Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 8

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Rote, glühende Lichter tanzen an den Wänden meines stockdunklen Zimmers und lenken meine Aufmerksamkeit auf unsere Einfahrt, die ich von meinem Fenster aus überblicken kann, wenn ich mich ganz weit vor lehne und den Kopf drehe.

Es ist Mums Taxi zum Flughafen. Dad trägt hinter ihr ihre Koffer raus als wär er ihr Sklave und packt sie in den Kofferraum, bevor sie sich zum Abschied gegenüberstehen.

Ihre Lippen bewegen sich nicht. Sie sehen sich einfach nur an. Minutenlang warte ich darauf, dass einer von ihnen den ersten Schritt macht.

Ich weiß nicht, was schlimmer wär, wenn sich Mum jetzt einfach umdrehen oder sie sich zum Abschied küssen würden.

Ich verziehe angewidert das Gesicht und beobachte, von Neugierde erfüllt, ihre nächsten Schritte.

Ich glaube, Dad sagt irgendetwas. Daraufhin hebt er die Hand an ihre Schläfe. Behutsam bahnt er sich mit seinen Fingern den Weg über ihre Wangenknochen, bis er auf ihre Lippen trifft.

Sofort nimmt Mum seine Hand in ihre, schließt die Augen so fest, als wolle sie diesen Moment festhalten und ihn in ihr konservieren, um ihn mit sich zu nehmen.

Im nächsten Augenblick dreht sie sich um und steigt ins Taxi.

Ihre Reaktion lässt mich lange nicht los. Da war so viel Zuneigung zwischen ihnen. Selbst von dieser Entfernung aus, war sie zum Greifen nahe.

Sie hat ihm verziehen, so viel steht fest. Wenigstens eine Sorge weniger, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss.

„Mayday. Mayday. Adler an Küken“, ertönt es wenig später aus dem Babyfon.

Er kann doch nicht wirklich glauben, unser Vater-Tochter-Abend hätte noch den Hauch einer Chance – nach allem, was vorgefallen ist.

Ja, was ist denn passiert? Im Grunde war nichts. Außer natürlich, dass mich meine Eltern bei jeder Gelegenheit hintergehen.

Und sich selbst natürlich auch irgendwie.

Mir ist nämlich nicht entgangen, dass – nachdem mich mein Pseudo-Dad in mein Zimmer getragen hat, anstatt mich vor sich schweben zu lassen – die Feinstaubkonzentration auf meiner Wetterstation, die das Rauminnere überwacht, minimalst angestiegen ist. Ich dachte immer, das wären Messungenauigkeiten.

Wie naiv ich doch war.

Und das ist nicht der einzige Grund, warum ich mich immer noch hundsmiserabel fühle. Die Folgen der Attacke, die ich nicht vorher abfangen konnte, stecken mir noch in den Knochen. Ich bin echt zusammengeklappt. Und ich hab geheult – wie ein Schlosshund. Vor meinem Bruder.

Keiner meiner besten Momente, wie ich zugeben muss.

Glücklicherweise war ich nicht ohnmächtig und vermutlich auch ansprechbar. Zumindest wenn man das keuchende Etwas in Fötusstellung in dem Moment als lebensfähig einstufen konnte, in dem es mein Pseudo-Dad auf sein Bett gelegt hat. Es fühlte sich so an, als würde mein Körper nicht mir gehören.

Zumindest hatte er den Anstand, seinen Krankenhauskittel Mum zu reichen, bevor er mich angefasst hat. Dass er vergessen hat, seine behaarten Plüsch-Riesenneandertalerfuß-Hausschuhe vor meinem Zimmer auszuziehen, rechne ich ihm als Schlampigkeitsfehler an.

„Ich wollte nur sagen, dass der Platz neben mir auf der Couch für meine Prinzessin reserviert ist“, fährt Pseudo-Dad nach ein paar Minuten fort, in denen er wohl vergeblich auf eine Reaktion meinerseits gewartet hat. „Und es wird nur beim Footballspiel Mannkontakt geben, versprochen.“

Ich rolle mit den Augen.

Erneut ertönt das Klingeln seines Telefons. Mich würde es echt nicht wundern, wenn ihnen reihenweise Gehirntumore wachsen würden, so viel wie alle in diesem Haus immer an ihren Handys hängen.

Na ja, außer mein Bruder. Sein Telefon hatte noch nie Ohrkontakt. Er könnte ja Morsezeichen verwenden, um zu kommunizieren.

„Das ist sicher der erste, von fünfzig noch folgenden, bereits angekündigten Kontrollanrufen deiner Mum aus dem Flugzeug, dich mich ab sofort jederzeit wahllos, über mir vorher nicht bekannte, Tageszeiten hinweg, ereilen könnten. Da nicht ranzugehen, käme einer Entfesselung der zehn biblischen Plagen gleich. Ich sage ihr, dass du sie lieb hast. Das tut ihrer geschundenen, mütterlichen Seele sicher gut.“ Sie wird dir sowieso nicht glauben.

Als hätte mein Pseudo-Dad meine Gedanken gehört, lenkt er ein: „Gut, ich sage ihr, dass ich sie für dich lieb hab.“

Die Verbindung des Babyfons reißt ab. Scheinbar hat er sich von Mum erklären lassen, wie das Ding wirklich funktioniert, damit er nicht mehr Gefahr läuft, bespitzelt zu werden.

Nach etwa drei Minuten meldet sich mein Dad wieder zu Wort: „Küken, das war das Krankenhaus.“ Sein „Ich muss heute noch hinfahren“ reißt mir fast den Boden unter den Füßen weg.

Wie von Sinnen hämmere ich auf die Taste der Gegensprechanlage und keuche – etwas zu sehr von Hysterie befallen: „Das kannst du nicht!

„Die brauchen mich aber dringend, Prinzessin. Ich fahre gleich los.“

„Deine Arbeitszeit ist vorbei. Du hast Feierabend. Wenn du jetzt dort auftauchst, bringst du jedes arbeitsrechtliche Zeitmodell durcheinander“, argumentiere ich.

Ich meine, wer braucht denn um die Zeit noch einen Onkologen? Die Krebszellen können warten.

„Ich hab Bereitschaft“, informiert er mich.

„SEIT WANN?“, brülle ich.

„Eigentlich schon immer. Es kam nur nie zu einem Notfall. Es geht um einen kleinen Jungen, den ich betreue.“ Ich höre das Rascheln eines Schlüsselbundes. Scheinbar ist Dad schon im Aufbruch.

Wie kann er nur daran denken, wegzugehen?

„Der kleine Junge kann bis morgen warten, wenn du wieder Dienst hast.“ Deine große Tochter braucht dich dringender.

„Kann er nicht. Er hat Krebs im Endstadium und liegt im Sterben.“ Mein Mund wird trocken. Natürlich war davon auszugehen, dass Dad auch krebskranke Kinder behandelt. Aber wer rechnet denn bitteschön damit, dass sie sterbenskrank sind. Na ja, sie haben Krebs, also ist das ja wohl irgendwie manchmal unvermeidbar.

Mum hat recht, es schlägt aufs Gemüt, sich ständig mit sich selbst zu beschäftigen. Und scheinbar auch auf den Charakter.

Aber was hätt ich denn bitteschön machen sollen? Neben meinem, alles einnehmenden, Individuum bleibt einfach kein Platz mehr für jemand anderen.

Ich bin hin- und hergerissen. Obwohl es egoistisch ist, entweicht mir ein weinerliches „Du kannst mich hier nicht allein zurücklassen.“

„Du bist nicht allein, Prinzessin. Charly ist doch bei dir. Er steht am Kühlschrank. Warte … Charly, du bleibst hier und passt auf deine Schwester auf, während ich im Krankenhaus bin … Siehst du, Spätzchen, alles in Ordnung.“

„Gar nichts ist in Ordnung“, jammere ich. „Womöglich hat er dich nicht mal gehört.“

„Doch, hat er.“

„Hat er genickt?“, will ich wissen.

„Ja, ja“, meint mein Dad abgehetzt.

„Du hast mich angelogen“, stelle ich entsetzt fest. Charly hat noch nie genickt.

„Was? Ach Küken. Ich bin etwas in Eile. Er hat die Augen in meine Richtung gedreht, wenn dich das beruhigt.“

„Beruhigt mich nicht. Er wird nicht auf mich aufpassen, Dad.“ Sondern ihre Abwesenheit dazu nutzen, sich an mir zu rächen, weil ich sein Liebesnest ausgehoben habe. Oder mir wieder Streiche spielen. Wir waren noch nie zusammen allein zuhause. Wer weiß, auf welche kranken Ideen er kommt.

Das wird richtig hässlich. Sofort flutet mich die Angst vor meinem Bruder.

Im nächsten Moment vernehme ich das Anlassen eines Motors.

Du sitzt schon im Auto?“, krächze ich. Sag mal, wie stark ist die Funkleistung dieses Babyfons eigentlich?

„Wie konntest du dich so schnell umziehen? Immerhin muss er unter dem Arztkittel weiße Krankenhauskleidung tragen“, stelle ich ihn zur Rede. Die Antwort darauf geb ich mir gleich selbst und schimpfe ihn: „Du hast gezaubert. Trotz Zauberverbot. Wie konntest du nur?“ Das ist das einzige Verbot, das ich hier drin schätze. Und er macht alles nur noch schlimmer.

„Ich hab mich vor der Tür umgezaubert“, redet er sich raus.

„Hast du nicht. Du würdest nie riskieren, dass dich unsere Menschennachbarn entlarven. Du hast mich schon wieder angelogen.“

„Du weißt doch, wie das mit deiner Mum ist. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.“

„Also lügst du Mum auch an“, schlussfolgere ich.

Er seufzt. „Sei unbesorgt, ich hab an alles gedacht und – da Mum als abschreckende Maßnahme fehlt – zur Sicherheit in den Garten gekackt, damit alle denken, wir hätten einen großen Hund. Sollte mein Schutzzauber rund um das Haus nicht ausreichen, um Einbrecher davon abzuhalten, sich eine posttraumatische Belastungsstörung zu holen, wenn sie auf dich treffen sollten, kannst du ihnen ja dabei behilflich sein, nach Geld zu suchen.“ Alles andere als das Wort „Schutzzauber“ sollte ich verdrängen. „Jetzt muss ich aber los“, erklärt er gehetzt.

Ich vernehme, wie es Pseudo-Dad schaudert, bevor er ein gedämpftes „Bei diesem Wetter sind meine Nippel sowieso vor mir bei der Arbeit“ ablässt.

Erinnere mich daran, Pseudo-Dad eine Liste mit Worten, die in meiner Gegenwart nie wieder fallen dürfen, zu geben. Das Wort „Nippel“ steht ab sofort an erster Stelle. Und gleich danach „Kacken“.

„Gut, dann versteck ich mich solange in unserem Panic-Room.“ Dafür ist er ja schließlich da. Er befindet sich im Schlafzimmer meiner Eltern.

So tief bin ich noch nie in unser Haus vorgedrungen, doch ich habe die Hauspläne genau im Kopf. An ihr Schlafzimmer grenzt ein Raum, der für diesen Zweck prädestiniert war. Dementsprechend hab ich ihn als solchen auserkoren, als zur Diskussion stand, was damit passieren soll. Eigentlich stand es nie zu Debatte – zumindest nicht bis ich die Idee eingeworfen hatte. Dort bin ich auch vor Charly sicher. Darauf beruht zumindest diese Überlegung.

„Oh, da gibt’s ein klitzekleines Problem, Prinzessin“, bemerkt mein Pseudo-Dad mit diesem speziellen Unterton, den er nur durchklingen lässt, wenn er etwas angestellt hat.

„Was denn für ein Problem?“

„Der Panic-Room musste weichen.“

„Wovor denn?“

„Vor dem Schuhtick deiner Mum.“ Welcher Schuhtick?

„Sie hat den Panic-Room mit Schuhen vollgestellt?“

„Nein.“ Ich atme erleichtert auf. „Mit Schuhen und Handtaschen.“

„Das glaub ich einfach nicht“, mache ich meinem Ärger Luft. Wozu braucht Mum einen begehbaren Schuhschrank? Sie hat doch immer nur ein, zwei abgenutzte Paar Schuhe an.

„Das war auch meine erste Reaktion, wollt ich mir doch da drin ein Nähzimmer einrichten. Na ja, als das mit dir nicht so lief, wie sie sich das vorgestellt hat, brauchte sie Ersatzbabys, die sie bemuttern konnte. Dafür kriegen die ihre gesamte Zuneigung ab. Du glaubst gar nicht, wie sie sich in den letzten Jahren vermehrt haben. Wie die Karnickel.“

„Wie kannst du nur in so einem Moment Scherze machen?“, werfe ich ihm vor.

„Was soll ich sagen, ich leide an verbaler Inkontinenz. Und so viele Dinge, die für mich früher eine Katastrophe gewesen wären, kosten mich heute bloß ein müdes Achselzucken. Älter werden rockt.“

Man hat also meine Pläne verworfen, nur um den Raum nach eigenen Belieben zu zweckentfremden. Und dann noch für einen Schuhschrank.

„Ihr habt mich schon wieder angelogen“, knurre ich mürrisch.

„Na ja, also ich bekomm Panik, wenn ich in da reinsehe. Können wir das ein andermal besprechen, Prinzessin? Ich muss jetzt wirklich los.“

„Warte, du darfst nicht gehen. Ich bin deine Tochter. Ich bin wichtiger“, stoße ich trotzig wie ein kleines Kind aus.

Wichtiger als ein kleiner Junge, der im Sterben liegt und einen Arzt bräuchte, der seine Schmerzen lindern kann? Das glaubst du doch selbst nicht‘, macht mir der Puppenspieler das schlechteste Gewissen meines Lebens.

„Ich habs ihm versprochen“, erklingt die Stimme meines Dads entschuldigend aus dem Teil. „Ich hab dir sogar eine Extraportion Inhalator dagelassen. Er steht am Küchentisch. Der ist aber nur für Notfälle.“ Das ist ein Notfall. „Aber saug nicht alles auf einmal auf, du kleiner Angstvampir, und sag bloß nichts davon deiner Mutter. Ich bin … grrrrgrrrr … zurück … so schnell … grrrgrrr.“

„Dad? DAD? DAD!

„Spätz … le … grrrgrrr.“Alles, was von der Stimme meines Pseudo-Dads bleibt, ist ein monotones Rauschen.

Ich fasse es nicht, dass er einfach abgehauen ist. Und dass er mich einen Angstvampir genannt hat.

Nur zu seiner Information, ich sauge die Angst nicht in mir auf, sie ist in mir. Wenn überhaupt, bin ich ein Angstspeier.

Ein Teil von mir will durchdrehen, doch da ich noch mit der betäubenden Substanz von meinem eskalierten Angstschub vollgepumpt bin, siegt der Überlebensmechanismus in mir. Er hat mich auch vorhin dazu gezwungen, den Inhalator von meinem Boden aufzulesen. Zu meiner Verteidigung: Ich hatte die Wahl zwischen jenem, den Mum in den Fingern hatte und diesem. Da fiel mir die Wahl leicht. Immerhin unterliegt mein Fliesenboden – im Gegensatz zu den Händen meiner Mum – einer täglichen, porentiefen Dampfreinigung.

Die Restwirkung schafft es aber nicht, die Angst, mein Bruder könnte jederzeit in mein Zimmer platzen und mich hier drin in die Enge treiben, zu unterdrücken.

Okay, stopp. Wir sind keine Kinder mehr. Aus dem Streichspielalter sind wir raus.

Genau, ihr kämpft jetzt mit härteren Bandagen“, spottet der Puppenspieler aus dem Hinterhalt.

Pseudo-Dad hat meinem Bruder ausdrücklich aufgetragen, auf mich aufzupassen, also wird er sich hüten, mich unnötig aufzuregen. Er würde sich nicht mit Pseudo-Dad anlegen.

Und vielleicht glaub ich mir das ja irgendwann mal selbst. Es handelt sich immerhin um Pseudo-Dad. Vor ihm haben nicht mal die Nachbarskinder Respekt.

Mit einem Schub Angstblocker käm ich bestimmt über ein paar Stunden.

Beherzt packe ich meinen angebrochenen Inhalator, nehme zehn Züge auf einmal daraus (er war natürlich bereits vorher leer gesaugt, was mich aber nicht davon abhält, ihn pseudomäßig zu benutzen), tausche die Skibrille durch die Taucherbrille mit Schnorchel (aber eher aus Gewohnheit, immerhin ist die Luftqualität in meinem Zimmer höchstwahrscheinlich schlechter als im gesamten Haus), schließe die Augen, bündle meine Kräfte und tue das Unvermeidbare: Ich mache mich in die Küche auf, um Nachschub zu holen und mich für die Nacht zu wappnen.

Bei der Gelegenheit vergewissere ich mich auch noch gleich, ob Pseudo-Dad Vorsichtsmaßnahmen, wie zum Beispiel das Ausstecken aller stromführenden Geräte, die durch Funkenflug Brände auslösen könnten oder das Auskleiden spitzer Gegenstände, getroffen hat.

Das übernimmt normalerweise immer Mum, bevor sie zu Bett geht. Gerade in dem Moment wird mir klar, dass sie das wohl auch nie gemacht hat.

Wie können sich meine Eltern eigentlich noch in den Spiegel sehen?

Mit einer Wut im Bauch steige ich die Treppe ganz langsam Stufe für Stufe hinab, bevor ich durch den Flur stelze – darauf bedacht, die Füße so hoch zu heben, damit ich nicht am Rand des Teppichs hängenbleiben kann und stürze.

Ich habe die Küche beinahe erreicht, wär da nicht die Kellertüre, die genau in dem Moment so kraftvoll aufschwingt, nur um meiner Reise ein jähes Ende zu setzen.

Hätt ich nicht geistesgegenwärtig die Fersen in den Boden gerammt, wär ich glatt reingelaufen. So ist es nur das herausragende Schnorchelmundstück, das das Türblatt hauchzart touchiert.

Einen Wimpernschlag später wird die Tür zugeschlagen und gibt die Sicht auf meinen Bruder frei, der mir direkt gegenübersteht.

Ich glaube, so nahe waren wir noch nie aneinander dran. Mit einem ohrenbetäubenden Schrei hechte ich ins Wohnzimmer und flüchte mich hinter das erstbeste, was greifbar war: Eine Stehlampe.

Natürlich erfüllt das Versteck nicht seinen Zweck. Ich bin zwar mager, aber so dünn auch wieder nicht, dass mich das dünne Rohr verbergen könnte.

Das hat er mit voller Absicht gemacht. Er hat mir aufgelauert und rechnete nicht mit meinem schnellen Reaktionsvermögen.

Erschreckenderweise schultert Charly einen Gegenstand, den ich nicht gleich einordnen kann, da mir die Sicht kurz durch den Lampenschirm verdeckt war. Es hat sich dabei aber definitiv um ein zylinderförmiges Ding, das aus Aluminium zu bestehen scheint, gehandelt, das schwer aussah. Als er sich in meine Richtung dreht, entziffere ich die Buchstaben „Budweiser“, die das Teil zieren.

Ein Bierfass. Ich glaubs nicht. Er will doch jetzt nicht damit zu einer Party.

Ich versuche, mich davon nicht einschüchtern zu lassen. Auch nicht, als er das Fass vor meinen Augen auf die Größe einer Taschenuhr schrumpfen lässt, nur um es im nächsten Augenblick in seiner Lederjackeninnentasche verschwinden zu lassen.

„Du hast das Zauberverbot missachtet“, werfe ich ihm vor. Hält sich in diesem Haus denn niemand mehr an Regeln, wenn Mum nicht da ist?

Kurz mustert er mich mit leerem Ausdruck in den Augen, bevor er sich umdreht und mich stehen lässt.

Einfach so.

Meine Alarmglocken schrillen, da nehme ich die Verfolgung auf und dackle ihm bis zur Eingangstüre hinterher, wo ich ihn zur Rede stelle: „Wo willst du hin? Du kannst mich nicht alleinlassen. Dad hat gesagt, du musst auf mich aufpassen.“

Anstatt stehenzubleiben, zückt er sein vibrierendes Telefon aus seiner hinteren Hosentasche. Weiß er denn nicht, dass man die Dinger nicht so nahe am Körper tragen soll?

Warte mal. Mein Bruder benutzt das Handy nicht nur, um darauf Spiele zu spielen oder ins Internet zu gehen? Er betreibt aktive Kommunikation? Tatsächlich, ich sehs genau wie er seinen Daumen gekonnt und wie selbstverständlich über das Tastenfeld gleiten lässt, als hätte er nie etwas anderes in seinem Leben gemacht.

Seine kurze Ablenkung habe ich genutzt, um näherzukommen. Von dieser Entfernung aus erkenne ich, dass er eine Nachricht verfasst hat. Mit dem Daumen drückt er ein Symbol, bevor er das Telefon wieder dorthin verschwinden lässt, wo er es vorhin herausgezogen hat und erneut – vollkommen unbeeindruckt von meinen Worten – die Tür anpeilt.

Ich schwanke zwischen unsagbarer Wut und blankem Wahnsinn. „Wie konntest du nur?“, speie ich ihm total vorwurfsvoll entgegen.

Er bleibt zwar stehen, dreht sich aber nicht zu mir um. „Wie konntest du nur all die Jahre so tun, als wärst du unfähig, Kontakt zu irgendeinem anderen Individuum aufzubauen – außer zu dir selbst, versteht sich? Und dann muss ich sehen, wie du es tust. Wahrscheinlich die ganze Zeit über. Du tauschst deine Gedanken mit jemandem aus, plauderst über dieses Ding da. Verabredest dich. Nur für mich hast du nicht mal ein Nicken übrig. Für deine eigene Schwester.“

Ah, ich vergaß, ich bin vermutlich gar nicht seine Schwester. Und er wusste es. Vermutlich die ganze Zeit über.

Und da schaffen es doch tatsächlich meine eigenen Gedanken, mir den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Meine Worte sind noch nicht mal verhallt, da setzt er seinen Weg fort. Ohne Kursabweichung. Ohne mir eine Nachricht zu schicken. Gut, ich hab gar kein Handy, aber ein Stück Papier hätte es doch auch getan.

Ein Brief. Ja genau. Er hätte mir schreiben können.

Seine Hand ergreift bereits die Türklinke, da packt mich die Verbitterung. Ich will ihn aus der Reserve locken, also drohe ich: „Wenn du jetzt gehst, dann bist du nicht mehr mein Bruder.“

Er hat nicht mal innegehalten, verlässt ignorant das Haus. Das Zuschnappen des Türschlosses lässt mich zusammenzucken, bevor ich an die Haustüre heraneile.

Durch das Fenster neben der Eingangstür erkenne ich meinen Bruder, der gerade auf sein Motorrad steigt. Als er sich eine Art Mütze, die er aus seinem schwarzen Helm hervorgezogen hat, auf den Kopf zieht und sich zum Haus umdreht, rette ich mich schreiend hinter die Wand.

Das war keine Mütze, sondern eine Skimaske, auf der ein Totenschädel aufgedruckt war.

Das hat er mit vollster Absicht gemacht, um mir den angsttechnischen Todesstoß zu geben. Und zu allem Übel lässt mich das knatternde Geräusch der Maschine erneut total aus dem Häuschen werden.

Niemand fährt freiwillig auf dieser vereisten, schneenassen Fahrbahn mit einem Motorrad. Außer ein halbstarker Hexer, der die erste Gelegenheit ergreift und einen Saufen geht, wenn er eine „sturmfreie Bude“ wittert.

Zurück bleibt nur ein leeres Theater, in dem ein einsames Püppchen steht, das den Puppenspieler viel zu deutlich im Nacken spürt.

Er hat mich allein gelassen. Mit voller Absicht. Wie konnte er das nur tun?

Das ist sein Racheakt. Immerhin hast du seine Prinzessin vergrault‘, weist mich der Puppenspieler auf das Offensichtliche hin.

Was … was soll ich jetzt tun? Ich spüre schon wieder, wie sich die Fesseln straffen, die bis jetzt lose – aber allgegenwärtig spürbar – an mir hingen.

Die Stille ist beinahe unerträglich.

Jedes kaum hörbare Geräusch geht mir durch Mark und Bein. Ja sogar mein eigenes Taucherbrillen-Schnorchelgeräusch versetzt mich in Angst und Schrecken. Noch dazu kommen diese typischen Laute eines verlassenen Hauses: Ein Knarren aus der oberen Etage. Der Wind, der die Fensterläden klappern lässt. Das Ticken der Wanduhr aus dem Wohnzimmer. Sirenen der Polizeiwagen, die durch die Straßen jagen. Auf der Suche nach einem Verbrecher, der jederzeit dieses Haus als seinen Unterschlupf auserkoren könnte.

Die Hitze der Angstwellen, die mir kalten Schweiß ausbrechen lassen, brodelt bereits erneut unter einer fragilen Schicht, die jederzeit zu brechen droht – wie ein viel zu dünnes Eis auf einem gefrorenen See, auf dem das Püppchen Schlittschuh läuft.

In hellem Aufruhr eile ich in die Küche, kralle mir den Inhalator, den Dad zurückgelassen hat, und pumpe in mich hinein, was das Zeug hält.

Mir wird erst klar, dass ich alles auf einmal aufgebraucht habe, da habe ich noch zirka zwanzig Mal gedrückt, ohne das Pump-Zisch-Geräusch zu hören.

Die volle Dröhnung lässt meinen Blick verschwimmen – aber nur kurz. Dann hab ich mein nächstes Ziel klar vor Augen: Ich brauch mehr.

Viel mehr, denn die rettende Erlösung vermag mir das Zeug in dieser Akutsituation nicht zu bescheren.

Nicht mehr. Die Zeiten, in denen die Substanz in mir seine volle Wirkung entfalten konnte, sind vorbei.

Immerhin rechne ich nicht vor dem Morgengrauen mit der Rückkehr meines Pseudo-Dads. Ich hasse mich gerade selbst dafür, dass ich dem kleinen Jungen einen schnellen Tod wünsche, damit mein er bald zurückkehrt.

Vor dem Gedanken weiche sogar ich zurück und keuche. Wie kann ich so etwas nur denken? Die Angst macht mich schwach, macht mich zu jemandem, der ich eigentlich nicht sein will.

Das muss aufhören.

Wie ein besessener Junkie breche ich auf, um den Arzneischrank meiner Mum, den ich im Badezimmer im ersten Stock vermute zu plündern. Ich brauche definitiv eine große Ration, um die Einsamkeit zu überbrücken.

Obwohl ich den Großteil meines Lebens allein in meinem Zimmer verbracht habe, besteht zwischen dem Alleinsein in einem Raum und dem Mutterseelenalleinsein in einem ganzen Haus ein Riesenunterschied, wie ich gerade schmerzlich erfahren muss.

Das Badezimmer ist schnell erreicht. Zwei tiefe Inhalationen sollten mich für das Erklimmen des Badewannenrands wappnen, wäre ich nicht vorhin gerade zur Raupe Nimmersatt mutiert, die alles verschlingt, ohne nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, sich die Dosis in Rationen einzuteilen.

Aber so ist das mit der Angst und mir. Rationales Denken ist kaum mehr möglich. Man reagiert nur noch instinktiv.

Um eine Leiter zu suchen, bleibt jetzt keine Zeit mehr. Bevor ich genauer darüber nachdenken kann, was mir alles passieren könnte und ich damit den nächsten Angstschub heraufbeschwöre, hebe ich ein Bein.

Den Aufstieg auf die schmale Kante als waghalsig zu bezeichnen, wäre noch eine Untertreibung, doch der Schrank ist bereits in Griffreichweite. Als ich das Türchen, das ein milchig weiß verglastes Kreuz trägt, mit zitternden Fingern öffne, finde ich allerlei orange Plastikpillendöschen vor. Bloß von den Inhalatoren fehlt jede Spur.

Und erneut tut sich eine Sackgasse auf, in die mich meine Eltern hineinmanövriert haben. Ich beginne, an allem zu zweifeln, was sie mir je weismachen wollten, bin wütend über mich selbst, wie leichtgläubig ich alles geschluckt habe, was sie mir auftischten.

Du glaubst doch nicht wirklich, sie verraten dir das Lager mit den Inhalatoren, damit du es in einem Akt der Verzweiflung, der dich jeden Tag ungefähr hundertfünfundzwanzig Mal ereilt, plündern kannst?‘, meldet sich die feindselige Stimme des Puppenspielers zu Wort.

Unglaublich, dass ich das jetzt denke, aber er hat recht. Einen Abhängigen zu verraten, wo er freien Zugang zu seiner Droge hat, wär doch auch kontraproduktiv. Außer man ist im Metadon-Programm und holt sich das Zeug direkt aus der Apotheke. In meinem Fall ist die Apothekerin Mum.

Okay, denk wie Mum.

Sie würde einen Ort wählen, von dem sie ausgeht kann, ich hätte zu viel Angst oder abgrundtiefen Ekel entwickelt, um ihn jemals aufzusuchen.

Also, was wär das für ein Ort? Das ist einfach: Ein Schuhschrank. Schuhe sind böse.

Ich will gar nicht daran denken, was sich an den Sohlen alles ansammeln kann. Hundekacke, ausgespuckte Kaugummis fremder Menschen, zerdrückte Zigarettenstummel, die schon mal jemand im Mund hatte.

Schnell schließe ich die Augen, um nicht in eine Kopfkinovorstellung abzudriften, in der ich im Zusammenhang mit einem der genannten Keimträger vorkomme.

Von einer inneren Aggression gegen meine Eltern gepackt, laufe ich, so schnell ich kann, den Flur entlang.

Die Treppenstufen in den zweiten Stock überwinde ich aber deutlich bedachter. Immerhin will ich mir nicht den Hals brechen.

Es könnte Stunden dauern, bis mich jemand findet. Ich könnte querschnittsgelähmt sein oder schlimmer – unfähig mich meiner Umwelt mitzuteilen und doch imstande zu sein, alles in meinem Körper wahrzunehmen.

Mein Atem geht ins Röchelnde über. Ich muss aufhören, mir alles Schreckliche auszumalen, sonst wird das hier schlimm enden.

Den Weg zum Schlafzimmer meiner Eltern überwinde ich in Windeseile, denn ich klammere mich an den Strohhalm, dass mein Pseudo-Dad in Sachen Panic-Room – wie auch in allen anderen Belangen – gelogen haben könnte.

Und dazu brauche ich eins: Nämlich Gewissheit.

Möglicherweise will er bloß die Existenz eines solchen Zufluchtsortes durch den vermeintlichen Schuhschrank verschleiern, weil er nicht will, dass ich mich dort einsperre. Oder darin verbirgt sich – wie vermutet – das Versteck mit den Inhalatoren. Beides gute Gründe mich davon abzuhalten, diesen Raum auf eigene Faust zu erkunden.

Aber er hätte ihn auch einfach mit Magie verschleiern können – so wie das Haus. Bestimmt hat er in der Eile nicht mehr daran gedacht.

Ich zwinge mich dazu, das Schlafzimmer meiner Eltern schnurstracks zu passieren. Immerhin versuche ich noch zu verdrängen, dass sich Mum und Dad ein Bett teilen. Oder ein Badezimmer. Mir ist schleierhaft, wie man zu solch einer Grausamkeit fähig ist.

Die Tatsache, dass sie die Fenster mit bodenlangen, beigen Brokatvorhängen abgehängt haben, bringt mich nur kurz aus dem Konzept.

Vorhänge gehen gar nicht. Vorhänge sind böse.

Mein Blick schwenkt den Raum ab. Ich schaffe es, meine Gedanken auf das Wesentliche zu fokussieren, erkenne die kleine Schiebetüre gegenüber des Bettes meiner Eltern, die ich beherzt aufziehe.

Mein Dad hatte recht, der Anblick ist kaum zu ertragen. Hier hat er wohl mal zur Abwechslung die Wahrheit gesagt.

Das müssen an die fünfzig potenziell ekelerregende Schuhpaar-Keimträger mit farblich dazu passenden Handtaschen sein, die eine Mischung aus Leder- und Plastikduft absondern.

Die rückwärtige Wand ist voll verspiegelt, sodass es so aussieht, als hätte jedes Paar einen Doppelgänger. Davon bekommt man Kopfschmerzen, wenn man zu lange drauf starrt, deshalb wende ich gequält den Blick ab.

Was mich wirklich überrascht ist die Tatsache, dass meine Mum sie fein säuberlich farblich sortiert und aufeinander abgestimmt hat. So viel Liebe zum Detail hätte ich ihr nicht zugetraut.

Ob sie die Inhalatoren in einer der Taschen versteckt hält?

Oder schlimmer: In den Schuhen.

So etwas würde ich nie anfassen. Davon muss sie zumindest ausgegangen sein. Andererseits weiß sie ja, dass ich dort unseren Panic-Room vermute. Also könnte sie ja davon ausgehen, dass ich hier mal Unterschlupf suche. Unter diesem Gesichtspunkt wäre diese Leder-Gammel-Kammer kein sehr gutes Versteck.

Der Gedanke, ich hätte hier die nächste Sackgasse aufgetan, macht mich traurig. Aber nur kurz, denn meine Wut nimmt wieder Überhand. Die Wut darüber, dass dies erneut ein Eckpfeiler ihres Lügenkonstrukts ist, das sie sich aufgebaut haben, um ihre „spezielle“ Tochter so richtig schön hinters Licht zu führen.

Ich sehe das Püppchen, das die großen, weißen Kopfhörer trägt, mit denen Mum immer nach draußen zum Joggen geht. Mein Pseudo-Dad blendet das Duckmäuschen mit den Bühnenscheinwerfern, während mein Bruder ihm den Mund zuhält.

Das Bild passt doch. Ich bin ihr kleines Haustieräffchen.

Es ist eine Verschwörung gegen mich im Gange – so muss es sein. Und der Täter ist meine eigene, gesamte Familie.

Wahrscheinlich lachen sie über mich, wenn sie zusammen hocken.

Ich glaube, da bricht meine Verschwörungs-Theorie-Bastelphobie wieder durch.

Ein unbändiger, innerer Aufruhr treibt mich dazu, wie wild geworden auf ein Schuhpaar meiner Mum loszugehen, das in hohem Bogen weg fliegt, als würden sich die Treter mit den viel zu hohen Hacken freiwillig in die rettende Tiefe stürzen, um dem Unvermeidbaren zu entgehen.

In den einst sortierten Reihen klafft nun eine Lücke, die mich beinahe in die Knie zwingt.

Meine erschlafften, gummiartigen Glieder suchen Halt am gegenüberliegenden Regal, das aus der Verankerung bricht und mit mir gen Boden segelt.

Mich setzt es so richtig schön auf den Hintern – das dünne Holzregal mit beiden, topflappenbehandschuhten Händen fest umklammernd, gefolgt von einer Reihe einzelner Schuhpaare und Handtaschen, die mich soeben unter sich begraben.

Es war unumgänglich, einen Blick auf die Schuhsohlen zu werfen, die mir vor der Taucherbrille kleben. Zu meiner Überraschung sind die, die sich in meiner unmittelbaren Umgebung befinden, allesamt fabrikneu.

Absolut gar nichts zeugt davon, dass sie je diesen Raum verlassen haben, geschweige denn Bodenkontakt hatten, was das Ganze etwas erträglicher macht.

Aber warum sollte Mum hier drin Schuhe horten, die sie nie angezogen hat? Ich wühle mich durch und finde kein einziges Paar, die schon mal mit der Außenwelt in Berührung gekommen sind. Die Taschen sehen ebenso unbenutzt aus.

Vielleicht ist das einfach nur ein kranker Sammeltick.

Nach zwei Zügen aus meinem leeren Inhalator sehe ich mich selbst im Spiegel gegenüber inmitten dieses Chaos sitzen.

Besser gesagt das, was von mir unter meiner Vermummung übrig ist. Mein Anblick erschreckt mich selbst, obwohl ich ihn ja eigentlich gewohnt bin.

Na ja, von Gewohnheit kann keine Rede sein, da ich Spiegel meistens meide. Ja, ich hab Angst vor meinem eigenen Spiegelbild – ich hab sogar Angst vor mir selbst.

Manchmal. Wenn mein Magen knurrt oder es irgendwo zwickt, zum Beispiel.

Mum hat recht. Diese Taucherbrille mit den runden, zutiefst dunkel getönten Augengläsern schmeichelt mir nicht gerade.

Ich weiß nicht wieso, aber gerade eben geistert die Frage des Tätowierers in meinem Kopf herum: „Was wär das Erste, das du tun würdest, wenn du aufwachen würdest und keine Angst mehr hättest?

Ich weiß es nicht. Darüber habe ich – und das überrascht mich selbst – nie zuvor nachgedacht.

Ich fühle, dass die Angst ein Teil von mir ist. Mir vorzustellen, ich würde aufwachen und sie wäre weg, würde sich anfühlen als wär ich nicht mehr ich selbst. So, als würde dem Püppchen ein Arm oder ein Bein fehlen.

Dennoch sehne ich den Tag herbei, an dem ich frei von Angst bin. Heißt das, eigentlich will ich meine Ängste loswerden, würde sie aber … vermissen?

Das ist doch irgendwie total paradox. Tja, wieder mal typisch für mich.

Ich bin anders.

Jetzt wär eigentlich wieder der Zeitpunkt gekommen, wo ich das Gefühlschaos in mir mit meinem Inhalator im Keim ersticke.

Das war aber dein letzter. Bis Pseudo-Daddy nach Hause kommt, versteht sich, der womöglich zu einem ‚Notfall‘ auf der Couch der Weihnachtsfeier-Romanze gerufen wurde‘, erinnert mich der Puppenspieler schadenfroh.

Nein. So etwas würde Pseudo-Dad nicht tun. Das war Spaß, nichts weiter. So ist er eben. Ein Witzbold.

Ein Fünkchen Wahrheit steckt doch immer in jedem Witz‘, will mich der Puppenspieler gegen Pseudo-Dad aufbringen.

Funktioniert schon mal.

Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken oder glauben soll.

Bevor ich mir darüber Gedanken machen kann, wie ich jetzt über die Runden kommen soll, erregt etwas meine Aufmerksamkeit. Der Spiegel in der untersten Schuhreihe scheint beschädigt zu sein – es fehlt ein kleines Stück an einer Ecke.

Das kann aber auch nur einem Zwangsneurotiker auffallen‘, motzt der Puppenspieler.

Klappe jetzt.

Es sieht aber nicht so aus, als wär es herausgebrochen – dafür sind die Kanten viel zu glatt. Beinahe automatisch wandert meine Hand zu der Stelle.

Meine Neugierde ist geweckt, also entledige ich mich meiner Topflappenschutzschicht. Mit einem baumwollgebetteten Finger taste ich nach der Ausnehmung und ziehe das Spiegelstück heraus.

Dahinter offenbart sich ein Hohlraum, der größer als gedacht zu sein scheint. Darin befindet sich ein länglicher Schuhkarton, den ich vorsichtig herausziehe. Er ist rosa mit zarten Gänseblümchenranken und so groß, als wär er für Stiefel gemacht worden.

Wieso versteckt Mum ein Paar Schuhe hinter der Spiegelwand ihres Schuhregals?

Vielleicht ist es ihr Lieblingspaar‘, mutmaßt der Puppenspieler.

Hab ich etwa doch zufällig das Geheimversteck meiner Inhalatoren ausgehoben? Bei meinem Glück sind es alte Liebesbriefe, die Pseudo-Dad nicht zu Gesicht bekommen soll. Immerhin nimmt sie ja offensichtlich den gesamten Raum in Beschlag. Pseudo-Dad hat hier drin nichts verloren, so viel steht fest, könnte daher auch nicht „zufällig“ über ihr Geheimversteck stolpern.

Eigentlich geht mich das gar nichts an, was Mum vor aller Welt verbirgt.

Das heißt aber nicht, dass ich nicht neugierig bin.

Ich sehe zur Tür und lausche angestrengt, doch nichts vermag die Stille zu übertönen. Obwohl ich zwiegespalten bin, entscheide ich mich dennoch dafür, die Box zu öffnen.

Wer weiß, vielleicht finde ich auf diesem Weg mal zur Abwechslung etwas über meine Mum heraus, das wahr ist.

Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Etwas enttäuscht finde ich vier dicke Papierstöße, die gelocht sind und jeweils mit einer Kordel zusammengebunden wurden, vor. Die Seiten sind voll von gedruckten Buchstaben. Keine Ahnung, was das für Unterlagen sind. Ich will die Schachtel schon gereizt in eine Ecke kicken, da grabe ich unter den Zetteln einen Gegenstand aus, der ziemlich fehl am Platz wirkt. Zumindest in diesem Raum.

Es ist ein Hammer.

Okay, meine Mum versteckt also Werkzeug in einer rosa Blümchenschachtel. Das sieht man auch nicht alle Tage.

Bei genauerer Betrachtung erkenne ich starke Abnutzungsspuren am massiven Holzgriff. Selbst der Stein sieht etwas zu grob gemeißelt aus. So als hätte man ihn händisch aus einem großen Brocken gehauen. Und es ist auch kein gewöhnlicher Hammer, mit dem man Nägel in Wände einschlägt.

Dafür ist er viel zu groß.

Nicht, dass ich mich da sonderlich gut auskenne. Von Werkzeug lass ich prinzipiell die Finger, aber irgendetwas sagt mir, dass er nicht aus einem Baumarkt stammt.

Er muss alt sein.

Richtig alt.

Um ihn mir genauer ansehen zu können, hebe ich das Teil vorsichtig aus der Schachtel. Immerhin will ich mich nicht damit verletzen. Dabei erschreckt mich sein recht stattliches Gewicht und er fällt mir doch aus der Hand.

Direkt zurück in die Schachtel.

Als ich ihn erneut aufheben will, irritiert mich etwas daran. Am Griff ist eine kleine Kerbe eingeschlagen. Dazwischen klemmt ein Plastikteil, das definitiv nichts an diesem altertümlichen Ding zu suchen hat.

Ich hätte es fast übersehen, da es recht filigran eingearbeitet wurde. Als ich mit dem Daumen darüberstreiche, fühle ich eine winzige Erhebung. Ich nestle daran und zu meiner Verwunderung lässt es sich ohne große Gegenwehr herausziehen.

Darunter befindet sich ein kleiner, länglicher Hohlraum, in dem ein kleines Papierröllchen steckt. Als ich es herausfische und aufrolle, klappt mir die Kinnlade runter.

Das ist ein Foto.

Zumindest ein Teil davon. Es wurde in der Mitte auseinandergerissen. Mir liegt nur diese Hälfte vor, auf der ich eine deutlich jüngere Mum und ansatzweise Teile eines männlichen Körpers erkennen kann – wenn man ein paar Haare, ein halbes Lippenpaar und eine Hand so bezeichnen kann.

Und jetzt kommts: Bei dem Kerl handelt es sich definitiv nicht um Pseudo-Dad. Es sei denn, er hatte mal schwarz gefärbte Haare und hat Mum einen triftigen Grund geliefert, ihr Foto zu zerreißen.

Triftiger als der Scherz auf ihre Kosten, der das Fass zum Überlaufen gebracht haben könnte?“, erinnert mich der Puppenspieler.

Nein, ich bin sicher, der Typ auf dem Bild ist nicht Pseudo-Dad.

Und das Beste ist: Sie küssen sich. Genau an ihren Mündern wurde das Foto entzwei gerissen und hat sie so voneinander getrennt.

Mein Herz klopft so stark gegen meine Brust, dass es sogar in meinen Ohren pocht. Der Unbekannte hat kohlrabenschwarzes Haar und einen dunklen Dreitagebart.

Mit seiner linken Hand berührt er Mums Haar im Nacken, so als wolle er sie für den Moment vollständig in Besitz nehmen. Mehr ist von ihm nicht zu erkennen.

Also gehört der Hammer ihm.

Dem Bauarbeiter, der Mum küsst, die auf dem Bild nicht älter aussieht, als ich es jetzt bin. Obwohl es nur eine Momentaufnahme ist, lässt mich die Intensität, mit der sie sich liebkosen, keuchen.

Sie lieben sich. Falsch. Liebten sich.

Mum liebt jetzt Dad.

Oder?

Aber wenn das ihr Ex-Freund ist, wieso behält sie dann sein Zeug und das Foto? Und wieso verdammt nochmal versteckt sie es vor Pseudo-Dad?

Na ja, zumindest diese Frage ist geklärt. Sie kann das Bild ja nicht auf die Kommode neben ihr Hochzeitsfoto stellen.

So etwas tut man doch nicht. Oder? Ich habe keine Ahnung von Beziehungen, aber spätestens wenn man verheiratet ist, sollte man sich doch von so einem Krempel trennen.

Tausend Fragen schießen mir gleichzeitig durch den Kopf. Empfindet Mum noch etwas für den Mann oder war es sogar er, der sie verlassen hat? Trifft sie sich noch mit ihm? Womöglich hinter dem Rücken von Pseudo-Dad. Ist sie deshalb in Chicago? Wissen meine Eltern womöglich von ihren gegenseitigen Affären und spielen uns nur die heile Familie vor?

Ist alles Show? Eine erneute Lüge?

Nein, meine Mum liebt meinen Pseudo-Dad – auch wenn sie es nicht zeigen kann.

Bist du dir da wirklich sicher?‘, schürt der Puppenspieler meine Zweifel. Ich verstehe nichts von solchen Dingen.

Weiß nichts über die Liebe.

Vielleicht interpretiere ich auch viel zu viel in diesen Fund hinein. Es wäre auch denkbar, dass sie den Hammer für praktisch hält und einfach vergessen hat, dass sich noch das alte Foto darin befindet.

Warum ist er dann nicht in der Werkzeugkiste – bei seinen Gefährten?‘, meldet sich der Puppenspieler zu Wort.

„Weil er etwas Besonderes ist“, antworte ich flüsternd.

Er muss es sein, denn nur Sachen, an denen man emotional hängt, bewahrt man so lange auf. Das nehme ich zumindest an.

Was weiß ich?

Ich hänge an keinen Dingen. Dazu hab ich viel zu viel Angst.

Es wär rein theoretisch auch möglich, dass sie das komplette Versteck längst vergessen hat.

Erneut mustere ich das Bild genauer. Forsche nach Details, die die Identität des Fremden preisgeben könnten, werde aber nicht fündig. Das Foto hat die Zeit wohl nicht unbeschadet überdauert, da es sichtlich zerknittert und an den zahlreichen Faltkanten Farbe eingebüßt hat.

Es sieht definitiv abgegriffen aus. So als hätte sie das Bild tausendmal in der Hand gehabt, bevor sie es wieder eingerollt im Hammer versteckt hat.

Es ist aber auf jeden Fall Träger von Erinnerungen. Glücklichen Erinnerungen, die man in ihrer Liebkosung lesen kann.

Oder furchtbaren‘, wendet der Puppenspieler ein. ‚Erinnerungen, die man nicht loswird, weil sie einen verfolgen.‘

Deshalb ist der Hammer mit dem verborgenen Bild auch nicht in der Werkzeugkiste gelandet. Er ist zu kostbar für meine Mum oder sie erträgt es nicht, ihn anzusehen, weil an ihm schreckliche Erinnerungen anhaften.

Trauert sie vielleicht dieser verflossenen Liebe hinterher? Womöglich wenn sie nachts nicht schlafen kann.

Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge, wie sie hinter dem Rücken meines schnarchenden Pseudo-Dads an diese Zufluchtsstätte kommt und in Erinnerungen längst vergangener Tage schwelgt, die sie wie einen Schatz hütet. Das Foto sogar an ihre Lippen führt, um das Feuer zu spüren, das längst in ihr erloschen ist.

Sie kann nicht loslassen. Kann sich nicht davon trennen.

Wieso nicht?

Auch auf diese Frage kenne ich die Antwort: Weil eine Verbindung zwischen dem unbekannten Bauarbeiter und meiner Mum besteht, die die Zeit überdauert hat.

Der Mann auf dem Bild ist mein leiblicher Vater, da bin ich mir sicher.

Immerhin habe ich mehr optische Gemeinsamkeiten mit ihm als mit Pseudo-Dad, dem ich kein bisschen ähnlich sehe. Hier stimmt zumindest schon mal die Haarfarbe mit der meinen überein.

Ich fühle ein Stück in mir zerbrechen. Das ist Verrat. Verrat an meinem Pseudo-Dad. Verrat an ihren Kindern.

Warte mal.

Könnte es sein, dass ich ein „Unfall“ war? Nicht geplant? Ein Überbleibsel aus einer längst beendeten Beziehung. Das Stiefkind, das Mum in ihre neue Beziehung mit Pseudo-Dad mit eingebracht hat, der zwar meinen leiblichen Vater kennt, mich aber wie sein eigenes Kind aufzieht.

Oder wollte mein echter Vater mich nicht? Vielleicht weiß er auch gar nicht, dass ich sein Kind bin.

Weiß nicht, dass ich existiere.

Wer ist er? Ein Hexer? Ein Mensch? Nein, er muss ein weißer Hexer sein, sonst würde mein Pseudo-Dad nicht davon sprechen, dass er meine „anderen“ Kräfte vorerst bewahrt. Womöglich hat sie ihm mein Vater ausgehändigt.

Die unterschiedlichen Szenarien, die meinen Kopf nun zum Bersten füllen, sind kaum zu ertragen.

Aber inmitten der Verwirrung weiß ich eins ganz genau: Die Sachen gehören jetzt mir. Sollen mir als Indizien dienen, um die Wahrheit herauszufinden.

Schnell schiebe ich das Foto in meine Hosentasche und knote den Hammer an das Stoffband, das meinen Overall an der Hüfte zusammenschnürt. Die Schachtel lege ich an ihren ursprünglichen Platz zurück und rücke das Spiegelstück zurecht.

Dabei fällt mir ein Gegenstand auf, der hinter ein paar Schuhen versteckt war. Er sieht aus wie eine Art kleine Pistole, auf der ein Blitz abgebildet ist, die ich hervorhole. Vorne am Lauf befindet sich ein gelb schwarz gestreifter Block.

Geschockt lasse ich das Teil fallen.

Ist das ein Elektroschocker? Was zum Teufel macht Mum damit in ihrem Schlafzimmer-Schuhschrank?

Okay, das wird ja immer grusliger, obwohl ich mich damit verteidigen könnte – sollte ich je die Hürde überwinden, das Ding nochmal anzufassen, versteht sich.

Ich bin hin- und hergerissen, packe die Waffe aber kurzerhand in meine andere Hosentasche. Man kann ja nie wissen, wozu sie mir noch nützlich sein wird.

Die Ordnung im Schuhschrank meiner Mum wiederherzustellen ist einfach. Die Farben der Taschen werden immer dunkler je weiter man zur Tür kommt.

Schon bald ist wieder alles beim Alten.

Nichts zeugt noch von dem Chaos, das hier noch vor ein paar Minuten herrschte.

Wenn das wahr wäre, wieso fühle ich dann eine innere Leere, die seinesgleichen sucht? Mein Vorstoß in Mums Schuh-Rumpelkammer hat ein totales Durcheinander in mir hinterlassen.

Dieses Haus ist gespickt von Lügen, Geheimniskrämereien und gegenseitige Verarsche, was kaum auszuhalten ist.

Ich muss hier raus.

Keine Sekunde ertrage ich diese vier Wände mehr – so viel ist sicher. Ich kann nicht nach draußen gehen, aber hier drin bleiben kann ich auch nicht.

Alles ist infiziert.

Infiziert mit verzerrten Wahrheiten.

Mehr stolpernd bahne ich mir einen Weg durch die obere Etage und der Treppe ins untere Geschoß, dessen einsame Stille nur durch die Pfeiflaute meines schnellen Atems, der durch den Schnorchel eher wie ein tauchender Darth Vader klingt, unterbrochen wird.

Aufgeputscht durch die viel zu hohe Dosis meines Inhalators überwinde ich die Schwelle unseres, in diffuses Licht gehüllten, Wintergartens.

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, das Glashaus würde die schwüle Luft des vorangegangenen Sommertages länger konservieren, die sich in diesem Moment in meine Kleidung fressen und die Schweißperlen auf meiner Haut noch weiter anfachen sollte, doch zu meinem Erstaunen ist es eiskalt.

An den gläsernen Scheiben wachsen Schneeblumen empor und lassen das Konstrukt wie eine Eisgrotte wirken.

Dass alles unter der Last des Schnees zusammenbrechen und mich darunter begraben könnte, wirkt fast als lächerliche Angst – verglichen mit meiner Entdeckung, die ich soeben mache und die mich in meinen Grundfesten erschüttert: Die Tür steht offen.


Schneekugelsturm: Band 1

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