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Diesen Sommer sollte Julia in guter Erinnerung behalten. Sie fuhren oft zum Picknick hinaus. Motorradfahren war, bis Robert sie kennengelernt hatte, seine liebste Freizeitbeschäftigung gewesen. Inzwischen war ihm das Zusammensein mit Julia noch wichtiger — oder auch nicht? Jedenfalls war er bestrebt, beides miteinander zu verbinden. Es zog ihn weit hinaus aus der Stadt, und mit pfadfinderhaftem Spürsinn entdeckte er immer wieder neue Plätze im Grünen, wo er mit ihr ungestört sein konnte.

Er wollte unbedingt mit ihr allein sein, daher kamen Wirtshäuser und Restaurants für ihn nicht in Frage. Außerdem waren die kleinen Mahlzeiten im Freien, zu denen meistens er, manchmal aber auch sie den Proviant mitbrachte, natürlich auch billiger. Nein, der Hauptgrund war doch, daß er sie ganz für sich haben wollte.

Einmal stießen sie bei einem Ausflug auf eine Horde junger Leute auf Motorrädern, mit denen er offensichtlich sehr vertraut war. Sie begrüßten ihn fröhlich und forderten sie auf, sich ihnen anzuschließen. Aber Robert gelang es, sie mit einer tüchtigen Portion Sturheit abzuwimmeln. Es schien ihm auch nichts auszumachen, daß sie ihn gehörig aufzogen. Julia merkte schließlich, daß dies seine frühere Clique gewesen war, und es schmeichelte ihr, daß er ihre Gesellschaft den alten Freunden vorzog. Erst als sie abseits der Landstraße nach einem geeigneten Platz für ihr Picknick Ausschau hielten, sprach Julia ihn darauf an.

»Ich kann mit denen nichts mehr anfangen«, behauptete Robert.

»Und wenn ich mich nun für deine Freunde interessiere?«

»Freunde waren das nie, bloß Kumpel.«

Sie hätte ihn ihren Freundinnen liebend gern vorgestellt, und sie tat es auch, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Sie war so stolz auf ihn.

Enttäuscht war sie nur, als sich herausstellte, daß er äußerst ungern in eine Disco oder ein Tanzlokal ging. Ihn störten der Rauch und der Lärm, wie er behauptete. Sie dachte, daß seine Abneigung gegen derartige Unternehmungen daran läge, daß er immer knapp bei Kasse war. Deshalb bestand sie nur ein- oder höchstens zweimal im Monat darauf, abends mit ihm auszugehen. Ganz freiwillig tat er es nie, und er jammerte vorher auch immer. Dabei tanzte er gut und zeigte sehr viel Gefühl für Rhythmus.

Wenn sie dann nachher wieder auf der Straße standen, dankte er dem Himmel, daß es überstanden war.

Sie lachte ihn aus. »Aber wieso denn? Es war doch herrlich!«

Natürlich küßten sie sich unter der Haustür, und sie genoß seine Zärtlichkeit. Nur schwer konnten sie sich voneinander trennen.

Oft kam es vor, daß Julia erst noch mit ihm zu seiner Wohnung fuhr. Erneute Küsse. Dann wollte er sie nicht allein nach Hause laufen lassen die Häuser, in denen sie wohnten, lagen nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt — und fuhr sie wieder zurück. So ging es mehrfach hin und her, bis der Benzintank seines Motorrads fast leer war.

Julia und Robert schmusten auch bei ihren Picknicks in der Natur. Aber da war es etwas anderes. Es erregte sie sehr, wenn er ihren Busen streichelte und sie auf den Hals und hinter das Ohr küßte. Sie war ihm gegenüber ohne Vorbehalte. Aber sehr bald mußte sie die Erfahr rung machen, daß er noch nicht bereit war, den letzten Schritt zu tun. Das verwirrte und enttäuschte sie.

»Ich liebe dich zu sehr«, behauptete er. »Ich könnte dich nie verletzen.«

»Verletzen? Aber ich bitte dich! Meinst du, ich will eine alte Jungfer werden?«

»Das bestimmt nicht. Du weißt doch, daß du meine Frau wirst.«

»Du siehst immer noch die Braut in Weiß in mir«, schmollte sie.

»Ja«, gab Robert zu, »und das macht mich glücklich.«

Vielleicht hätte sie ihn verführen können, aber irgend etwas hielt sie davon ab. Sie war nicht emanzipiert genug, um das Tempo ihrer Beziehung bestimmen zu wollen. Außerdem: so ruhig auch die Plätze waren, an denen sie sich auf der rot-grün karierten Decke niederließen, ganz ungestört waren sie doch nicht. Es gab andere Liebespaare in der Nähe, schnüffelnde Hunde, spielende Kinder oder auch nur kribbelnde Ameisen.

Also drängte sie nicht auf Erfüllung, sondern war bemüht, ihrer beider Leidenschaft nicht anzufachen, sondern sie auf kleiner Flamme zu halten, gerade noch lebendig genug, daß sie nicht ganz verlöschte. Sie wehrte Robert ab, hielt ihn zurück, und genau das schien ihm in seiner Rolle des »Nichtverführers« zu passen. Für Julia war es anstrengend und kein reines Vergnügen.

Körperliche Begierde war ja zum Glück beileibe nicht das einzige, was sie miteinander verband. Sie hatten so unendlich viel miteinander zu reden. Er erzählte ihr viel aus seinem Leben, allerdings nichts von früheren Erlebnissen mit Frauen, die er ihrer Meinung nach gehabt haben mußte, denn er war einige Jahre älter als sie.

Wenn Julia ihn direkt darauf ansprach, wehrte er ab. »Das ist ohne jede Bedeutung.«

Für sie gab es nichts, was sie vor ihm hätte verbergen müssen. Sie schilderte ihm alles, was sie erlebt hatte und was tagtäglich bei »Pro vobis« geschah.

Von ihm erfuhr sie vom frühen Tod seines Vaters, der Arzt gewesen war, von seiner verwitweten Mutter, die ihn, wie er fand, allzusehr einengen wollte. Er war in Verden an der Aller groß geworden und hatte lange warten müssen, ehe er einen Platz zum Medizinstudium bekommen hatte, und zwar in Düsseldorf. Er hätte gern die Gelegenheit wahrgenommen, sich von der Mutter zu trennen und nach Düsseldorf zu ziehen. Aber da hatte ein Großonkel ihm und seiner Mutter eine Wohnung in Ratingen angeboten, und er hatte sich dem beugen müssen, Von dort aus war es mit der S-Bahn ja nur ein Katzensprung nach Düsseldorf.

Dieser Großonkel mütterlicherseits spielte noch eine andere Rolle in Roberts Leben. Ihm gehörte ein Geschäft in bester Lage, »Edmund Singer, Glas- und Porzellanwaren«, und hier jobbte der junge Student bei jeder Gelegenheit. Er half im Lager aus und beim Versand, räumte auf, wenn die festen Mitarbeiter schon gegangen waren, und sprang auch im Verkauf ein. In Onkel Edmunds Laden hatte er auch an jenem Freitag zu tun gehabt, als er Julia angesprochen hatte.

Seine Mutter schätzte diese Tätigkeit nicht. »Ich könnte meinen Schmuck verkaufen«, erbot sie sich ein ums andere Mal.

»Deinen Schmuck?« gab Robert zurück. »Das würde höchstens für ein paar Monate reichen!«

»Sag das nicht! Wenn man es klug genug anfängt, könnte man bestimmt einen guten Preis erzielen.«

Damit war das Thema erledigt. Einen ernsthaften Versuch, ihre Ringe, Armbänder, Ohrringe und Ketten zu verkaufen — Geschenke seines verstorbenen Vaters, an denen sie sehr hing —, unternahm sie jedenfalls nicht.

Seine Mutter, Frau Ida Palmer, war überhaupt ein Kapitel für sich. Es dauerte geraume Zeit, bis Robert sich dazu durchrang, ihr Julia vorzustellen, und Julia nahm es ihm nicht übel. Sie hatte wenig Lust, dieser strengen Danie unter die Augen zu treten.

Ihren Vater hatte sie sehr bald mit Robert bekannt gemacht, und er hatte zu ihrer Erleichterung ohne eine Spur von väterlicher Eifersucht reagiert. Die beiden so verschiedenen Männer hatten sich sogar recht gut unterhalten. Dann hatte Julia sich mit Robert auf ihr Zimmer zurückgezogen, bei offener Tür, um den Vater nicht zu beunruhigen.

»Also … wie gefällt er dir?« hatte sie mit glänzenden Augen gefragt, nachdem Robert sich zu angemessener Stunde verabschiedet hatte.

»Es gibt nichts gegen ihn zu sagen«, erwiderte ihr Vater.

»Ist das alles?«

»Er sieht gut aus, das weißt du selbst, ist gut angezogen, intelligent und hat bestimmt noch eine Menge anderer guter Eigenschaften.«

»Gut, gut, gut!« wiederholte Julia. »Als wenn er nichts als gut wäre!«

Der Vater klopfte seine Pfeife aus. »Ich bin ja nicht in ihn verliebt. Was erwartest du also von mir?«

»Daß du deine Einwände ausspuckst!«

Der Vater reinigte ohne aufzusehen den Pfeifenkopf. »Sollte ich denn welche haben?«

»Solltest du nicht, aber hast du. Also, raus damit!«

»Na ja, ich meine nur, daß er etwas nicht ganz ernst nimmt — entweder dich oder sein Studium.«

»Versteh’ ich nicht.«

»Er sagt, daß er dich heiraten will …«

»Das will er wirklich.«

»Bleib ganz ruhig, Mädchen! Du wolltest ja die Wahrheit hören. Ich verstehe ja nicht viel von solchen Sachen, aber ich denke doch, daß ein Mediziner eine Frau mit Vermögen heiraten muß. Ewig angestellt bleiben, das bringt doch nichts. Aber sich selbständig zu machen kostet viel Geld. Also braucht er eine Frau, die es mitbringt oder die einen Vater hat, der selbst Doktor ist oder Professor und bei dem er einsteigen kann.«

Julia warf den Kopf zurück. »Robert denkt nicht so materialistisch.«

»Kann schon sein, daß er ein bißchen weltfremd ist.« Der Vater klopfte seine Pfeife nochmals aus, steckte sie in die Hosentasche und stand auf. »Dann schlaf mal gut, mein Mädchen! Laß dir von mir altem Mann deine hübsche Liebesgeschichte nicht vermiesen. Euch beiden bleibt noch Zeit genug, erwachsen zu werden.«

Sie kamen nie wieder auf dieses Gespräch zurück, aber Julia gingen die Warnungen ihres Vaters noch lange im Kopf herum. Trotz aller Verliebtheit dachte sie realistisch genug, um zu begreifen, daß zumindest ein Körnchen Wahrheit in ihnen stecken mußte.

Auch Ida Palmer empfing Julia nicht ohne Freundlichkeit. Zwar paßte ihr Julias familiärer Hintergrund nicht — die Heinkes waren in ihren Augen kleine Leute —, und der Beruf eines Mannequins erschien ihr leicht anrüchig. Aber auch nicht das gröbste Vorurteil konnte die Tatsache überschatten, daß Julia ein sehr schönes Mädchen war und sich modisch, zugleich aber dezent zu kleiden verstand. Ida Palmer war selbst eine sehr modebewußte Dame; sie war es auch gewesen, die Robert zu der Schau von »Pro vobis« mit in die Stadthalle genommen hatte.

Die erste Begegnung fand sehr förmlich in der eleganten Palmerschen Wohnung statt, an einem Sonntagmorgen, und Julia hatte der Mutter ihres Freundes einen Strauß gelber Teerosen mitgebracht.

»Das ist Julia«, stellte Robert sie vor, »das Mädchen, das ich heiraten will.«

Roberts Mutter verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Wir werden sehen«, sagte sie ausweichend und rang sich ein Lächeln ab.

Sie setzten sich um den runden Tisch aus dunklem, blank poliertem Mahagoniholz. Frau Palmer bot Sherry an, aber die jungen Leute wollten nichts trinken. Robert versorgte nur seine Mutter mit einem Untersetzer, einem Glas und Sherry aus einer Karaffe.

Ida Palmer zündete sich eine Zigarette an. Sie war eine große schlanke Frau mit sorgfältig frisiertem, nachblondiertem Haar, den blauen Augen ihres Sohnes und, wie Julia fand, zu stark geschminktem Gesicht, in dem sich erste Falten zeigten.

Obwohl Roberts Mutter und Julia sich, bei allem guten Willen, durchaus nicht auf Anhieb sympathisch waren, fanden sie doch rasch zu einem Thema, das sie gleichermaßen interessierte: die Mode.

Robert hörte ihnen zufrieden und mit einiger Belustigung zu, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen.

»Nun sag doch endlich auch mal was!« forderte seine Mutter ihn schließlich auf.

»Nun, wenn ihr es genau wissen wollt: Ich finde es absolut gleichgültig, ob die Röcke im nächsten Frühjahr kürzer oder länger werden.«

»Ist es aber nicht!« widersprach Julia ihm. »Erfolg oder Mißerfolg unserer neuen Kollektion hängt davon ab. In unserer Branche muß man eine Nase dafür haben, was sich halten und was neu kommen wird.«

»Für die Modemacher kann das schon wichtig sein, das sehe ich ein. Aber doch nicht für dich, Mutter. Du brauchst doch nur aus dem jeweiligen Angebot zu wählen.«

»Das sagst du so! Wenn ich mich falsch entscheide und mir was aussuche, das sich dann nicht durchsetzt, laufe ich wie eine Vogelscheuche herum — oder komme mir wenigstens so vor.«

»Das kann ihnen bestimmt nicht passieren!« behauptete Julia. »Ich wette, daß Sie einen todsicheren Geschmack haben.«

Roberts Mutter schluckte diese Schmeichelei, ohne mit der Wimper zu zucken. Julia spürte, daß sie einen Erfolg verbuchen konnte.

»Es geht um folgendes, Mutter«, sagte Robert, als sie aufgestanden waren, um sich zu verabschieden, »du weißt, wie gerne ich bei Wind und Wetter unterwegs bin. Aber wenn es mal zu schlimm wird, dann kann ich Julia doch mit heraufbringen, ja?«

»Hier in die Wohnung?«

Robert hielt dem Blick seiner Mutter stand. »In mein Zimmer.«

Seine Mutter zögerte. »Ich hoffe, ihr wißt, was ihrtut.«

»Darauf kannst du dich verlassen.« Robert gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Danke dir! Wir sind ja keine Kinder mehr.« Er nahm Julia bei der Hand. »Komm, ich zeig’s dir gleich mal.«

Roberts Zimmer war groß — mehr als doppelt so groß wie Julias, die noch nicht aus ihrem Kinderzimmer herausgewachsen war — ein gut proportionierter Raum mit einer Couch, einem Schreibtisch, Bücherregalen an den Wänden, bunten Teppichen, viel hellem Holz und einer aufwendigen Stereoanlage.

Julia war begeistert; sie wußte sofort, daß sie sich hier wohl fühlen würde. Und das tat sie dann auch, an so manchem verregneten Sonntag und mehr als an einem stürmischen Wochenende.

Es störte sie auch nicht, daß Robert klassische Musik bevorzugte, mit der sie — noch nichts anfangen konnte. Auf der Couch liegend, den Kopf an seine Brust geschmiegt, von seinem Arm umfangen, hätte sie alles über sich ergehen lassen. Er brachte dabei das Kunststück fertig, die Nase in eines seiner medizinischen Lehrbücher zu stecken. Doch sie war bereit, sich zu entspannen und hinzuhören, und so fand sie ganz allmählich auch Freude an seinem musikalischen Geschmack. Erst lernte sie die kleinen melancholischen Walzer von Chopin lieben, dann drang sie zu Mozart vor, später zu Brahms und Bruckner.

Robert hatte ihr eine neue Welt eröffnet, und auch dafür liebte sie ihn.

Wie neu geboren

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