Читать книгу Ich, eine schlechte Mutter - Marguerite Andersen - Страница 9

BESCHLOSSENE SACHE

Оглавление

Herbst 1943. Berlin.

Ich bin acht, als Hitler die Macht ergreift, mein Vater seiner Ämter enthoben, fünfzehn, als der Zweite Weltkrieg erklärt wird. Ich schließe gerade die Oberstufe ab, habe vor, französische Sprache und Literatur zu studieren, als sich die Tore der Philologischen Fakultät schließen. Zum Kriegsdienst verdonnert, katalogisiere ich den lieben langen Tag unzählige Röntgenaufnahmen von Studentenlungen in einem Büro der Berliner Universität.

Das war nicht lustig.

Die Hauptstadt unterm Bombenhagel

Dreitausend Tote in zwei Nächten

vom 18. zum 19. und vom 22. zum 23. November 1943

Brände

Ruinen

Asche überall

am Boden

in der Lunge

Zerfetzte Körper, die man wegbringt

verscharrt

vergisst

schnell

ergreife ich die Flucht

setze den unvermeidlichen Kriegsdienst

im Kinderhort eines österreichischen Dorfes fort.


Frühling 1945. Schwarzenberg, Österreich.

Vorbei, der Krieg. Im Radio wird verkündet, der Führer sei tot. Gut so.

Heimkehren. Heimkehren nach Berlin.

Zu uns.

Drei Frauen, zwei Kinder: meine Mutter, meine Schwester Christa mit ihren beiden Kleinen, ich. Es soll Züge geben.

Vollgestopft mit heimkehrenden Frauen. Frauen, die von ihrem Unglück erzählen werden, ohne damit aufhören zu können, müde Kinder, ungeduldig, mangelernährt, lauthals brüllend.

WCs, deren Türen kaum schließen oder sogar weit offenstehen, stinkend nach abgestandenem Urin, Erbrochenem, billigem Desinfektionsmittel.

Sich durch Schweigen wappnen.

Nichts eindringen lassen.

Sich mit einem Platz im Gang begnügen, auf seinen Koffer setzen.

Mein Koffer, meine Mutter, meine Schwester, mein Neffe, meine Nichte.

Der Vater in Berlin.

Das Haus – steht noch.

Die Familie. Ein Leben, wie es sich gehört.

Wie es sich gehört?

Stehende Wendung, die neu bestimmt werden muss.

Denn nichts gehört sich mehr

nichts ist mehr wie früher.

Da gab es die Vernichtung von sechs Millionen Menschen, verdinglicht, ermordet, stets gegenwärtig, vor unseren grauen Gesichtern, unseren gesenkten Augen.

Die Scham.

Angst, deutsches Wort, denkt man dran, beißt man die Zähne zusammen.

Ich selbst bin feige. Ich bin zwanzig und will leben.

Ohne Angst, ohne Scham, ohne Hunger oder Durst.

Dem Elend den Rücken zukehren.

Warten.

Beim Warten

eine andere Sprache sprechen

lachen

mich lösen.

Mit dem französischen Geliebten in der schönen Wohnung leben, die von der Armee beschlagnahmt wurde.

Es wird noch andere Züge geben.


Der französische Geliebte erzählt von Tunis, wo er geboren wurde. Wohin er heimkehren wird.

Ob das eine Einladung ist? Nordafrika, die Ehe, ein Tor zur Freiheit?

Ich spüre, wie mir Flügel wachsen.

Ich, eine schlechte Mutter

Подняться наверх