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Jacqueline 3 Ein schmerzförmiger Stern

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31 mai 1942

Sie haben uns befohlen, von nun an ständig einen gelben Stern zu tragen. Wir müssen unsere kostbaren Textilcoupons für die Sterne hergeben, als wollten wir so etwas haben oder wären bereit, Kälte zu erdulden und in Lumpen zu gehen, um uns solch einen Stern leisten zu können. JUIF steht darauf in großen, schwarzen, hässlichen Buchstaben, für den Fall, dass jemand zu begriffsstutzig ist, um den Sinn dieser Spitze zu erfassen – dieser sechsfachen, sechszackigen Spitze. Der Gelbton ist besonders grell – und ich trage nie Gelb. Alle von uns, die älter als sechs Jahre sind, müssen ihn auf der Straße und überall tragen.

Ich habe vermieden, mehr als unbedingt nötig nach draußen zu gehen, aber heute bin ich fest entschlossen, mein sogenanntes normales Leben wiederaufzunehmen. Wir sind von den Lehrveranstaltungen der Sorbonne ausgeschlossen, also ist es aus mit meinem Studium. Ein Brief kam. Die Regierung Frankreichs hat im Interesse rassischer Reinheit und so weiter. Ich schreibe das am Frühstückstisch vor einem großen Becher mit Gebräu aus irgendeinem Unkraut, an das wir ein bisschen Magermilch getan haben. Es schmeckt wie die Grassuppe, die die Zwillinge in den Sommerferien immer für ihre Puppen gemacht haben. Gleichgültig, wie mich die Leute auf der Straße anstarren, ich werde tun, was ich tun muss und was ich für richtig halte.

Am gleichen Tag: Ich fühlte mich entsetzlich auffällig, als trüge ich ein Schild: LEPRA, und so verhalten sich auch die Leute. Ich habe noch nie das Gefühl gehabt, dass so viele Menschen von mir wegschauen, so tun, als sähen sie mich nicht. Das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die, die auf mich losgingen und mich entweder beschimpften oder bedrohten oder in einem Falle – ein widerlicher Kerl von einem Mann – vom Bürgersteig stießen. Wenn der Lastwagen, der entgegenkam, nicht ausgewichen wäre, er hätte mich überfahren, denn ich stürzte direkt vor die Räder.

5 juin 1942

Zeiten wie diese lehren einen die Freunde schätzen. Gerade wenn ich mir Vorwürfe machen will, dass ich mich mit meinen zazou-Freunden herumtreibe, nur weil ich mich nicht ins Ghetto verbannen lassen will und sie als Einzige tolerant genug sind, sich mit einer Jüdin abzugeben, dann tun sie etwas, das mir zeigt, wie echt die Freundschaft zumindest von Céleste und Henri ist. Sie erschienen gestern im Café Le Jazz Hot und trugen große sechszackige gelbe Sterne mit GOJ darauf. Dann wurden sie auf dem Heimweg von einer Rotte dieser faschistischen PPF-Jugend überfallen. Sie haben Céleste die Kleider zerrissen, sie auf die Straße geworfen, getreten und ihr zwei Rippen gebrochen. Henri haben sie mitgeschleppt und kahlgeschoren und zusammengeschlagen, dass er nur noch ein Haufen blauer Flecke ist.

Sie verprügeln die zazous sowieso ständig. Viele junge Leute kleiden sich wie meine Freunde, Sonnenbrille, weites Jackett und enge Hosen, das Haar lang und voller Pomade, um die Faschisten auf die Palme zu bringen. Die behaupten, die zazous sind der Gipfel der Entartung und der Grund für Frankreichs Niederlage im Krieg, weil wir alle degeneriert und korrupt sind und der Jazz unseren Geist zerstört hat.

Heute Morgen stand ich von fünf bis acht nach Brot an. Ich bin völlig fertig und habe beschlossen, mich nach meiner Philosophiestunde ein bisschen hinzulegen. Ein paar von uns, die wir von der Universität relegiert worden sind, treffen sich dreimal in der Woche. Eine Studentin im sechsten Semester unterrichtet uns aus ihren Vorlesungsnotizen, und Daniela Rubin organisiert weitere Dozenten. Professor Moussat, der gerade als Jude denunziert und aus der École des Études Orientales entfernt worden ist, wird über die Ideenwelt des Buddhismus lesen. Ich bin nicht so fasziniert, wie ich es vielleicht noch vor einem Jahr gewesen wäre, aber zumindest ist es eine Ausbildung in etwas anderem als dem Ergattern von etwas Essbarem. Daniela und ich sind die treibende Kraft hinter diesem Bemühen, eine kleine Lehranstalt zu errichten, vermittels deren wir den Versuch zu durchkreuzen hoffen, uns in Unwissenheit zu halten! Sie ist ein Jahr älter als ich und wollte Ärztin werden. Ach, Daniela hat mir erzählt, was dem jüdischen Pfadfinder geschehen ist, der uns die neuen Ausweise verschaffen wollte: erschossen. Er war Teil eines Netzes, das Juden aus Frankreich heraus in Sicherheit schmuggelt. Jetzt tut es mir leid, dass wir nicht netter zu ihm waren, aber wir waren misstrauisch.

Nach meinen Stunden werde ich Henri besuchen gehen, obwohl es mir sehr seltsam vorkommt, den Hügel hinauf an der Sorbonne vorbeizugehen, von der ich vertrieben worden bin. Unsere »Kom«-militonen reagierten nach dem Motto: Ach, ich wusste gar nicht, dass du Jüdin bist. Sie hätten die Universität stilllegen können, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, wegen unseres Ausschlusses zu streiken. Ich würde Henri so gern ein Geschenk mitbringen, aber wir haben die Leckerbissen von Naomi längst aufgegessen.

Gestern auf der Straße kam mir plötzlich der Gedanke, in welchem Maße man jetzt den Menschen ihre politische Gesinnung am Gesicht ablesen kann. Das heißt, die, die mit den Deutschen kollaborieren, sehen alle wohlgenährt und blühend aus. Sie bekommen etwas Richtiges zu essen – Butter, Eier, Hühnchen, manchmal sogar Fleisch –, und sie haben Seife, um sich damit zu waschen, und manche sogar Heißwasser. Wir Übrigen werden immer dünner und ausgemergelter und schmutziger. Wir Juden sind die Dünnsten und Schäbigsten von allen. Es ginge uns noch viel schlimmer, wenn ich nicht durch Henri und Céleste meine Schwarzmarktbeziehungen hätte.

6 juin 1942

Wenn ich auch nur etwas weniger Vertrauen zu Maman hätte, würde ich nicht wagen, heute etwas einzutragen. Aber sie ist noch nie in die Privatsphäre meines Tagebuchs eingedrungen, und ich glaube auch nicht, dass sie es je tun würde. Trotzdem halte ich es für eine gute Idee, es nach dieser Eintragung immer mitzunehmen, für alle Fälle.

Ich war bei Henri in der Rue Royer Collard. Er saß im Bett mit einem großen Verband um den Kopf, sein Auge war blau und schwarz und scheußlich geschwollen, und seine Backe war auch geschwollen, wo ihm die Schläger von der PPF einen Zahn ausgebrochen haben.

Diese Faschistenspiele, in Rudeln Leute auf der Straße zu verprügeln, sind für manche wie eine Droge. Es ist eine Genehmigung, ungestraft Schmerz zuzufügen. Henri sagt, es ist eine Form von amoklaufendem Infantilismus, aber ich halte es für etwas Böseres. Henri besteht darauf, es gäbe nichts Böseres als bewaffnete Kleinkinder in Horden, die wollen, was sie wollen und wann sie es wollen, und es sich nehmen. Er sagt, dass viele Leute auf der Straße vorbeigingen und niemand eingriff, und dass ein flic vorbeikam, aber als er sah, wer da prügelte und wer da verprügelt wurde, wandte er sich ab und schlenderte unauffällig davon.

Albert war heute Nachmittag weg, um auf dem Schwarzmarkt Eier zu besorgen. Henri und Albert teilen sich ein Zimmer, das zum größten Teil von Henris Vater bezahlt wird. Sein Vater, der einen Nachtclub besitzt und Henris Mutter nie geheiratet hat, gibt ihm Geld. Henri sagt, der Nachtclub ist voller Deutscher, nicht nur die hier stationierten Wehrmachtsoldaten, sondern Soldaten, die auf Fronturlaub aus ganz Europa hierher kommen, um zu erleben, was sie »Paris bei Nacht« nennen. Die Nazis haben die Namen vom Théâtre Sarah Bernhardt und von jeder Straße in Paris geändert, die nach einem Juden benannt ist, und jeden Verleger in Paris (mit Leichtigkeit) überredet, keine jüdischen Schriftsteller mehr zu veröffentlichen und die Kataloge zu bereinigen, und da sitzen sie nun im Club von Henris Vater und fünfzig anderen und schlürfen Champagner und stopfen sich voll, während immer wieder Offenbachs Cancan gespielt wird und sie die feschen Tänzerinnen beglotzen. Sie können Cancan nicht ohne die Musik von einem Juden kriegen, also tun sie, als wüssten sie von nichts. Henri und ich haben eine Vorliebe für diese Art billiger Ironie, das ist wie eine Schwäche für zu süße, aber unwiderstehliche Bonbons.

Dann nahm er meine Hand und sah mir in die Augen, wie er es immer tut, und sagte, er hätte den Stern für mich getragen. Er sagte, dass er es nicht mehr ertragen kann, und wenn ich jetzt, wo sein Kopf kahlrasiert und er entstellt ist, nicht mit ihm schlafen will, dann kann er ebenso gut aufgeben und nach Deutschland gehen wie Albert, der zur Arbeit zwangsverpflichtet worden ist, aber er wird sich dann freiwillig melden und wenigstens etwas Geld verdienen.

»Du versuchst mich zu erpressen«, sagte ich.

»So weit ist es gekommen«, sagte er. »Sag mir, was ich tun soll, und ich tue es. Ich würde dich sogar heiraten, nur ist das leider verboten.«

»Wenn es erlaubt wäre, würdest du mir den Antrag nicht machen, Henri, aber davon abgesehen finde ich die Ehe ungefähr so attraktiv wie das Dasein einer Prostituierten, und ich lasse mir meine Gunst nicht gerne bezahlen.«

»Dein Hang zur Romantik und zur Sentimentalität macht mich noch wahnsinnig«, sagte er.

»Wie kannst du an Beischlaf denken?«, fragte ich ihn und benutzte absichtlich das vulgäre Wort. »Du kannst dich kaum aufsetzen, du schaffst nicht einmal, die Treppe hinunter auf die Straße zu gehen, und du bist wild darauf, mich zu deflorieren!«

»Das könnte ich noch, wenn mir die Beine amputiert wären. Gib mir eine Chance.« Er zerrte weiter an mir.

Mir wurde klar, was ich schon seit einiger Zeit weiß, dass ich entweder aufhören muss, mich mit Henri zu treffen, oder mit ihm ins Bett gehen muss. Ich habe ihn über ein Jahr lang hingehalten, aber er wird immer zudringlicher. Ich bin nicht in ihn (oder sonst jemand) verliebt, aber ich mag ihn. Ich fürchte, ich bin im Grunde eine kalte Person, was romantische Liebe und romantisierten Sex angeht. Ich halte beides für Selbsthypnose. Ich schaue zu, wie Frauen um mich herum sich in Lebewesen verlieben, die ebenso gut große verspielte oder kleine rauflustige Hunde sein könnten, und bin verblüfft, wie das Gehirn sich einfach abschaltet, wenn die Hormone durch den Körper gepumpt werden.

Marie Charlotte, die früher meine beste Freundin war und einmal irrtümlich für eine Jüdin gehalten wurde, weil sie immer mit mir herumlief, ist jetzt in einen deutschen Leutnant verliebt. Da er zu den herrschenden Eroberern gehört und Offizier ist, gestattet ihre Familie ihm, ihr den Hof zu machen. Sie sagen, das ist ehrenwert. Ich weiß das alles, weil Marie Charlotte immer noch auf mich wartet und mir Zeichen gibt, ihr an unsere alte Schwatzstelle im kleinen Park Georges Cain gleich bei unserem alten lycée zu folgen. Da sitzen wir dann zwischen den zerbrochenen Statuen oder unter dem alten Feigenbaum, wie wir es früher taten. Ich nehme mir immer wieder vor, sie links liegen zu lassen, aber wenn ich sie sehe, erinnere ich mich, wie nah wir uns waren, und kann nicht mit ihr brechen.

Ich schiebe vor mir her aufzuschreiben, was ich getan habe. Ich wand mich aus Henris ziemlich enger Umarmung, bemüht, ihm nicht wehzutun. Dann setzte ich mich von ihm weg auf einen Stuhl. Ich versuchte mir darüber klar zu werden, ob ich ihn verlassen und nie wiedersehen soll, aber ich mag Henri sehr, und ohne ihn und meine anderen Freunde müssten wir noch viel mehr hungern. Rivka ist so dünn, dass es mir Sorge macht. In ihrem Alter hat bei mir die Menstruation angefangen, und so war es auch bei Maman, aber bei Rivka hat sie noch nicht angefangen, und ihre Brüste sind so winzig wie Erdbeeren. Sie braucht das zusätzliche Essen, das ich nach Hause bringe. Was macht es schließlich schon? Wir können alle fortgeschafft werden in unbekannte Gefahren. Ich mag Henri mehr als jeden anderen Mann, den ich kennengelernt habe, also warum nicht er? Sonst werde ich mich immer fragen, wie das wohl ist, und es nie erfahren.

Ich saß also auf dem Stuhl und sagte geradeheraus: »Gut, Henri, hör zu. Ich werde mit dir schlafen. Aber nicht heute. Erhol dich erst von deiner Schlägerei.«

»Ich habe mich schon genug erholt, ich schwöre es, dafür habe ich mich genug erholt.«

»Aber ich schwöre, für mich wäre es kein Genuss, mit einem Mann zu schlafen, wenn ich jeden Augenblick Angst haben müsste, ihm mehr wehzutun als das Faschistengesindel. Willst du, dass ich es genieße, oder ist dir das egal?« Ein billiges Argument, aber eines, dessen Wirkung ich nicht bezweifelte.

Er versicherte mir, ihm läge nichts mehr am Herzen als mein Genuss, und er sei fest entschlossen, mich in einen Taumel der Lust zu versetzen, sobald ich mich in sein Bett begäbe. Ich erinnerte ihn daran, dass Albert erst am Monatsende zum Arbeitseinsatz eingezogen wird. Ich möchte ungern Albert zum Zeugen haben. Die Intimsphäre ist mir wichtig.

»Du willst mich nur abwimmeln.«

»Henri, habe ich dir je versprochen, mit dir zu schlafen?«

Er gab zu, dass ich das immer abgelehnt hatte.

»Jetzt verspreche ich es. Wenn Albert nach Deutschland abgereist ist. Bis dahin wirst du wieder heile Haut und Haare haben –«

»Du liebst mich nicht ohne Haare.«

»Im Moment siehst du aus wie eine Zwiebel. Aber dann werde ich tun, was du verlangst.«

»Das ist nicht mal mehr einen Monat hin.«

Ich wusste, ich hatte ihn überredet. Ich fand auch, ich hatte Gott eine Chance gegeben, mich zu retten, wenn er es will, und dem Schicksal, wenn es mir geneigt ist. Und so, mein Tagebuch, habe ich mein Versprechen gegeben. Nicht, dass ein simples, recht lästig platziertes Häutchen mir irgendetwas bedeutet. Es geht mir eher darum, dass ich für mein Empfinden eine gewisse Klarheit besitze, die mir bei den meisten Frauen nicht begegnet. Ständig tun oder lassen sie etwas oder glauben oder bezweifeln etwas oder kommen oder gehen, weil der Mann, an dem sie hängen geblieben sind, es so will. Wenn ich nun in Zukunft mit Henri schlafen muss, so will ich versuchen, gelassen zu bleiben und einen klaren Kopf zu bewahren und nie zu glauben, nur weil wir unsere Körper zusammentun, mache ihn das intelligenter, als er ist, oder zu einer Art Genie.

6 juillet 1942

Heute habe ich mein Versprechen eingelöst. Am Tag, als Albert abreiste und wir ihn zum Zug brachten, bekam ich meine Regel. Ich sehe das als den letzten Versuch meines Körpers, das Unvermeidliche abzuwenden. Heute hatte ich keine Ausrede mehr. Wie es schließlich auch Scheherazade ergangen sein muss, mir fiel nichts mehr ein, und mein Moment der Wahrheit kam, doch mein König Henri zeigte keine Gnade.

Ich war zu ängstlich, um viel zu spüren außer Unbehagen und etwas Schmerz, aber ich denke, ich werde mich an den Geschlechtsakt gewöhnen und ihn genießen lernen. Es wäre dumm von mir, es nicht zu tun, da ich genötigt bin, ihn zu vollziehen; ich kann mir ebenso gut einige Techniken und ein wenig Hingabe aneignen. Ich habe viele Fragen, die ich Henri stellen möchte, aber mir ist aufgefallen, dass intelligente Fragen oder auch nur der Wunsch, Beobachtungen während des Aktes zur Sprache zu bringen, ihn schrumpfen lassen, also werde ich warten, bis er sich mir gegenüber selbstsicherer fühlt.

Ich wollte besonders seinen Penis sorgfältig untersuchen, doch er wollte zwar, dass ich ihn in die Hand nahm, schien aber nicht angenehm berührt von meinem Wunsch, ihn als unbekannten Gegenstand zu erkunden. Ich denke, es wird die Zeit kommen, um auch diese Neugier zu befriedigen.

Ich empfand keine Verzückung, und der eigentliche Verkehr war eher schmerzhaft. Ich blute stark, als hätte meine Regel wieder eingesetzt, was genau das war, was ich Maman gesagt habe. Unsere Körper sind in dieser Zeit so sonderbar, bei der Ernährung oder vielmehr dem Mangel daran, dass uns keine ungewöhnlichen Wehwehchen oder Schmerzen oder Unregelmäßigkeiten überraschen.

Ich freue mich, dass ich in mir keine Veränderung meiner Gefühle für Henri ausmachen kann. Ich fühle mich nicht von Liebe heimgesucht wie von einem herabgestiegenen Engel, ich träume nachts nicht von ihm (ich habe neulich von Papa und ständig vom Essen geträumt, und gestern Nacht träumte ich, ich nähme ganz allein ein riesiges, heißes Schaumbad), und ich habe nicht mehr Verlangen danach, ihn zu sehen, als sonst auch. Ich bin so gern mit ihm zusammen wie vorher. Vielleicht erweisen sich meine schlimmsten Ängste als unbegründet.

Ich habe ihn gezwungen, ein Kondom zu benutzen, obwohl er protestierte, es reiche aus, wenn er sich zurückzöge, bevor er käme, und er sei darin geübt, diesen Zeitpunkt abzuschätzen. Ich erinnere mich an all die Geschichten in der Schule über Mädchen, die schwanger wurden, weil ihre Freunde einen Coitus interruptus praktizieren wollten, aber nicht schnell genug unterbrachen. Ich werde in diesem Punkt nicht mit mir reden lassen.

14 juillet 1942

Ich hatte gerade mit Maman den schlimmsten Streit meines Lebens. Henri hat mir seit letzter Woche alle möglichen Geschenke gegeben, sechs Eier, zwei Kilo Kartoffeln und eine ganze Einkaufstasche voll frischem Gemüse vom Bauernhof seines Onkels und schließlich ein Huhn. Ich dachte, Maman und Rivka würden sich riesig freuen. Das taten sie bestimmt auch, aber dann fing Maman gestern davon an, wieso uns plötzlich solche Großzügigkeit zuteil wird. Ich wehrte sie mit einem Witz ab und zog mich in meine Studien zurück.

Dann stand sie heute Morgen vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, und sagte: »Yakova, lüg mich nicht an. Schläfst du mit diesem Henri?«

»Mutter«, sagte ich, »erstens ist mein Name Jacqueline. Das ist mein gesetzlicher Name, das ist der Name, den ich benutze, und das ist der einzige Name, auf den ich höre. Mich Yakova zu nennen ist nur ein Trick, damit ich mir wie ein Kind vorkomme. Zweitens lüge ich dich nie an. Ich habe zu viel Achtung vor beiden von uns. Wenn du mich in der Vergangenheit gefragt hast, habe ich dir immer wahrheitsgemäß geantwortet. Es wäre mir lieber, du würdest mich zu diesem Thema nicht befragen, da das meine eigene, private Entscheidung ist.«

»Schläfst du mit ihm?«, wiederholte sie.

»Jawohl«, sagte ich.

Sie ohrfeigte mich und nannte mich eine Hure! Sie sagte, sie wolle solches Essen nicht, und ging so weit, Kartoffeln auf den Fußboden zu werfen. Sie sagte mir, ich hätte ab sofort Hausarrest und dürfe Henri und keinen dieser zwielichtigen Freunde je wiedersehen. Ich sagte, das sei völliger Unsinn und ich hätte eine Verabredung mit ihm, die ich auch einzuhalten gedächte. Er sei mein Freund, der wegen seiner Solidarität zu mir zusammengeschlagen worden sei, und wir könnten alle Freunde brauchen, die wir nur hätten. Ich sagte ihr nicht, dass Céleste und Henri und ich heute Exemplare einer neuen Untergrundzeitung abholen wollen, als Beitrag zu den ungesetzlichen Feiern zum Tag der Bastille.

Sie ohrfeigte mich wieder, mehrmals, und verlor, glaube ich, völlig die Beherrschung. Wir begannen beide, uns anzukreischen wie die Straßenhuren. Schließlich habe ich mich eine halbe Stunde lang ins Badezimmer eingeschlossen, bis ich meine Beherrschung wiedergefunden hatte, und die ganze Zeit über hämmerte sie an die Tür, so dass alle Nachbarn es gehört haben müssen. Dann habe ich ein paar Sachen in meinen alten Rucksack gepackt und bin in die Rue Royer Collard gekommen, wo ich ab jetzt bleibe.

Ich bin wütend auf sie. Sie hat überhaupt keinen Versuch unternommen, meinen Standpunkt zu verstehen, und so einen völligen Mangel an Achtung vor meinem Urteilsvermögen und meinem Charakter gezeigt. Ihre Schimpfkanonade war hässlich und gefühllos. Die simple Wahrheit ist, wenn ich nicht die Sorge um Rivka und Maman am Hals gehabt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich nie mit Henri eingelassen. Dabei fällt mir ein, ich muss verhindern, dass Henri dieses Tagebuch liest, da ich ihn in solchen Dingen nicht für so gewissenhaft halte, wie ich es von Maman immer angenommen habe. Jetzt bin ich mir offen gestanden nicht mehr so sicher.

Ab morgen haben sich diese Ungeheuer übrigens etwas Neues ausgedacht, wie sie uns peinigen können. Es ist uns verboten, in Restaurants, Cafés, Bibliotheken und Museen zu gehen oder öffentliche Fernsprecher zu benutzen, und wir dürfen nur im letzten Wagen der Metro fahren. Viele Läden sind uns gänzlich untersagt, und wir dürfen nur zwischen vier und fünf einkaufen, wenn sowieso alles ausverkauft ist, und nur an bestimmten Tagen. Solange ich bei Henri bleibe, habe ich meinen gelben Stern abgelegt, da unser Zusammenleben natürlich verboten ist, und ich werde nicht eher nach Hause zurückkehren, als bis Maman sich für die rohen Schimpfwörter entschuldigt hat und dafür, wie sie mich geohrfeigt hat (mehrmals). Darin bleibe ich fest. Ich habe nichts Schändliches getan, und ich schäme mich nicht – außer dafür, wie sie mich behandelt!

Eine gute Lösung ist das nicht, denn wenn ich bei Henri bleibe, muss ich den gelben Stern entfernen, aber mein Ausweis – den wir zwanzigmal am Tag vorzeigen müssen – trägt in großen roten Buchstaben den Stempel JUIVE.

Ich habe mich etwas mehr daran gewöhnt, mit Henri zu schlafen. Er fragt mich immer, ob ich gekommen bin, und ich sage wahrheitsgemäß, dass ich das bezweifle, aber dass ich gar nicht weiß, was das für ein Gefühl ist. Ich fange jedoch an, das Vorspiel zu genießen. Küssen und Streicheln müssen nicht notwendig als sentimentaler Zeitvertreib angesehen werden, sondern haben aufgrund ihres sinnlichen Gehalts durchaus ihre Berechtigung, finde ich.

Mit Henri zusammenzuleben ist jedoch nicht sonderlich gemütlich. Mit Maman und Rivka habe ich meine gewohnten Regeln. Es ist einfacher, zu Hause für mein Studium zu lernen, und ich habe nur mitgenommen, was ich auf dem Rücken tragen konnte. Ich vermisse meine Bücher, meinen Sessel, meine café au lait-Tasse mit den Möwen drauf, die Papas copain Georges aus Dänemark mitgebracht hat. Henri hat keinerlei hausfrauliche Talente, und das WC auf dem Flur ist widerwärtig. Das Haus besteht aus winzigen Ein- und Zweizimmerwohnungen, wovon mehrere an Prostituierte vermietet sind, deren Kunden die ganze Nacht lang die Treppe hinunterpoltern. Ich werde Maman ein oder zwei Tage geben, um sich abzuregen, und dann werde ich erscheinen, wieder ganz die Alte, und sehen, ob wir Frieden schließen können.

Die Szene verfolgt mich mit ihrer Eruption von Unvernunft, der in uns beiden entfesselten Gewalt – wie sie mich schlägt und die Kartoffeln hinwirft – und der Heftigkeit unserer Gefühle. Ich weiß nicht, warum ich nicht so ruhig bleiben konnte, wie ich es mir vorgenommen hatte, aber je mehr sie außer sich geriet, desto mehr wiederum geriet ich außer mich vor Zorn, ein böser Kreislauf. Jedes Mal, wenn ich an diese hässliche Szene denke, bin ich entsetzt, wie wir uns benommen haben, wie wir unsere Würde verloren haben und wie wir aneinander vorbeigeredet haben. Ich bin entschlossen, wieder in Frieden mit ihr zu leben, aber zu vernünftigen Bedingungen.

16 juillet 1942

Ich kann fast nicht schreiben. Ich habe so lange geweint, dass meine Augen geschwollen sind und brennen und meine Nebenhöhlen völlig verstopft sind.

Maman und Rivka sind von der Polizei in einem Bus abgeholt worden – nicht allein, sondern mit abertausend anderen. Die Polizei hat gestern fünf Arrondissements abgeriegelt und macht heute weiter, die französische Polizei – annähernd tausend Polizisten, soweit ich erfahren konnte – hat zahllose Juden verhaftet, Männer, Frauen, Kinder, alte Leute, kleine Babys, schwangere Frauen, einfach alle. Die Polizei zwang die Menschen mitzukommen, nur mit dem, was sie gerade tragen konnten, und verlud sie in alte grüne Busse. Eine Zeitung schreibt, zehntausend Juden wurden verhaftet, eine andere Zeitung schreibt achtzehntausend, wieder eine andere schreibt achtundzwanzigtausend. Aber alle Zeitungen finden es eine wunderbare Idee und sind voll des Lobes, dass das Neue Europa von solchen Läusen wie uns befreit wird.

Mir ist übel, und ich fühle mich zu elend, um noch etwas zu schreiben.

18 juillet 1942

Ich habe all meine Kraft darauf verwandt herauszufinden, wo Maman und Rivka festgehalten werden und was mit ihnen geschehen wird. Mir will nicht in den Kopf, wie sie Rivka etwas anhaben können, schließlich ist sie hier geboren, eine französische Jüdin von Geburt an. Und Maman ist vor zwanzig Jahren naturalisiert worden. Es erweist sich als sehr gefährlich, nach Maman und Rivka zu forschen, denn natürlich steht auch mein Name auf der Liste, die sie benutzen, um Leute abzuholen, und ich bin nur durch den Streit entkommen. Wäre ich doch bloß bei ihnen, dann könnte ich meinen kühlen Kopf einsetzen und mir die beste Strategie überlegen.

Es ist unglaublich heiß diese Woche, la canicule. Paris ist nicht geschaffen für derartige Sommerhitze. Henris Zimmer ist einfach zu heiß, um darin zu schlafen. Wir sind sehr früh aufgestanden und hinausgegangen, hinunter an den Fluss, wo es ein bisschen kühler ist. Es ist nicht ungefährlich, auf der Straße zu sein, wenn so wenige unterwegs sind. Henri hat begonnen, seine Schwarzmarktbeziehungen anzuzapfen, um mir einen neuen Ausweis zu besorgen – einen arischen, wie es jetzt heißt.

Aber neue Ausweise kosten sehr viel, und ich habe überhaupt kein Geld. Ich entdecke, dass ich äußerst ungern von Henri abhängig bin, und Henri ist ebenfalls überrascht davon, wie schnell sich die Situation zugespitzt hat. Ich habe das Gefühl, er möchte nicht, dass ich bei ihm wohne, obwohl er nichts gesagt hat. Anfangs fand er es toll, aber jetzt beginnen ihm die Folgen der Situation aufzugehen. Nun hat er mich am Hals, eine Jüdin, die sich verstecken muss, keinerlei Einkünfte hat, von der Universität geflogen ist und ständig weint.

19 juillet 1942

Ich habe herausbekommen, wo Maman und Rivka eingesperrt sind. Sie haben alle mit Kindern ins Vel d’Hiv gebracht, eine glasüberdachte Rennbahn mit großen Tribünen, wo im Winter Fahrradrennen stattfinden. Ich habe erfahren, dass tausende dort festgehalten werden. Vielleicht überprüfen sie ja bei allen die Ausweise. Rivka ist hier geboren, und Maman wurde mit achtzehn naturalisiert und hat obendrein einen hier geborenen französischen Juden geheiratet. Ich rechne damit, dass sie auf freien Fuß gesetzt werden, aber bisher scheint noch niemand entlassen worden zu sein. Ich kann nicht in Erfahrung bringen, weswegen sie festgehalten werden.

20 juillet 1942

Ich bin zufällig Daniela begegnet, sie ist auch entkommen. Sie sagte, sie sei durch das Netz gewarnt worden, unmittelbar bevor es passierte, so dass sie und ihre Eltern um drei Uhr früh mit nichts aus der Wohnung flohen. Sie sind gerade noch durchgeschlüpft, bevor der Polizeikordon sich geschlossen hat. Sie sagt, mit guten Papieren könnte ich durchkommen und sie wüsste, wo welche zu kriegen sind. Aber dafür brauche ich unbedingt Geld. Sobald ich nicht-jüdische Ausweispapiere habe, kann sie mir Arbeit in einem Krankenhaus besorgen, schlecht bezahlt, aber genug für den Lebensunterhalt. Ich muss mir das Geld für die Papiere besorgen, und zwar schnell.

Ich ging nach Hause und bat Henri, seinem Vater zu sagen, er habe ein junges Mädchen geschwängert und brauche Geld für eine Abtreibung. Denn ich denke, sein Vater wird es ihm geben, zusammen mit einer Moralpredigt, von der beide kein Wort glauben werden. Henri bekam es mit der Angst, war aber einverstanden. Das wächst ihm alles über den Kopf. Er wollte nicht einmal mit mir schlafen. Nach meiner Einschätzung ist das keine stabile Situation.

Daniela ist meiner Meinung, dass wir herausbekommen müssen, was mit unserem Volk im Vel d’Hiv geschieht. Wir haben unsere Privatuni in aller Form aufgelöst. Wir glauben beide, sichtbare jüdische Organisationen ins Leben zu rufen bedeutet nur, sich in Reih und Glied zum Abschuss aufzustellen. Daniela sagt, dass wir Widerstand leisten müssen, aber bis jetzt hat sie noch nicht gesagt, wie. In meinen Augen ist das nichts als heiße Luft, als sagte ein machtloses, zorniges Kind zu jemandem, der ihm wehgetan hat: Dich kriege ich. Dir werd ich’s zeigen.

21 juillet 1942

Das wenige, was ich in Erfahrung bringen konnte, ist erschreckend. Man erzählt sich, dass mindestens einhundertdreißig Tote dort hinausgetragen worden sind, darunter zwei schwangere Frauen, die offenbar in den Wehen gestorben sind. Wir hören, dass dort mindestens fünfzehntausend Menschen, darunter fünftausend Kinder, ohne Wasser oder Nahrung eingesperrt sind. Ich kann das nicht glauben, ich kann nicht glauben, dass die französische Polizei meiner Mutter und meiner Schwester das antut, und doch muss ich es glauben. Ich kann nicht essen oder schlafen. Ich halte Nachtwache.

Henri wird heute mit seinem Vater reden. In diesem Moment ist es mir gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe. Hätte ich doch nur nicht Henri nachgegeben, hätte ich mich doch nur nicht mit Maman gestritten und wäre jetzt bei ihr! Ich fühle mich so schuldig wie die Nazis, ich fühle mich, als hätte irgendwie ich Maman das angetan. Ich habe nur noch den Wunsch, ein großer Lastwagen würde mich auf der Straße überfahren.

Maman hat recht. Ich bin nichts als eine Hure, die für ein paar Kartoffeln und Eier fickt, und für ein paar freundliche Worte inmitten einer Stadt, die vor Hass überkocht. Von all den Menschen, die auf den Straßen waren und sahen, wie ganze Familien von der Polizei weggeschleppt wurden, versuchte niemand zu helfen, versuchte niemand, die Polizei aufzuhalten. Ich habe gehört, dass einige Nachbarn die Polizisten angefeuert haben, darunter auch die Laroques, deren Hund wir immer gefüttert haben, wenn sie verreist waren.

Sechs Tage ohne Wasser und ohne einen Bissen zu essen, wie können sie das überleben? Maman ist stark, aber sie ist neununddreißig und auch nur aus Fleisch und Blut. Rivka ist zäh, aber noch ein Kind und jetzt schon unterernährt.

Wenn ich ihnen mein Blut zu trinken geben könnte, ich würde es ohne ein Wort tun.

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

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