Grund haben die Nazis immer gern eine Rechtfertigung, und sei sie noch so fadenscheinig – ist Bestrafung, weil jemand auf einen deutschen Luftwaffenoffizier geschossen hat. Das ist alles.

Im Café Le Jazz Hot machen alle Witze darüber, dass ich die letzte Jungfrau von Paris bin. Céleste verkündete heute, dass sie mich ausstopfen und in einen Schaukasten im Musée de l’Homme stecken werden. Ich sagte, mir wäre das nur recht, solange ich mit Brathuhn und Kalbsschnitzeln und Steaks ausgestopft werde. Henri sagte, wie wäre es mit meiner Salami. Manchmal erröte ich innerlich von dem, was sie sagen, aber ich bleibe sehr kühl. Ich sagte, nein danke, deine Salami ist nicht koscher.

Hinterher dann, als Henri mich zur Metro brachte, fragte er mich, ob ich nicht mit ihm schlafe, weil er kein Jude ist. Er wollte mitten auf dem Bürgersteig ein ernsthaftes Gespräch über etwas anfangen, was ich im Scherz gesagt hatte, um ihnen das Maul zu stopfen. Es endete damit, dass ich ihn im Hauseingang küssen musste. Dann versuchte er wieder, seine Hand unter meinen Pullover zu schieben. Ich sagte: Versuch ja nicht, dich schrittweise vorzuarbeiten, Henri. So wirst du mich nicht rumkriegen. Wenn ich mich dazu entschließe, werde ich das Ganze machen, aber bis dahin betatsch mich nicht, das finde ich ordinär. Er wurde wütend und ging weg, aber ich weiß, das Problem wird nicht weggehen.

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

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