Читать книгу Ich, eine schlechte Mutter - Marguerite Andersen - Страница 8

WARUM

Оглавление

– Aber nein, Marguerite, mach dir deswegen doch keine Sorgen. Warum soll es plötzlich heißen, wir hätten unter diesem … wie soll ich sagen … bewegten … Leben gelitten, das du uns beschert hast?

– Meinetwegen habt ihr in sechs Ländern gelebt, auf drei Kontinenten. Dir hat es ja gefallen …

– So haben wir was von der Welt gesehen.

– Seien wir doch ehrlich: Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich euch im Stich gelassen. Zurückgelassen. Und ihr wart noch klein.

– Wir haben’s überlebt.

– Anderthalb Jahre. Ganze anderthalb Jahre waren wir getrennt.

– Stimmt. Aber du, eine schlechte Mutter?

– Michel, lass mich ausreden, damit ich es dir sage, es dir zeige, du wirst erkennen, dass ich recht habe, fall mir nicht ins Wort, ich habe das Bedürfnis, all meine Fehler zu bekennen, all das, was mir leidtut, genauer hinzusehen, durch dieses Nadelöhr muss ich durch, danach reden wir nie wieder darüber, versprochen. Ich weiß, ihr würdet gern glauben, dass das Leben immer heiter ist, die Kernfamilie, wie es so schön heißt, immer glücklich, die Kinder intelligent und gesund, die Welt beinahe vollkommen … und dass alle Mütter gute Mütter sind …

– Mach mal bitte halblang!

– Wie könnt ihr so was glauben, wenn ihr doch genau wisst, dass dem nicht immer so ist?

– Was willst du denn hören? Martin hat es unbeschadet überstanden, er macht keinen leidenden Eindruck, die Kleine auch nicht, und für mich gilt das Gleiche. Wir werfen dir nichts vor.

– Da habe ich ja Glück …

– Wir respektieren dich.

– Das weiß ich. Aber ich werfe mir meine Fehler vor.

– Jeder macht Fehler.

– Sicher. Aber die Fehler einer Mutter … Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich euch allein gelassen.

– Hör mal, Mama … In deinem Alter …

– Eben. Bevor ich für immer die Augen schließe, wie es so schön heißt, muss ich …

– Was? Musst du dich quälen?

– Muss ich Bilanz ziehen, ehrlich, ganz ungeschönt.

– Wozu?

– Damit alles etwas klarer wird.

– Aber du hast uns doch nicht misshandelt!

– Bloß vernachlässigt, schikaniert, manchmal sogar ignoriert … Vor allem Martin …

– Warum?

– Er war schwieriger …

– Als ich? Wirklich?

– Ja. Aber das ist nicht weiter wichtig.

– Worum geht es eigentlich?

– Es beginnt mit Martin, 1945 gezeugt, ein Prachtfrühling in diesem Jahr, Hitler ist tot, der Krieg vorbei, die Welt jubelt, die Freiheit ist zum Greifen nah.

– Du immer mit deinen alten Geschichten …

– Diesmal halte ich mich nicht mit historischen Details auf. Es geht um mehr oder weniger klare Gefühle, um simpelste Fakten. Ausgewählt wird immer das Eindrücklichste. Als würde ich mir Notizen machen. Poesie und Prosa … Mit oder ohne Zeichensetzung …

– … eine Stilübung?

– Auf keinen Fall!

– Eine neue Methode der Selbstfolter?

– Auch nicht.

– Was dann?

– Eher eine Art von Suche … Wie all meine Bücher. Wie viele Bücher.

– Suche nach Transparenz1?

– Ein Tasten … Worte, die fehlen … Worte, die ungesagt blieben …

– Zögerst du noch?

– Hör zu, mein Sohn: Danke, aber jetzt geh nach Hause! Ich muss mich ransetzen. Allein!

1So, wie Jean Starobinski den Begriff geprägt hat, der in Rousseau: eine Welt von Widerständen (OA 1957) Rousseaus Suche nach Transparenz Etappe für Etappe nachverfolgt.

Ich habe mir immer gelobt nicht zu sterben ohne vollbracht zu haben, was ich Andern anrieth: eine aufrichtige Erforschung des eignen Wesens und eine aufmerksame Prüfung des eignen Daseins. George Sand2

2Geschichte meines Lebens, übersetzt von Claire Glümer. [A. d. Ü.]

Ich, eine schlechte Mutter

Подняться наверх