Читать книгу Wie neu geboren - Marie Louise Fischer - Страница 5

2

Оглавление

Als sie erwachte, wußte sie nicht, für wie lange sie eingeschlafen war. Stunden? Oder hatte sie nur ein kurzes Nickerchen gemacht? Das Licht im Zimmer, das sie durch die dünne Mullbinde hindurch wahrnahm, hatte sich jedenfalls kaum verändert.

Sie hatte nichts geträumt — zumindest nichts, was ihr im Gedächtnis geblieben wäre. Aber sie erinnerte sich noch gut daran, was ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf gegangen war, und knüpfte daran an.

Ihr Eintritt bei »Pro vobis«, eine imposante alte Villa am Stadtpark mit hohen Räumen und stuckverzierten Decken. Ihr Büro unterhalb der breiten Marmoftreppe, das früher wohl ein Diensthotenzimmer gewesen war. Dazu gehörten ein Kabinett mit Toilette und Waschbecken, in dem sie ihren Mantel aufhängen und ihre Tasche lassen konnte. Ein vergittertes Fenster zum Hof hinaus. Ihr Stuhl mit dem Rücken dazu, ein einfacher Tisch, eine Schreibmaschine, Karteikästen — Computer waren zu der Zeit noch nicht so verbreitet —, Regale mit Ordnern an der Wand zum Aufgang hin, an der freien Wand ein Modeposter, farbenfroh und elegant. Sie sah das alles noch genau vor sich.

Und ihre Vorgesetzten und Mitarbeiter? Wie sie heute waren, hätte sie genau beschreiben können: Elvira Hagen, die Seele des Unternehmens; Dr. Hagen, ihr Mann; Roland Marquard, der Couturier; Ilse-Lore Schneider, seine Gehilfin, die ständig mit einem besteckten Nadelkissen hinter ihm herscharwenzelt war, beflissen und voller Bewunderung. Inzwischen hatte sie längst seine Stellung eingenommen, war hart und selbstsicher geworden, eine Frau, die sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen ließ.

Aber wie waren sie damals gewesen? Damals — vor gut fünfundzwanzig Jahren. Sosehr Julia sie jetzt auch haßte, sich von ihnen betrogen, belogen und gedemütigt fühlte, sie mußte sie einmal sehr sympathisch gefunden und ihnen vertraut haben, besonders der Chefin. Ansonsten wäre sie sicher nicht so lange bei der Firma geblieben, und »Pro vobis« hätte nicht eine so große Rolle in ihrem Leben gespielt. Inzwischen wußte sie, daß Elvira ein rücksichtsloses Biest war. Wäre ihr das damals schon bewußt gewesen, hätte sie die Stelle gewechselt. Aber sie war der Firma treu geblieben. Demnach mußte sie Elvira wirklich gemocht haben.

Quälend langsam stieg das Bild der jungen Elvira Hagen vor ihrem geistigen Auge auf.

Ja, Elvira war jung gewesen, als Julia ihre Stellung bei »Pro vobis« angetreten hatte, obwohl sie es damals nicht so empfunden hatte. Sie selbst, ein halbes Kind noch, hatte in der Chefin, die Mitte zwanzig gewesen sein mochte, eine reife, überlegene Frau gesehen. Sie war hübsch gewesen, schlank und zierlich, mit ihrem damals noch naturblonden Haar. Sie war ständig in Bewegung gewesen, sprunghaft wie eine Katze, sprühte voller Ideen, mit unruhigen braunen Augen.

Ihr Mann, der mehr als sie von Finanzen und Buchführung verstand, schien sich in erster Linie der Aufgabe zu widmen, ihre rasch aufflammende Begeisterung zu dämpfen und ihr Tempo zu mäßigen. Er war schon in jungen Jahren ein schwerfällig wirkender Mann mit einem braunen Hundeblick gewesen.

Julia hatte von Anfang an den Eindruck gehabt, daß er sie mochte und daß er, wenn die Chefin mit ihr unzufrieden war, ein gutes Wort für sie einlegte. Dabei war er allerdings sehr vorsichtig und diplomatisch vorgegangen. Wenn sie allein waren, lächelte er ihr freundlich zu, hatte hin und wieder ein aufmunterndes Wort für sie und erlaubte sich sogar auch schon einmal einen Scherz, um sie zum Lachen zu bringen. In Gegenwart seiner Frau beachtete er sie jedoch überhaupt nicht. Obwohl der Aufbau von »Pro vobis« ohne ihn nicht denkbar gewesen wäre, stand er bei Elvira unter dem Pantoffel.

Mit Roland Marquard hatte Elvira es nicht so leicht. Er war der einzige in der Firma, der ihr Widerstand entgegenbrachte. Er war sehr schweigsam, ein kultivierter blasser Mensch mit auffallend schönen langen Händen, verlor nie ein unnötiges Wort, konnte sich aber ausgesprochen stur stellen, wenn es um Materialien, Stoffe, Schnitte und Trends ging. Obwohl Elvira das Sagen hatte, setzte er sich meistens durch. War dies nicht der Fall, stellte sich in der Regel im nachhinein heraus, daß er recht gehabt hatte. Elvira schenkte dem keine Beachtung, und er versagte es sich, bei der nächsten Auseinandersetzung darauf anzuspielen.

Ilse-Lore hingegen vergötterte den Meister. Jede seiner Ideen und seiner Anweisungen saugte sie in sich auf. Nur selten wagte sie selbst einen Vorschlag.

Wenn Julia, das Ende eines Seidenballens locker um sich drapiert, dastand — Marquard liebte es, die Wirkung eines Stoffes auf diese Weise abzuschätzen und sich davon inspirieren zu lassen — sagte Ilse-Lore zuweilen: »Man sollte ihn vielleicht bauschig verarbeiten!« oder »Ich stelle mir die Taille leicht gerafft vor!«

Aber keine ihrer Anregungen wurde von Marquard je aufgegriffen; selten gab er zu erkennen, daß er sie auch nur gehört hatte.

Julia schwieg. Sie war um eine anmutige Haltung bemüht, stellte ein Bein leicht vor und drehte sich in den Schultern, wenn der Designer es von ihr erwartete.

Natürlich hatte sie eigene Ideen, was aus diesem oder jenem Stoff am besten zu machen wäre. Nicht umsonst hatte sie sich jahrelang mit der Mutter über modische Effekte unterhalten und ihr beim Zuschneiden und Verarbeiten der Stoffe zugesehen. Aber sie wußte, daß ihre Ansichten hier, unter Fachleuten, nicht gewünscht waren. Jedoch empfand sie sehr stark den Reiz, der von einem ganz neuen, noch unversehrten Stoff ausging, und genoß es, ihn auf der Haut, seinen kostbaren Geruch in der Nase zu spüren.

Wenn er erst einmal zugeschnitten und zusammengeheftet war, verlor sich dieses Gefühl. Es war anstrengend, leblos wie eine Puppe dazustehen, während Marquard hier einen Kreidestrich anbrachte, dort eine Naht löste oder eine Nadel steckte. Sie konnte sich dabei selbst im Spiegel beobachten, aber selten erkannte sie, was diese kaum merklichen Änderungen bewirkten. Sie war dann froh, wenn sie endlich entlassen wurde und in ihr Büro zurückkehren durfte, wo sich, wie ihr schien, die Arbeit inzwischen angehäuft hatte.

Bei der zweiten und dritten Anprobe, wenn man das Kleid, die Jacke, die Hose oder den Mantel schon durchaus im Ansatz erkennen konnte, wurde es für sie interessanter. Sie durfte sich bewegen, um das gute Stück voll zur Geltung zu bringen, merkte auch selbst, wenn die Taille nicht saß, die Schultern zu breit geschnitten waren oder die Rocklänge nicht stimmte. Aber sie verkniff sich jede Bemerkung darüber, wenn sie nicht direkt gefragt wurde.

Einmal sagte der Meister, während er eine Naht aufriß: »Hören Sie, warum haben Sie sich nicht beklagt? Der Bund muß doch gekniffen haben.«

»Das schon. Aber ich war sicher, Sie würden es selbst bemerken.«

Es war einer der ganz seltenen Augenblicke, wo Marquard ihr freundlich in die Augen sah. »Gutes Mädchen«, lobte er sie lächelnd.

Diese Anerkennung gab ihr die Sicherheit, daß sie mit ihrer passiven Haltung richtig lag.

Die Anproben waren mühevoll, aber das Wissen darum, daß alle Modelle von »Pro vobis« ihr auf den Leib geschneidert wurden, gab ihr auch eine angenehme Genugtuung. Andererseits wurde sie dadurch auch gezwungen, ihre Linie auf den Millimeter genau zu halten. Einmal hatte sie, ohne sich etwas dabei zu denken, zu viele Weintrauben gegessen, und ihr Bauch hatte sich gebläht.

Das hatte bei dem stillen, ausgeglichenen Marquard fast zu einem Nervenzusammenbruch geführt.

»Was ist mit Ihnen?« hatte er geschrien. »Was ist passiert? Sagen Sie mir nicht, Sie erwarten ein Baby. Das dürfen Sie nicht! Das wäre eine Katastrophe!«

Julia war über seine Reaktion erschrocken gewesen, gleichzeitig aber auch geschmeichelt. Ihr Verstand sagte ihr, daß sich notfalls auch ein anderes Mädchen mit einer guten Figur finden lassen würde. Aber sie hielt es doch auch für möglich, daß gerade sie den Designer inspirierte. Jedenfalls war sie froh, ihn beruhigen zu können.

Er nahm ihre Erklärung gnädig an, grollte aber doch noch, als sie sich entschuldigt hatte: »Machen Sie das nie wieder, Julia.«

Wie neu geboren

Подняться наверх