Читать книгу Nanne - Eine Kindheit im 2. Weltkrieg und Jugend in der DDR - Marianne Heinrich - Страница 9
ОглавлениеTante Frieda
In der Sommerferien durften meine Schwester und ich allein verreisen. Meine Schwester Ruth fuhr zu ihrer geliebten Tante Frieda nach Bautzen und ich war froh, dass ich immer zu „Mutter und Vater“, wie unsere Großeltern genannt wurden, nach Wehrsdorf fahren durfte. Die Versuche meiner Mutter mich auch mal zu Tante Frieda und Onkel Oskar zu schicken waren nach einigen Besuchen meinerseits auf beidseitigem Verlangen eingestellt worden. Tante Frieda fand mich zu ungezogen, sie konnte mich einfach nicht leiden, verglich mich immer mit meiner großen Schwester und zwang mich zu sehr fragwürdigen Verhaltensregeln.
Als das nicht klappte und sie weggeworfene Buttersemmeln im Gully fand, wurde ich verdroschen. Ich weiß heute noch, dass ich furchtbar geheult habe und ins Treppenhaus gerannt bin, dort lief ich die Treppen hoch, bis zu den Bodenkammern. Als ich einen alten Kinderroller fand, fuhr ich damit die Steintreppen hinunter. Wie weit ich gekommen bin, weiß ich nicht mehr, nur dass meine Knie aufgeschlagen waren, ich noch mehr Dresche von meiner Tante bekam und ich noch mehr heulte. Ein gerade bei der Tante zu Besuch weilender Onkel Martin versteckte mich auf dem Sofa hinter seinem Rücken. Ich musste danach zum Glück nach Hause, dort wartete das nächste Donnerwetter meiner Mutter, aber das Gute an der ganzen Sache war, dass ich nie wieder zu Tante Frieda musste.
Im Nachhinein betrachtet war manches aber dort auch schön. Da gab es ein kleines Regal im Flur, hinter einem geblümten Vorhang standen viele Gläser mit selbstgemachter, wunderbarer Erdbeermarmelade. Außerdem machte Tante Frieda Heimarbeit. Sie hatte einen Nähtisch mit vielen kleinen Fächern, in dem viele verschiedene Teile aus Chenille und kleine Papptellerchen mit Moos waren, dazu gab es noch Pappknöpfchen, Hüte, Bäume und Blumen. Daraus konnte ich wunderschöne Gebilde zaubern, obwohl ich völlig unbegabt für solche Sachen war. In der Schule hieß es zum Thema Handarbeit auch immer: „Nanne leider eine Vier, aber auch nur wegen des Fleißes.“
In dem ziemlich altertümlichen Wohnzimmer meiner Tante gab es zwei weitere Sachen, die ich liebte: Das Grammophon und eine große Pralinendose aus Porzellan. Zum Grammophon gab es einige Schallplatten, eine konnte ich gar nicht genug hören, sie ging so: „Ich wünsch' mir eine kleine Ursula, mit strahlend blauen Augepaar, sie brauch' nicht größer als mein Püppchen sein, ich leg' sie dann in mein Puppenbettchen rein!“
Aber ich war trotzdem froh, dass ich jetzt lieber immer meine Großeltern in Wehrsdorf besuchen konnte.
Da ging es frühmorgens mit Kiepe, Blechkrug und scharfem Messer, sowie Butterbroten in den Wald zum Pilze sammeln und Heidelbeeren pflücken. Das war ganz ein Leben nach meinem Geschmack.
Mein Opa war Heizer in einer Knopffabrik. Die Wohnung meiner Großeltern befand sich in dem großen Fabrikhaus. Unten befanden sich die Büros der Firma, oben die Wohnung eines alten, herrschaftlichen Fräuleins und daneben die Wohnung meiner Großeltern. Eine Etage darüber waren die Schlafkammern und ganz oben ein sagenhafter Dachboden.
Meine Oma hatte in diesem tollen Fabrikhaus mit Wiesen, Bächen, Obst- Gemüse- und Blumengärten und Beerenbeeten den Hausmeisterinnen-Posten inne und ich somit Zutritt zu allem.
1943 lernte ich dort auch meine Cousins aus Münster kennen, welche wegen des Krieges aufs Land geschickt wurden. Zu dieser Zeit wohnten durch den Krieg bedingt auch einige Flüchtlingsfamilien in dem großen Haus. Dass es einen Krieg gab, wusste ich zwar jetzt, aber als 9-Jährige war mir noch nichts über Gründe und Auswirkungen bewusst.
Mit einem Mädchen in meinem Alter freundete ich mich an und eines Tages entdeckten wir gemeinsam den tollen, riesengroßen Dachboden. Da war es warm und dämmrig und durch die Ritzen des Daches drang nur wenig Licht und auf den spärlichen Sonnenstrahlen tanzten viele Staubkörnchen.
Über den ganzen Dachboden waren Wäscheleinen gespannt, aber an ihnen hing keine Wäsche, sondern grünliche, halb verwelkte Blätter, fein säuberlich aufgereiht, deren Bedeutung ich aber erst viel später kennenlernen sollte.
Wir stöberten überall herum und fanden richtige Schätze, wie eine alte Dampflok, eine Dampfmaschine und anderes Blechspielzeug, alte Puppen und Teddybären, Kisten mit Kleidern und Hüten aus längst vergangenen Zeiten. Sogar ein cremefarbener, zerschlissener Sonnenschirm war dabei, den ich mit nach unten nahm.
Wenn wir vom Dachboden genug hatten, verzogen wir uns ein Stockwerk tiefer und suchten nach flachen Pappkartons. Aus diesen bastelten wir für jede eine Puppenstube, die Möbel fertigten wir aus leeren Streichholzschachteln. Auf dem Fußboden haben wir so manchen verregneten Nachmittag verbracht und gespielt.
Die Ferien vergingen wie im Flug, dann ging es wieder nach Hause nach Ebersbach. Mit meinem kleinen Rucksack marschierte ich Richtung Sohland zur Bahnstation, das waren immerhin 45 Minuten strammes Gehen! Manchmal bin ich auch per Anhalter gefahren. Das war jedoch nicht sehr einfach, weil zu dieser Zeit noch wenig Autos unterwegs waren. Hatte ich jedoch geschafft jemanden anzuhalten, war ich sehr stolz und bemüht, hochdeutsch zu sprechen und kein sächsisch, was mir später übrigens sehr geholfen hat.