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Dann eines Tages erlebte Julia eine böse Überraschung.

Robert hatte sie von der Firma abholen wollen, aber er war nicht gekommen. Das war ganz ungewöhnlich, denn Pünktlichkeit gehörte zu seinen Tugenden. Sie hatte sich dann auf den Weg in die Stadt gemacht, in der Gewißheit, daß sie ihm unterwegs begegnen müßte. Aber vergeblich hielt sie Ausschau nach ihm und seinem Motorrad.

Als sie die väterliche Wohnung betrat, klingelte das Telefon. Noch im Trench, lief sie hin und nahm ab.

Es war Robert. Seine Stimme klang fremd. »Entschuldige, ich konnte nicht …« begann er, um sich dann sofort selbst zu unterbrechen. »Kannst du herkommen? Bitte!«

»Sofort? Ja, natürlich. Ist was passiert?«

Aber da hatte er schon aufgelegt.

Julia nahm sich nicht die Zeit, in den Spiegel zu blikken; sie rannte direkt los.

Schon von weitem sah sie Roberts Mutter, die gerade das Haus verließ.

»Ida!« rief sie und beschleunigte ihren Schritt.

Aber falls Roberts Mutter sie gehört hatte — und Julia war sich dessen ziemlich sicher —, so reagierte sie doch in keiner Weise. Sie wandte ihr nicht einmal das Gesicht zu, geschweige denn, daß sie stehengeblieben wäre. Sie überquerte die Fahrbahn und stieg in ihr Auto.

Einen Augenblick lang wußte Julia nicht, was sie tun sollte — sie aufhalten oder bei Robert klingeln. Ehe sie noch zu einem Entschluß kam, hatte Ida Palmer ihren Wagen aus der Parklücke rangiert und fädelte sich in den Verkehr ein. Julia wollte ihr nachwinken, ließ die Hand dann aber wieder sinken. Sie hatte begriffen, daß es sinnlos gewesen wäre.

Robert begrüßte sie mit ungewohnter Leidenschaft. »Mein Liebling, daß du endlich da bist!«

»Schneller ging’s wirklich nicht.«

»So habe ich es nicht gemeint.«

Sein Gesicht war gefährlich gerötet, wie sie es noch nie erlebt hatte. Instinktiv versuchte sie ihn durch gewollte Nüchternheit zu beruhigen.

»Hilf mir erst mal aus dem Mantel, ja?«

Er tat es und warf ihn über einen Stuhl.

»Nicht doch!« Sie nahm den Trench und hing ihn sorgfältig auf einen Bügel; es war ihr verhaßt, wenn Kleidungsstücke unsachgemäß behandelt wurden.

Das Kleid, das sie trug, war ein schlichtes graues Modell aus Schurwolle, kostbar — sie hatte es gebraucht aus der Kollektion gekauft. Wie gewöhnlich wollte sie es mit ihrem Seidentuch aufputzen.

Er riß es ihr aus der Hand. »Laß das jetzt!«

»Du hast ja recht«, sagte sie friedfertig. »Erzähl mir jetzt lieber …«

Er zog sie wieder in die Arme. »Liebling, du mußt mir helfen! Ich brauche dich so sehr!«

Sie hatte das Gefühl, daß er eine Auseinandersetzung mit seiner Mutter bei ihr abreagieren wollte; einerseits schmeichelte ihr das, andererseits war es ihr aber auch unangenehm.

»Immer mit der Ruhe«, sagte sie, als er sie endlich freigab. »Der Himmel wird ja nicht gleich einstürzen, und du weißt doch, daß ich immer zu dir halte.« Sie nahm ihm das Seidentuch ab und legte es über den Trench. »Also, was ist geschehen?«

»Meine Mutter ist wütend!«

»Das habe ich gemerkt. Sie schoß aus dem Haus wie eine kampfbereite Amazone. Es fehlten nur Pfeil und Bogen.«

»Findest du das komisch?«

»Ein bißchen schon. Oder wäre es dir lieber, wenn ich gekränkt wäre? Sie hat mich glatt übersehen. Gestehe, Schurke, was hast du getan?«

»Getan? Nichts.«

»Womit hast du sie so auf die Palme gebracht?«

Offensichtlich fiel es ihm schwer, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich hätte nie gedacht, daß sie sich so aufregen würde!« murmelte er. »Gehen wir auf mein Zimmer, ja? Dann werde ich dir alles in Ruhe erzählen.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie mit sich fort. »Mach’s dir bequem. Was willst du hören? Ich habe die Nußknackersuite von Tschaikowsky aufgelegt.«

Sie hatte die Schuhe abgestreift und sich auf die Couch gesetzt. »Nein«, entschied sie, »ich glaube, nach Musik ist mir jetzt nicht zumute.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Komm einfach her zu mir!«

Gehorsam setzte er sich zu ihr. Sie streckte sich lang aus, legte den Kopf an seine Brust und schloß die Augen. So, ganz entspannt und in ihrer Lieblingsstellung, fühlte sie sich allem und jedem gewachsen. Ein leises Lächeln der Überlegenheit spielte um ihre Lippen.

Seine Hand umschloß die ihre. »Ich werde mein Studium aufgeben«, erklärte er schlicht.

Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Diese Neuigkeit war wie ein Schlag ins Gesicht. Es kostete sie ungeheure Kraft, nicht aufzuspringen und laut loszuschreien. Doch von einer Sekunde zur anderen verstand sie, warum seine Mutter so wütend reagiert hatte. Aber das hatte Ida Palmer nichts weiter gebracht, als daß sie sich in seinen Augen unfair verhalten hatte. Sie, Julia, durfte nicht den gleichen Fehler machen.

»Warum?« fragte sie tonlos.

»Ich wußte, du würdest mich verstehen!« meinte er erleichtert.

Sie staunte, wie wenig er sie doch kannte.

»Sieh mal, das Studium«, fuhr er fort, »würde viel zu lange dauern. Mindestens noch fünf Jahre, wenn ich mich sehr beeile, und selbst dann wäre ich nichts weiter als ein popeliger Assistenzarzt. Damit könnte ich keine Frau ernähren.«

» Wer erwartet denn von dir, daß du irgend jemanden ernährst?« fragte sie sanft.

»Ich!« erwiderte er. »Ein Mann, der die Frau, die er liebt, nicht versorgen kann, ist eine Niete.«

»Das würde ich nicht so sehen.«

»Weil du eine Frau bist.«

»Ja, sicher. Ich bin eine berufstätige Frau. Du weißt, ich verdiene gut und habe schon damit begonnen, für deine spätere Praxis zu sparen.«

»Süße!« Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn. » Aber gerade das will ich nicht. Du gibst damit zu, daß ich eine Belastung für dich bin.«

»Eine Belastung? Du? Jetzt spinnst du aber wirklich.«

»Jedenfalls in finanzieller Hinsicht, Begreifst du denn nicht, daß ich dir mehr bieten möchte als Picknicks im Wald und Kuscheleien auf dem Sofa?«

»Mir genügt es.«

»Mir aber nicht.«

Sie setzte sich auf, so daß sie ihm fest in die Augen sehen konnte. »Du willst ganz mit mir zusammen sein?«

»Ja.«

» Aber wer hindert dich denn daran? Ich warte ja nur darauf.«

»Ich will dich heiraten. Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich den Wunsch, dich zu heiraten.«

»Dann tu es doch.«

»Und von was sollen wir leben? Wo sollen wir leben? Hier? Bei meiner Mutter etwa? Und wenn ich ausziehen würde, hätte ich noch weniger Geld. Nein, Liebling, so nicht. Wenn wir heiraten, sollst du zumindest deinen eigenen Haushalt haben.«

»Aber warum müssen wir denn heiraten? Schon so bald, meine ich?« Tränen stiegen ihr in die Augen, und Julia hielt sie nicht zurück. Sie hoffte, ihn dadurch erweichen zu können. »Wir könnten doch auch ohne Trauschein genauso glücklich miteinander sein.«

»Das wäre etwas anderes«, erwiderte er stur.

»Laß es uns doch wenigstens versuchen.« Plötzlich öffnete sie den Reißverschluß ihres Kleides, sprang auf und schüttelte es von sich; dieses eine Mal dachte sie nicht daran, es ordentlich hinzulegen oder wenigstens aufzuheben. Sie lief zum Fenster und zog die Vorhänge zu, so daß es dämmrig in dem großen Zimmer wurde. Damit nicht zufrieden, zündete sie die Kerze an, die in einem Messingleuchter auf dem Schreibtisch stand. Entschlossen streifte sie ihren Slip und die Strümpfe ab und warf sich nackt in seine Arme. »Ich liebe dich so, Robert! Lieber, lieber Robert!« Tränen flossen ihr über die Wangen.

Als sie sich an ihn schmiegte und ihre Lippen auf die seinen preßte, spürte sie, wie seine Leidenschaft erwachte. Aber wie eh und je war er krampfhaft bemüht, sich zurückzuhalten. Diesmal aber half sie ihm nicht. Sie war entschlossen, ihn zu verführen, und sie scheute kein Mittel, ihr Ziel zu erreichen. Nur mit dem Geschenk ihres Körpers glaubte sie, ihn von seinem verrückten Plan abhalten zu können.

Sie erreichte es schließlich, daß er in sie drang. Selbst empfand sie keine Wollust, es tat nur weh — ein scharfer, stechender Schmerz, den sie nicht erwartet hatte. Dennoch machte das Gefühl des Triumphes, die Gewißheit, ihn endlich ganz erobert zu haben, sie unermeßlich glücklich. Er hatte leise aufgeschrien, als er seinen Höhepunkt erreichte. Auch danach hielt er sie fest in den Armen, und sie schmiegte ihr Gesicht an seine nackte Brust.

»Das hätten wir nicht tun sollen«, keuchte er.

»Aber es war doch schön. Gib zu, daß es schön für dich war.«

»Ich habe es nicht gewollt.«

»Ich weiß, ich weiß. Nun ist es eben passiert.«

»Verzeih mir!«

»Daß du mich liebst?«

Es lag ihr auf der Zunge zu fragen, ob er nicht einsähe, daß überhaupt keine Notwendigkeit bestand, sein Studium aufzugeben, um mit ihr zusammenzusein. Aber sie verkniff sich die Frage, um ihm nicht zu verraten, daß sie versucht hatte, ihn zu manipulieren.

»Wir müssen sobald wie möglich heiraten«, erklärte er.

Sie schaute überrascht zu ihm auf. Sie hatte genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen wollte. »Nein«, sagte sie entschieden.

»Und wenn du nun ein Kind bekommst?«

»Nach dem ersten Mal? Sehr unwahrscheinlich.«

»Aber wenn doch?«

»Bleibt uns immer noch Zeit, darüber nachzudenken,« Sie löste sich von ihm und sprang aus dem Bett.

»Wo willst du hin?«

Sie raffte ihre Wäsche und ihr Kleid zusammen. »Ins Bad.«

»Und wenn Mutter kommt?«

»Das ist nicht so bald zu erwarten«, erwiderte sie und wunderte sich über ihre Gereiztheit.

Als sie sich gewaschen und angezogen hatte, betrachtete sie sich aufmerksam im Spiegel. Nein, sie hatte sich nicht verändert. Sie sah so unschuldsvoll aus wie eh und je. Die leichten Schatten unter ihren Augen hätten auch von einer Disco-Nacht herrühren können.

Würde Robert sie nun weniger lieben? Sie hatte es riskiert, hatte es riskieren müssen. Eines wußte Julia genau: sie wollte nicht Hals über Kopf heiraten und ihren Beruf aufgeben. Sie hatte nicht die Absicht, sich irgendwo einsperren zu lassen. Das Leben hatte für sie ja gerade erst begonnen. Und sie würde auch ihm klarmachen, daß er seine Pläne ihretwegen nicht aufgeben dürfte.

Als sie in sein Zimmer zurückkam, hatte er die Bettcouch gerichtet, sich angezogen und eine Platte aufgelegt. Sie nahm an, daß es sich bei der sehr rhythmischen Musik um die angekündigte Ballettsuite handelte. Aber das war ihr im Moment sehr gleichgültig. Die Vorhänge waren wieder aufgezogen, und die Flamme der Kerze war erloschen.

»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte er. »Notfalls können wir auch hier wohnen. Mutter wird sich schon wieder beruhigen.«

»Es kommt mir vor, als sprächen wir nicht mehr die gleiche Sprache«, erwiderte sie müde.

»Herrgott, Julia, versuch doch wenigstens, mich zu verstehen!«

»Genau das tue ich ja die ganze Zeit.«

»Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt. Ich will nicht länger die Schulbank drücken, und das auf unabsehbare Zeit.«

Das leuchtete ihr ein. Sie erinnerte sich, wie froh sie selbst gewesen war, als sie die Sehule hinter sich gebracht hatte. Aber nie wäre ihr der Gedanke gekommen, daß Robert nicht gern studierte.

»Ich werde eine Lehre als Einzelhandelskaufmann machen«, erklärte er, »bei Onkel Edmund. Die habe ich in zwei Jahren hinter mir, und dann kann ich sein Geschäft übernehmen. Es ist alles schon abgesprochen.«

»Macht dir das denn Spaß?«

»Du wirst lachen, ja! Es macht mir Spaß, mit schönen Dingen umzugehen, sehr viel mehr, als mich um vereiterte Tonsillen oder Appendixe zu kümmern.«

»Du hast also nur deiner Mutter zuliebe studiert?«

» Vielleicht. Ich habe das getan, was man von mir erwartete. Erst seit es dich gibt, weiß ich, was ich wirklich will.«

Julia resignierte. »Niemand kann dich zwingen.« Du sagst es.«

»Aber wirf mir niemals vor, du hättest dein Studium mir zuliebe aufgegeben. Rede dir nur nicht ein, daß du mir ein Opfer bringst. Du tust dir höchstens selbst einen Gefallen — oder auch nicht. Ich hoffe für dich, daß du es niemals bereuen mußt.«

Wie neu geboren

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