Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 10

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„Mayday. Mayday. Adler an Küken. Daddy ist schon wieder zuhause.“ Aus dem Babyfon kommt nur dieses ächzende Rauschen, bevor das Lämpchen neben dem Batteriezeichen zu blinken beginnt.

Ich schüttle es, um auch noch den letzten Saft rauszuholen, doch das gibt ihm nur den Rest und es gibt seinen Geist auf, noch ehe ich den Blinker in die Einfahrt setzen kann.

Klüger wäre es gewesen, das Ding zwischenzeitlich auszuschalten, um Akku zu sparen.

Genau in diesem Moment braust ein Taxi vor meinem Wagen vorbei, hupt wie wild geworden, schneidet die Kurve viel zu knapp vor meinem Auto und manövriert sich mit quietschenden Reifen direkt vor mir in unsere Einfahrt.

Nur meiner sofort eingeleiteten Vollbremsung ist es zu verdanken, dass wir nicht frontal kollidiert sind.

Was zum …?

Welcher Besuch taucht um diese Zeit noch bei uns auf? Und dann noch im Taxi.

Neugierig nehme ich die Verfolgung auf und treffe vor unserem Haus auf ein, in einen dunklen Mantel gehülltes, weibliches Wesen, das gerade den Taxifahrer mit Turban zur Schnecke macht, der vergeblich versucht, ihr Übergepäck aus dem Kofferraum zu ziehen, während er auf Hindi die Götter um Hilfe anfleht, diese zeternde Frau endlich zum Schweigen zu bringen.

Besser gesagt, meine zeternde Frau.

Warte mal. Raven. Sollte sie nicht schon längst in Chicago gelandet sein?

Der Wagen ist schnell abgestellt, bevor ich aussteige und erst mal dem Taxifahrer zur Hilfe eile.

„Oh, gib mir eine Sekunde, um meinen Seitensprung aus dem Kofferraum zu ziehen“, scherze ich, während ich den Koffer mit dem kleinen Finger aus der Versenkung hole. „Dann ist bestimmt alles vergeben und vergessen, stimmts Schatz?“

Raven sieht mich aus funkelnd leuchtenden, herausgeforderten Augen an und kontert: „Ich bin nicht so für vergeben und vergessen, eher für vergraben und verwesen lassen. Also gib mir eine Sekunde, um deine Leiche in diesen Kofferraum zu ziehen.“

„Oh, du brichst mir das Herz“, seufze ich und fasse mir an die Brust.

„Warum sich mit einem zufrieden geben? Ich brech dir lieber die Knochen, da hab ich die freie Auswahl aus 206.“

Deshalb liebe ich sie.

Ich grinse, ziehe sie an mich und verpasse ihr einen Kuss, der sich gewaschen hat. Sie ist kurz verträumt irritiert, bevor sie mir verlegen an die Brust schlägt, den schimpfenden Taxifahrer bezahlt und dann schön langsam zu realisieren scheint, dass ich auch gerade erst nach Hause gekommen bin.

Mein „Ein Notfall im Krankenhaus“ soll die Wogen glätten.

Sie schließt ihren Mund wieder unverrichteter Dinge, bevor ich ergänze: „Zumindest dachte ich, es sei ein Notfall. Als ich im Krankenhaus angekommen bin, war alles in Ordnung. Der Junge hat seelenruhig in seinem Bett geschlafen. War wohl falscher Alarm.“

„Tja, ich bin auch umsonst zum Flughafen gefahren, denn mein Flug wurde gecancelt. Ein plötzlich auftauchendes Gewitter direkt über New York. Ist das zu fassen? Eigentlich wollte ich gleich wieder nach Hause fahren, aber es war einfach viel zu verlockend, mal kurz ein bisschen Zeit für mich selbst zu haben.“

Ich blicke auf ihren Koffer, den ich deutlich leichter in Erinnerung hatte, als ich ihn in ihr Taxi zum Flughafen gepackt hatte.

„Oh, ich fürchte jetzt schon um den Überziehungsrahmen meiner Kreditkarte. Welchen Duty-free-Shop hast du geplündert? Spirituosen, Zigaretten oder Parfüm?“, frage ich sicherheitshalber nach.

Raven setzt ein verschmitztes Grinsen auf, das ich mit: „Sag nichts, alle drei – vermutlich in dieser Reihenfolge“ erkläre. Jetzt weiß ich auch, wonach ihr Kuss geschmeckt hat – nach der Flasche Schampus, die sie intus hat.

Ich seufze. „Das hat mir in letzter Zeit echt gefehlt“, spreche ich meine Gedanken laut aus.

„Dass ich mich betrinke?“, mutmaßt Raven schief grinsend.

„Dein Lächeln.“

Sie macht es schon wieder und nähert sich mit neckischem Blick meinen Lippen. Sieht so aus, als wär sie bester Laune – oder angetrunken. Was wahrscheinlicher ist.

Egal, ein romantischer Abend wär zum Greifen nahe.

Na ja, zumindest war er das, bis uns beiden wieder klar wird, dass unsere jungen, wilden Jahre schon ein paar Jahrzehnte zurückliegen und daraus ein kleines Monster hervorgegangen ist, das in unserer Abwesenheit randaliert haben könnte.

Mum wird stutzig, bevor sie die richtigen Schlüsse zieht. Sieht so aus, als würde Daddy gleich tief im Schlamassel stecken, denn ihr vorwurfsvoll, durch zusammengebissene Zähne ausgespienes „Fynn“, verheißt schon mal nichts Gutes.

Ich hab noch nicht mal den nächsten Atemzug genommen, um mich rauszureden, da liest sie mir schon die Leviten: „Wenn du hier draußen bist, wer ist dann da drin und passt auf, was Mary macht?“ Man lege das Augenmerk auf ihre Wortwahl, die nicht „Wer passt dann auf Mary auf“ lautete.

Sie zeigt abwechselnd auf mich und unser Haus. Allein die Intensität ihrer Geste schüchtert mich schon ein.

„Ähm, Charly.“

Was?“, zischt sie vollen Unbehagens.

„Die Hütte steht noch, also ist wohl alles in Ordnung“, besänftige ich sie.

„Ich ahne böses“, zischt Raven und sieht mit solch besorgniserregendem Blick auf unser Haus, wie das nur Löwinnen draufhaben, die ihre Löwenbabys beschützen. Oder – was viel wahrscheinlicher ist – sie bangt um ihre Zahnbürsten.

„Ich hatte sie die ganze Zeit an der Backe, während du dir einen schönen Abend gemacht hast, dafür lockst du sie jetzt aus dem Panic-Room“, stoße ich so trotzig wie möglich aus, komme mir dabei aber im selben Moment total albern vor. Ein „Viel Spaß“ konnt ich mir dennoch nicht verkneifen.

Sie verzieht ihre Miene zu diesem „Es handelt sich hierbei auch um deine Tochter. Wieso bleiben alle erzieherischen Maßnahmen eigentlich immer an mir hängen?“-Blick, den ich nur allzu gut kenne und der meinen Tatendrang aktiviert: „Oder ich such sie und du setzt deinen schönen Abend einfach fort.“

„Warte, von welchem Panic-Room sprichst du da?“, will Raven wissen.

„Dein begehbarer Schuhschrank“, kläre ich sie auf. „Sie hat sich sicher dort verkrochen.“

Raven rauft sich die Haare. Das läutet meist eine Standpauke ein, die sich gewaschen hat.

Mit ihrem „Euch zwei kann man keine Sekunde alleine lassen“ weiß ich, dass ich recht behalten sollte.

„Es ist mir egal, wie du das machst, aber Mary ist heute dein Problem. Ich will damit nichts zu tun haben, also sieh zu, wie du sie beruhigt kriegst. Ich bin quasi in Chicago.“

Mein „Darf ich dann quasi beim Footballspiel sein?“ macht die Sache auch nicht besser.

Meine Frau greift sich an die Schultern. Ihr Kommentar „Toll. Von der Massage hab ich gerade mal zwei Stunden gezehrt“ soll mir ein schlechtes Gewissen machen.

Funktioniert.

Ich schnappe mir ihre Koffer und beruhige mich selbst mit den Worten: „Das Schlimmste, was passiert sein könnte ist, dass sie all deine Fußpilzerreger mit dem Feuerlöscher im Keim erstickt hat.“

Hoffentlich.

Mit einem mehr als mulmigen Gefühl schließe ich unsere Haustüre auf.

„PRINZESSIN! DADDY IST ZURÜCK. UND JETZT KEINE PANIK, MUM IST AUCH WIEDER DA!“, rufe ich in die Eingangshalle.

Stille.

Ravens Blicke gehen ins meuchelmördermäßige über, bevor ich mich in unser Schlafzimmer aufmache.

**********

„Küken?“

Stille.

Ich klopfe an die Tür des Schuhschrankes, doch es tut sich nichts. So vorsichtig wie ich kann, lasse ich die Schiebetüre „quasi“ im Zeitlupentempo aufgleiten. So weit ich es beurteilen kann, ist hier drin alles beim Alten.

Nicht, dass ich jemals einen Fuß hier reingesetzt habe. Wer weiß, was so ein Raum mit meinem Testosteronspiegel anrichten könnte, der schon unter der Herrschaft der Fürstin der Finsternis deutlich gelitten hat.

Gut, dann ist sie doch in ihrem Zimmer geblieben. Etwas erleichtert steige ich die Treppen ins Zwischengeschoss hinunter. Vor ihrer Tür lausche ich.

Stille.

Na ja, das bedeutet ja nichts. Sie könnte schlafen – oder sich ein Kissen ins Gesicht drücken.

Obwohl ich weiß, dass sie das in Angst und Schrecken versetzen wird, klopfe ich dennoch. „PRINZESSIN? ALLES OKAY?“

Stille.

Ihr Zimmer darf eigentlich niemand betreten, aber heute geht das schon in einem Angstaufwasch, deshalb drücke ich die Türklinke vorsichtig runter und schlüpfe durch die Seuchenschleuse.

Obwohl ich eigentlich weiß, was sich dahinter verbirgt, erschreckt es mich dennoch jedes Mal.

Das Bett ist das einzige Möbelstück – na ja, bis auf das Nachtkästchen, auf dem ihr Notebook steht. Natürlich nur, wenn man das Krankenhausbett mit dem beidseitigen Fallschutz ohne Matratze und das dazugehörige, rollbare Nachtkästchen mit Klapptischchen als „Möbel“ bezeichnen kann.

Ich bereue die Entscheidung, erlaubt zu haben, den Raum voll zu verfliesen. Das wär ja gar nicht schlimm. Schlimm ist der in den Boden eingelassene, silberne Ausguss, der als Wasserablauf dient und alles wie eine Gaskammer wirken lässt.

Sie spült die Wände doch tatsächlich mit dem Dampfreiniger ab, der in der Ecke steht und mir bei meinem letzten Besuch hier drin gar nicht aufgefallen ist.

Ich dachte, das wär ein Scherz.

Die unzähligen Phobien, die sie an die Fliesen gekrakelt hat, verströmen zusätzlich einen Hauch Wahnsinn.

Wobei wir beim Thema wären: Von Mary fehlt jede Spur.

Beim Betreten des angrenzenden Badezimmers zieht es mir die Gänsehaut auf. Die freistehende Wanne ist so penibel sauber auf Hochglanz poliert, dass es einem schon Angst macht. Das Desinfektionsmittel, das in einem Behälter an der Wand neben dem Waschbecken hängt, verströmt diesen Grusel-OP-Stimmungs-Duft. Ich glaube, nicht mal im Krankenhaus ist es so steril, wie hier drin.

Ich fühle mich direkt in einen Horrorfilm hineinversetzt.

Jetzt brauch ich nur noch die Hauptdarstellerin ist zu finden.

Ich muss gestehen, ich bin froh, aus ihrem Zimmer raus zu sein. Mir schwant ebenfalls Böses, was mich gleich in der Küche erwarten wird, wenn ich es Raven beichte, dass ich die Suche erweitern muss.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, alles noch einen Moment lang zu vertuschen, mich allein aufzumachen, um das Haus nach ihr zu durchforsten, doch am Treppenabsatz erwischt mich bereits meine Frau.

„Hier. Ausnahmsweise“, kommentiert sie den Inhalator, den sie mir entgegenstreckt.

„Gut. Jetzt brauch ich nur noch Mary dazu“, stoße ich räuspernd aus.

Raven reißt die Augen auf. „War sie nicht im Schuhschrank?“

„Nein“, antworte ich kleinlaut.

„Dann sieh in ihrem Zimmer nach“, kommandiert sie mich forsch rum.

Mein „Da war ich auch schon“ aktiviert sichtlich ihren Mutterinstinkt. „Seitdem hab ich auch Angst“, ergänze ich.

Da geht er hin – unser vermeintlicher romantischer Abend.

Das „Wir finden sie schon. Sie kann nicht weit sein. Immerhin geht sie nicht nach draußen“ trägt kaum zu ihrer Beruhigung bei.

Ganz im Gegenteil. Sie kneift die Augen zusammen und brüllt: „MARY! HIERHER!

Ein „Ja, unser Hündchen spürt sie sicher auf“ ist mir rausgerutscht.

Ihr, in meine Richtung gestreckter, erhobener Zeigefinger bringt mich zur Einsicht.

„Keine Späße. Mary suchen“, nehme ich ihr die Worte aus dem Mund, die sie sicher nicht so nett formuliert hätte.

Was sich bewahrheitet, als sie „Du stellst jetzt das Haus auf den Kopf und wirst nicht eher ruhen, bis du sie gefunden hast. Ist das klar?“ nachsetzt.

Widerstand ist zwecklos. Ich salutiere und lasse die Sohlen meiner Schuhe aneinander schnalzen.

Bevor sie ausrasten kann, schicke ich ihr im Gehen ein „Mach dich locker, Raven. Sie hockt bestimmt im Raum mit deinen Putzmitteln und atmet in die WC-Ente“ hinterher.

Ihr „Als ob du wüsstest, wo ich meine Putzmittel aufbewahre“ war ein Seitenhieb, den ich nicht kommen sah, ihn aber wegstecke wie ein echter Kerl – also mit Ignoranz.

Das haben wir gleich.

Also, wenn ich Angst hätte, wo würde ich mich verstecken? Hm. Ich stecke mir den Inhalator in den hinteren Hosenbund, als würd ich in die Schlacht ziehen.

Stattdessen such ich nur Mary.

******

Nach etwa zwanzig Minuten habe ich jedes Wesen der Nacht, das in unseren Katakomben kreucht und fleucht aufgescheucht.

Aber von meiner Tochter fehlt jede Spur.

Zugegebenermaßen war der Keller wohl zu weit hergeholt, deshalb habe ich dem Dachboden die besseren Erfolgschancen zugeschrieben.

Umso erwartungsvoller sende ich die Worte „Brauchen wir ein Kriseninterventionsteam oder reicht es, wenn wir sie aus der Frischhaltefolie schneiden, in der sie sich komplett wie in einen Bratschlauch eingewickelt hat?“ an meine Frau, die bereits am Treppenabsatz auf mich wartet.

Bestimmt um mich zu Mary zu führen.

Du hast sie noch immer nicht gefunden?“, krächzt Raven fuchsteufelswild. „Muss man denn in diesem Haus alles selbst in die Hand nehmen?“

Natürlich antworte ich nicht, ich bin ja nicht lebensmüde, da dreht sie sich distanziert stocksteif um und schreitet beinahe majestätisch durch unser Haus.

Und ich hinterher.

Als wir den Wintergarten betreten, lasse ich meinen Blick im Raum umherschweifen – auf der Suche nach einem kleinen Äffchen, das sich an einen der Bananenbäume klammert, werde aber nicht fündig.

Zumindest bis ich den Kopf in die Richtung unseres Gartens gedreht habe, dessen Anblick meine Frau gerade mit weit aufgerissenen Augen fixiert. Nachdem die Glasschüssel, die sie gerade am Abtrocknen ist, klirrend auf den Boden auftreffen und in tausend kleine Scherben zerbrechen konnte, wohlgemerkt.

Ich zucke sogar zusammen.

Die Tür steht offen!

Mein „Sag bloß Mum nichts, sie würde mich umbringen“, das ich aus einer Kurzschlussreaktion ausgestoßen habe, war zugegebenermaßen etwas deplatziert.

Mit ihr gehen grad sichtlich alle Muttergefühle durch.

Mit mir auch.

Raven wirft das Geschirrtuch in weitem Bogen von sich und sprintet nach draußen. Ich nehme sofort die Verfolgung auf.

Irgendetwas in mir hatte gehofft, Mary wär bloß raus zum Schaukeln gegangen, doch so viel Glück hab ich nicht.

Die Schaukel ist verlassen. Der Garten ebenso.

Sie ist weg. Mary ist weg. Meine Mary.

In meinen Gedanken tobt ein Sturm, der von allen Vatergefühlen, die auf einmal auf mich niederprasseln, geschürt wird. Die Gefühle übermannen mich beinahe, zwingen mich fast in die Knie.

Ich nehme meiner Frau ein total gequält weinerliches „Mein Baby“ aus dem Mund, bevor sie tief Luft holt und panisch „Sie wär doch nie nach draußen gegangen“ stammelt.

Nein, so viel steht fest.

„Du hast doch einen Schutzzauber rund um das Haus gesetzt, als du sie hier allein zurückgelassen hast“, mutmaßt sie.

„Den muss ich in der Eile vergessen haben“, lüge ich.

Wenn Blicke töten könnten – würd ich jetzt die Radieschen von unten sehen.

Okay, keine Scherze. Das ist purer Ernst. Reiß dich zusammen.

Ich stehe da wie ein Zinnsoldat, unfähig, mich zu bewegen. Wo könnte sie sein? Sie hätte doch viel zu viel Angst, den Garten zu verlassen.

Ich balle die Fäuste, da stellt mich Raven zur Rede: „Hast du das Haus gründlich durchsucht?“ Die Worte kamen gehetzt und viel zu ernst aus ihr heraus.

Ich reagiere nicht, nicke nicht mal.

Blitzschnell läuft sie über die Wiese, um etwas gerade Erspähtes vom Boden aufzuheben, das sie mit den Worten: „Das ist alles deine Schuld!“ hochhält.

Marys Topflappenhandschuhe und aufgeweichte Papierstücke.

„Ihr Geschenk ist weg. Wenn ihr etwas zugestoßen ist, dann werd ich dir das nie verzeihen“, ergänzt sie.

Ich mir auch nicht.

In mir tauchen Bilder auf, wie sie jemand aus dem Garten entführt und ihr lebloser Körper von der Polizei neben einer Mülltonne gefunden wird.

Ich schließe die Augen, um runterzukommen, will nochmal jeden Winkel des Hauses durchsuchen, obwohl ich sicher bin, jedes Zimmer durchstöbert zu haben. Gleichzeitig möchte ich den Garten passieren, über den Zaun springen und die Nachbarschaft auf den Kopf stellen, doch beides erscheint mir aussichtslos. Da ist diese Hilflosigkeit in mir, die mich nicht vom Fleck rühren lässt.

„WAS STEHST DU SO RUM? SETZ MAGIE EIN. MACH IRGENDETWAS“, brüllt mich Raven an.

Nach zwei keuchenden Atemzügen erklärt sie: „Ich rufe die Polizei an, dann durchsuche ich nochmal das Haus. Du suchst in der Nachbarschaft nach ihr.“ Sie stößt somit die Befehle aus, zu denen ich noch nicht fähig war.

Mein agressiv gepresstes „Na los“, das ich an mich selbst richte, scheint nicht die gewünschte Reaktion zu erzielen, denn ich starre nur planlos auf meine Frau, die gerade mit ihrem Handy den Notruf wählt und die Warteschlange anbrüllt.

Ich bin total überfordert – bin verzweifelt und abgehetzt, so als wär ich gelaufen.

Sofort spüre ich das Aufwallen meiner Emotionen, die ich mit geschlossenen Augen im Zaum zu halten versuche. Die zierliche Hand meiner Frau, die die meine umschließt, lässt mich runterkommen.

Ihr deutlich sanfterer Blick und das, mit ihren Lippen geformte „Los jetzt“ aktiviert meine Beine. Ich schlage den Weg zurück ins Haus ein und passiere die Tür des Wintergartens.

Ravens aufgebrachtes „Meine Tochter ist aus unserem Garten verschwunden … Sie ist fünfzehn … Nein, das ist ausgeschlossen, sie ist nicht mit Freunden tanzen gegangen … Ja, ich weiß, dass es Samstagabend ist ... Nein, ich beruhige mich nicht“ begleitet mich bis nach drinnen.

Mein „Wo bist du nur?“ wird von Ravens hysterischem „Nein, ich warte keine vierundzwanzig Stunden. Sie suchen sie jetzt“ übertönt. „Sie ist eher klein gewachsen, etwa einssechzig, trägt einen weißen Ganzkörperanzug, eine Gasmaske oder eine Taucherbrille mit Schnorchel oder eine Skibrille mit Mundschutz wie ihn Ärzte bei OP’s tragen … Nein, das ist kein Scherz. Hören Sie, sie ist ganz allein da draußen und bestimmt verstört.“

Ich beschließe, den Wagen zu nehmen, um mich auf die Suche nach ihr zu machen. Sollte sie sich noch im Haus befinden, wird sie Raven finden.

Schnell bin ich durch die Vordertür raus und erstarre beim Anblick unserer Türschwelle.

Der Brief!

Sofort ziehe ich die bereits in Vergessenheit geratene, ungeöffnete Nachricht, die mir Galahad ausgehändigt hat, aus meiner Hosentasche hervor.

Das bringt sogar Raven zum Schweigen, die mir gefolgt ist und sich am Telefon in eine richtige Rage geredet hat.

„Ein Brief“, spricht Raven das Offensichtliche aus, da breche ich das Siegel entzwei.

„Das, was von ihm übrig ist“, korrigiere ich sie, als ich ihn betrachte. Die Buchstaben sind womöglich durch den plötzlich einsetzenden Schneefall in sich verronnen und zu einem unleserlichen Kauderwelsch geworden.

Bis auf zwei Worte, die ganz deutlich hervorstechen: Ultimatum und Konsequenzen.

Ich schließe die Augen vor Wut über mich selbst. Wie konnte mir das entgehen? War ich denn blind vor Sorge? Wir hätten kostbare Zeit verschwendet, indem wir sie hier gesucht hätten.

Aber sie ist nicht hier.

Nicht in dieser Dimension.

Nicht in dieser Zeit.

„Er war noch nicht da, als wir das Haus verlassen haben“, stellt sie fest.

„Doch. Galahad hat ihn von der Schwelle aufgelesen und ihn mir überreicht“, erkläre ich.

„Von wem ist er?“

„Von ihm“, antworte ich.

„Er hat doch nicht ...“ Raven gerät ins Stocken. „Er würde doch nicht ...“

„Unsere Tochter stehlen?“, wage ich es auszusprechen, darauf bedacht, meinen Zorn zu unterdrücken.

Aus ihren Zügen lese ich, dass wir beide ein und denselben Verdacht haben.

„Ich mach ihn fertig“, drohe ich durch zusammengebissene Zähne.

Raven wird hellhörig und ergreift erneut meine Hand. „Warte, lass uns nicht überstürzt handeln.“

Ich stoße ein verbittertes Lachen aus. Ich bin sowas von bereit, überstürzt zu handeln. „Nur wenige Hexer würden es in Kauf nehmen, den Zorn unseres gesamten Zirkels heraufzubeschwören. Und er ist einer davon.“

„Ja, aber was, wenn er es nicht war und wir …“ sie macht eine kleine Pause, die sie dazu nutzt, um die Umgebung abzusuchen „… etwas heraufbeschwören, das bis jetzt gut verschlossen war. Immerhin ahnt er schon etwas.“

„Darum geht es ja. Das ist sein Motiv und jetzt benutzt er Mary dazu, das zu bekommen, was er will.“

„Aber er weiß gar nicht, dass wir eine Tochter haben“, wendet sie ein. Erneut scheinen wir dasselbe zu denken.

„Was, wenn er mich wollte?“, nimmt mir Raven die Worte aus dem Mund. „Ich wäre zu Hause gewesen, wäre ich schnurstracks heimgefahren. Der Flug wurde abgesagt. Ganz plötzlich. Und du sagtest doch, die hätten dich ins Krankenhaus beordert. So wäre ich vollkommen schutzlos hier gewesen. Womöglich hielten sie mich für Mary. Wir sind ja ein lachhaft leichtes Ziel“, fasst sie zusammen.

Raven verliert im nächsten Moment sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht. „Sie ist ihm schutzlos ausgeliefert.“

„Ist sie nicht“, widerspreche ich ihr.

******************

„Warte, Fynn, hast du dir das auch gut überlegt?“, hält mich Raven zurück.

Natürlich nicht“, pruste ich vollen Unbehagens. „Ich bin noch dabei, nicht jeden Moment vollkommen auszurasten.“

„Sie kann die Kräfte nicht kontrollieren. Wer weiß, was wir damit entfesseln. Warst du es nicht, der mir das mit den Raupen und Schmetterlingen erklärt hat?“

„Womöglich helfen ihr die Kräfte, ihre Angst zu bewältigen“, spreche ich meine Hoffnung laut aus. Das wär zumindest ein Anfang.

„Das glaubst du doch selbst nicht, Fynn. Das sagen wir ihr doch nur, damit sie sich mit dem Gedanken anfreundet, ihre Kräfte zu bekommen. Diese Art von Kräften wirken nicht auf den Geistes- oder Gefühlszustand – das sind deine Worte, Fynn. Du selbst hast das – unter einem Vorwand – in Erfahrung gebracht.“

„Vielleicht irre ich mich ja. Hoffentlich tu ich das. So hat sie zumindest eine Chance.“ Ohne noch weiter darüber nachzudenken, breche ich die Nuss entzwei.

Kleine glitzernd tänzelnde Eiskristalle erheben sich wie Funken in die Lüfte, nur um im nächsten Moment zu verschwinden.

Einen Moment hängen wir unseren Gedanken nach, daraufhin wende ich mich ab.

„Warte, wo willst du hin?“, stoppt mich meine Frau.

„Ihn fertigmachen gehen“, wiederhole ich und will aufbrechen, da hält mich Raven abermals zurück: „Warte, Fynn, bei genauerer Überlegung trägt das nicht seine Handschrift. Es ist viel zu plump, zu vorhersehbar. Er musste doch davon ausgehen, dass wir ihn sofort verdächtigen und die Suche bei ihm beginnen. Es könnte doch sein, dass zwischen dem Brief und ihrem Verschwinden kein Zusammenhang besteht.“

„Und wo sollte sie dann sein?“, argumentiere ich. „Seien wir uns doch mal ehrlich, Mary hätte nie freiwillig das Haus verlassen. Und ihr Fenster kann sie auch nicht geöffnet haben, um die Topflappen rauszuwerfen. Hier im Haus ist sie nicht. Wir haben doch schon ein weiteres Mal alles auf den Kopf gestellt.“

„Und wer hat dann ihr Geschenk aufgemacht?“

„Womöglich ihr Entführer, um Beute zu machen.“

Ravens Eingeständnis „Du hast recht“ verblüfft mich. Wo sie es doch war, die bis zum Schluss daran geglaubt hat, sie könne ihre Angst überwinden.

„Vielleicht wollte er genau das erreichen. Wollte mich durch dich zu ihm locken“, äußere ich meinen Verdacht.

„Vielleicht“, murmelt Raven in Gedanken versunken. „Aber was, wenn er es nicht war.“

„Der Brief ist Beweis genug. Er hat diesmal ein Ultimatum gesetzt. Und er droht Konsequenzen an.“

„Diesmal? Kamen noch andere Briefe?“, will Raven wissen.

„Ja, ein paar“, gestehe ich.

„Wieso weiß ich davon nichts?“, stellt sie mich zur Rede.

„Ich wollte dich nicht beunruhigen. Du hattest doch mit Mary sowieso schon genug um die Ohren.“

„Du hättest sie mir zeigen müssen, Fynn.“

„Ja“, bestätige ich, um sie nicht noch mehr zu erzürnen.

Sie überfliegt den Brief kurz selbst und wendet dann ein: „Aber man erkennt kein Datum. Was, wenn das Ultimatum noch gar nicht abgelaufen ist?“

„Ich habe schon mehrere verstreichen lassen“, gebe ich zu.

„Also hat er sie entführt und wird uns mit ihrem Leben erpressen“, schließt sie aus der neuen Information.

Ich nicke. „Du bleibst hier. Trommle unseren Zirkel zusammen. Ich werde jemanden verständigen, um dich in meiner Abwesenheit zu beschützen. Er wird gleich da sein, auch wenn du ihn nicht sehen kannst.“

Raven nickt einsichtig.

„Fynn, pass auf dich auf“, gibt sie mir mit auf den Weg, bevor ich mich zu ihm aufmache.

Zu Lord Beliar O’Neill.


Schneekugelsturm: Band 1

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