Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 4
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ОглавлениеBesorgnis und Vorwurf schwingen in den Blicken meiner Eltern gleichermaßen mit, während ich abwechselnd den Wirkstoff meines Inhalators und die kohlendioxidreiche Luft, aus der chlorfrei gebleichten Papiertüte in meine brennenden Lungenflügel ziehe, um nicht erneut zu kollabieren, bevor ich die Gasmaske wieder an ihren Platz zurechtrücke, die ich laut Mum eigentlich nur bei Naturkatastrophen, Bombenangriffen oder Kernschmelzen in Atomkraftwerken aufsetzen darf.
Wenn das kein absoluter Ausnahmezustand ist, weiß ich auch nicht mehr. Das scheint sie ebenso zu sehen, da sie mir das Teil noch nicht entrissen hat.
Ich bin noch zu aufgewühlt und verstört, um irgendwelche Erklärungen abzuliefern, also begnügen sich meine Eltern mit meinem jämmerlichen Anblick, um sich – da bin ich mir sicher – gleich nachdem sie sich an mir sattgesehen haben, meinen Bruder vorzuknöpfen, der lässig am Küchentresen lehnt.
Gespannt wie ein Flitzebogen und mit einem Hauch Genugtuung sehe ich seiner bevorstehenden Abreibung von der sicheren Distanz aus, fest an die gegenüberliegende Wand gepresst, entgegen.
Das wird köstlich. Sonst kommt er immer mit allem durch, aber heute nicht. Heute haben sie ihn auf frischer Tat ertappt.
Sonst bekommt Charly nie Ärger für etwas, das er getan hat. Die unzähligen Streiche, die er mir gespielt hat, blieben ungesühnt, weil er es immer geschickt eingefädelt hat, alles zu vertuschen und als puren „Zufall“ wirken zu lassen.
Bis heute.
So viele Zufälle gibt’s gar nicht – das ist auch meinen Eltern klar, hab ich zumindest das Gefühl. Immer wenn Charly etwas angestellt hat, sehen sie sich so komisch an. So als würden sie ein Geheimnis haben.
Aber heute geht das nicht. Das ist zu offensichtlich. Und ganz zufällig wird er jetzt dafür büßen.
Das wars auf jeden Fall wert. Selbst meinen peinlichen Niedergang erachte ich als Opfer, das ich bereit war, zu bringen.
Für diesen Moment der Gerechtigkeit.
„Du kennst die Regeln, die in diesem Hause gelten, Fynn.“ Meine Mum, die sich bis jetzt damit begnügt hat, mich kritisch zu beäugen, klingt echt zornig. Ihre Worte wären Musik in meinen Ohren – würde ich vor Musik nicht Angst haben – Melophobie – und wär ich mir nicht absolut sicher, dass sie gerade den Namen meines Dads mit dem meines Bruders vertauscht hätte.
Das ist bestimmt den frühen Morgenstunden zuzuschreiben. Egal, es ist trotzdem Balsam für die Seele.
„Ich erlaube keine Menschen in diesem Haus“, fährt sie ihre Strafpredigt, die komischerweise tatsächlich an Dad gerichtet ist, fort. „Das weißt du ganz genau.“
Die Frequenz des Raschelns meiner Papiertüte wird schneller und lenkt ihre Aufmerksamkeit von meinem Dad ab. Tja, das ist auch so eine Sache, die mir unsagbare Angst macht und die ich bis jetzt ganz gut verdrängt habe: Wir sind keine Menschen.
Wir sind Hexen. Wiccaphobie: Angst vor Hexerei. Ist echt lästig, kann ich nur sagen. Besonders in einem Haushalt voller magischer Wesen.
Nicht, dass ich zaubern könnte. Dafür bin ich glücklicherweise noch viel zu jung. Na ja, so jung auch wieder nicht. Das geht erst mit sechzehn, wenn sie meine Kräfte wecken. Habe ich schon erwähnt, dass ich bald sechzehn werde und mir das auch ziemliche Angst macht.
Gerascophobie: Angst, zu altern.
Die Papiertüte spricht für mich.
„Und nun zu dir, Fräulein“, wendet sich das Blatt viel zu schnell. „Was hast du mitten in der Nacht im Zimmer deines Bruders zu suchen?“, wirft sie mir vor.
Warte. Wars das schon wieder? Eine kurze verbale Verwarnung an Dad, der damit überhaupt nichts zu tun hat, und dann geht’s mit mir weiter?
Was ist mit Charlys Abreibung? Seine Strafe? Das geht hier entschieden in die falsche Richtung. Er ist der Böse, nicht ich, und auch nicht Dad verdammt nochmal.
Die rabenschwarzen Strähnen ihres sonst perfekt drapierten Kurzhaarschnitts stehen meiner Mum in alle Richtungen ab, was mich ziemlich nervös macht, bevor ich den Blick gequält von ihr abwende. An die ausrangierte Strickjacke, die sie in ihrer Eile übergezogen hat, will ich gar nicht denken.
Ataxophobie: Angst vor Unordnung.
Ist doch kaum auszuhalten.
Ich spreche laut, damit meine Stimme unter der Gasmaske hervordringt. „Kann sich Charly erst was anziehen, du dich ausziehen und dich kämmen, Mum?“, flehe ich beinahe.
Sie scheint von meiner Bitte irritiert zu sein. Und da ist er wieder: Der „Blick“. Dieser Ach-ja-meine-Tochter-hat-ja-besondere-Bedürfnisse-die-mich-schön-langsam-in-den-schier-sicheren-Wahnsinn-treiben-Blick.
„Was?“, zischt sie genervt, kämmt provisorisch mit den Fingern durch ihre Matte und macht damit alles nur noch schlimmer.
„Gymnophobie und Hypertrichophobie. Angst vor Nacktheit und Angst vor Haaren“, kläre ich sie auf und nehme noch einen tiefen Zug aus der Papiertüte, um einen erneuten Angstschub abzuwenden, der sich dumpf anbahnt.
„Ist ab heute auf der Liste. Ich trage es nachher ein“, ergänze ich etwas kleinlaut.
Ich habe eine Liste mit bei mir entdeckten Phobien, die täglich wächst. Dazu hab ich alle Phobien mal sicherheitshalber auswendig gelernt, um sie im geeigneten Moment parat zu haben – na ja, fast alle, die mit den kohlensäurehaltigen, gezuckerten Getränken, die mir bewusst wurde, als Charly mit der Coke im Türrahmen stand, muss ich später recherchieren.
Die Liste gibt mir Sicherheit. Na ja, das Wort „Sicherheit“ ist etwas übertrieben. Nennen wir es „kurzzeitiges, leichtes Behagen“.
Es hat etwas zutiefst Therapeutisches, meine Phobien zu dokumentieren. Dabei fühle ich mich wie ein Archivar in einer großen Bibliothek.
Entdecke ich eine neue Angst bei mir, wird sie mit Lebensmittelfarbe auf eine transparente, aus Zucker bestehende Folie aufgetragen und daraufhin mit einem wasserfesten, auf natürlichen Rohstoffen basierenden Lack versiegelt. Wenn alles trocken ist, hänge ich sie an eine der freien Wandfliesen in meinem Zimmer. Dabei dient mir sprühbarer Zuckerguss als Klebstoff.
Nur so viel – viele Fliesen sind nicht mehr frei, bald muss ich auf die Decke ausweichen (ja, bei mir sind Wände und die Decke gefliest – aus reinigungstechnischen Gründen).
Aber dafür würde ich eine Leiter brauchen und deshalb denke ich jetzt lieber an etwas anderes.
„Na wunderbar! Wieder eine Phobie entdeckt“, stößt meine Mum patzig aus. Sie schwingt die Arme dabei so, als wolle sie ein Orchester dirigieren.
„Zwei“, korrigiere ich sie. „Numerophobie, Angst vor Zahlen. Ist auch neu. Trägst du sie bitte gleich zusammen mit den anderen in deine Liste ein?“ Meine Mum führt eine eigene Liste in ihrem schlauen Büchlein, um immer up to date zu sein.
„Du hattest doch gerade den Inhalator, wieso wirkt er nicht?“, will sie von mir beinahe vorwurfsvoll wissen.
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht ein Gewöhnungseffekt“, mutmaße ich. „Krieg ich noch einen?“ Ich halte ihr das bereits auf Anschlag leer gesaugte Teil hin.
„Du hast schon alles verbraucht?“, stellt sie verblüfft fest, bevor sie mir den Inhalator abnehmen will, den ich ihr freiwillig zukommen lasse, indem ich ihn auf dem Tisch ablege.
Komm mir bloß nicht zu nahe. Nähe ist böse.
„Da war eine Wochenration drin“, ergänzt sie.
Die Betonung liegt hierbei auf dem „War“. „Jetzt nicht mehr“, informiere ich sie und probiere es erneut, sie zu erweichen: „Außerdem haben wir darüber gesprochen, dass wir uns von der Bezeichnung ‚Wochenration‘, die so ein-, zweihundertmal pro Woche fällt, doch schön langsam mal lösen. Immerhin zeigt die langjährige Praxis, dass mein Verbrauch bei mindestens einem Stück pro Tag liegt. Krieg ich jetzt noch einen?“
Ihr „Nein“ klang bestimmt und fest entschlossen.
„Wieso nicht?“, zicke ich.
„Du kennst die Regeln. Du hattest deine Wochenration. Damit musst du das Auslangen finden. Außerdem hast du noch deinen anderen Inhalator.“
„Der ist unbrauchbar geworden und war schon fast aufgebraucht.“
Meine Mum reißt die Augen auf. „Der Inhalator sollte eine ganze Woche ausreichen.“ Sie hält also immer noch an der Wochenration fest.
„Hat er doch … irgendwie.“
„Es ist Montag.“
„Ich bin dafür, dass es bei widrigen Umständen höhere Rationen für mich geben sollte“, verhandle ich.
„Das vorhin war doch erst, nachdem du schon alles aufgebraucht hattest“, versucht sie mich aufzudecken.
„Davon sprech ich auch nicht. Hallo? Es schneit.“
Da ist er wieder, dieser Blick. „Krieg ich jetzt einen neuen Inhalator?“, setze ich auf die Zermürbungstaktik.
Ihr erneutes „Nein“ erstickt jegliche Hoffnung im Keim, ihr das Teil doch noch abzuschwatzen. Wir drehen uns hier irgendwie im Kreis.
„Wie soll ich dann über die Woche kommen?“, wende ich ein.
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen“, ist einer dieser Sätze, den Eltern viel zu oft verwenden – zumindest für meinen Geschmack.
„Bevor Charly einen Menschen mit in unser Haus genommen hat, meinst du?“ Um wieder auf das Kernthema zurückzukommen.
„Bevor du alles für so eine Lappalie wie für den Schnee verschwendet hast“, klärt sie mich auf. Sie versteht das nicht. Tut sie nie. Es ist hoffnungslos, ihr immer von Neuem klarzumachen, dass meine „Lappalien“ ernstzunehmende, bewusstseinsverändernde Gefühle voller Aufruhr in mir auslösen.
Ich bin anders. Damit hat sie so ihre ganz persönlichen Probleme.
„Schnee im August“, fahre ich fort, ohne auf ihren Einwand einzugehen. „Das ist doch nicht normal. Bestimmt sind das die ersten Vorboten eines Asteroideneinschlages. Du wirst es sehen, wenn der Tag anbricht. Der aufgewirbelte Staub verdunkelt bestimmt bereits die Sonne und dann sterben die Bienen, dann die Pflanzen, daraufhin wir alle.“
Ich ziehe den Kopf ein und klammere mich an der Papiertüte fest.
„Solche Wetterkapriolen gab es über die Jahrhunderte immer mal wieder. Die sind harmlos“, versucht Dad alles herunterzuspielen.
Seit wann verharmlost er meine Ängste und seit wann steht er auf Mums Seite?
„Frag mal die Dinosaurier was sie von den ‚harmlosen Wetterkapriolen‘ gehalten haben. Ups ausgestorben“, meckere ich. „Außerdem ist das nicht dein Fachgebiet, Dad.“
Mum rollt mit den Augen, während sie stoisch auf die Kaffeemaschine drückt, um den Brühvorgang zu beschleunigen.
„Trägst du jetzt meine neuen Phobien ein?“, ziehe ich ihre Aufmerksamkeit erneut auf unser Lieblingsthema: Mich.
Sieh mich nicht so an, ich bin eine Geisel meiner selbst.
Sie reibt sich angestrengt über die müden Augen. Kunststück, es ist halb vier Uhr morgens. „Weißt du was, ich trage alle Phobien erst mal ein und streiche die weg, die du nicht hast. Das wär bedeutend weniger Arbeit“, schlägt sie doch tatsächlich vor.
Ich reiße die Augen auf. „Nein“, keuche ich vorwurfsvoll. „So geht das nicht. Das würde doch ein vollkommenes Durcheinander ergeben. Ataxophobie, Angst vor Unordnung. Weißt du nicht mehr? Das war eine meiner ersten Phobien, als mir bewusst wurde, wie du die Spülmaschine einräumst.“
„Ich hab ehrlich gesagt schon lange den Überblick über deine zahllosen Ängste verloren“, gibt sie total geschafft zu.
Kann ich voll verstehen.
„Deshalb hast du doch deine Liste, Mum.“ Die Liste ist gut. Die Liste gibt mir kurzzeitiges, leichtes Behagen. „Trag es bitte ein, bevor du es noch vergisst. Athazagoraphobie, Angst zu vergessen. Die steht aber schon drauf.“
„Später“, speist sie mich ab.
„Jetzt!“, bestehe ich darauf.
Sie steht kurz vor dem Verlust ihrer Geduld, während wir unseren üblichen, funkelnden Schlagabtausch mit unseren Augen vollziehen, bei dem ich eigentlich nur verlieren kann.
Genau in dem Moment schaltet sich meist mein Dad ein. Das macht er immer, bevor alles eskaliert, was immer passiert, wenn wir aufeinandertreffen.
Aber heute tut er nichts dergleichen. Er lehnt bloß mit verschränkten Armen an der Stelle neben meinem Bruder und sieht wie gebannt auf Mums, sich stetig füllende, Kaffeetasse mit der Aufschrift: „Ich bin wach. Der tägliche Wahnsinn kann beginnen“. Er schläft wohl auch noch mit offenen Augen.
Genau wie mein Bruder, aber bei ihm ist das der Normalzustand.
Sie sind beinahe ein Ebenbild. Dad und er. Beide haben diese unbändigen, blonden, kurzen Haare und die stechend hellblauen Augen. Sie lassen sich sogar einen Dreitagebart in gleicher Länge stehen. Auch ihre Statur ist ähnlich muskelbepackt. Nur die Lachfältchen und das Alter meines Dads unterscheiden ihn von seinem Nebenmann.
Mein Bruder lacht nicht – niemals.
Keine zwei Sekunden nach dem Programmablauf schnappt Dad zu und führt Mums Kaffeetasse gierig an seine Lippen heran, während ihm Mum dabei voll Unverständnis zusieht, was er aber nicht zu bemerken scheint. Zu sehr ersehnt er sich die aufputschende Wirkung herbei.
Heute scheine ich Glück zu haben, denn meine Mum greift resignierend nach Dads Kaffeetasse mit der Aufschrift: „Ja, ja, ihr wollt alle weiterschlafen. Und ich möchte mal wieder Sex, voluminöseres Haar und ein echtes Piratenschiff. Heule ich rum? Nein. Also“ und knickt ein: „Also gut. Dann also auf die Liste.“
Das ist wohl auch ihrer Müdigkeit zuzuschreiben, dass sie so schnell klein beigibt.
Meine Miene erhellt sich zusehends – stünde da nicht noch die hässliche, bisher ungesühnte Tat meines Bruders im Raum, die ich – zu gegebenen Zeitpunkt – wieder ins Spiel bringen werde.
Sie stapft zu ihrer Küchenlade, in der sie das blaue Büchlein aufbewahrt, zieht es heraus, knallt es ein bisschen zu gereizt auf den Tisch – zumindest für meinen Geschmack – tippt lautstark auf den Kugelschreiber und kritzelt die Worte mit schier roher Gewalt hinein.
Mich würde es nicht wundern, wenn sich nun die Buchstaben am Buchrücken abzeichnen würden.
Ich werde stutzig. „Hast du die richtige Reihenfolge beachtet?“
Ihr „Natürlich“ klang gepresst aggressiv und wenig glaubwürdig.
„Lass mal sehen“, verlange ich.
Sie schnappt sich das Büchlein, klappt es so fest zu, sodass sogar ein Zischlaut – hervorgerufen durch die komprimierte Luft – die morgendliche Stille durchdringt. Der Laut hat es immerhin geschafft, Dad von den Scheintoten zu erwecken, der irritiert blinzelt.
Mit flinken Fingern lässt sie es in der Schublade verschwinden, ehe ich sie erreichen kann. Zusätzlich verbarrikadiert sie mit ihrem Körper den Zugriff auf die Lade.
Ihr „Es ist vier Uhr morgens, Fräulein, falls du das schon vergessen hast“, glich eher einer Anschuldigung.
„Drei Uhr fünfundvierzig. Chronophobie, Angst vor der Zeit. Und ich vergesse nichts. Davor hab ich viel zu große Angst. Athazagoraphobie, weißt du nicht mehr?“, ergänze ich skeptisch. Das linke Auge meiner Mum zuckt kaum merklich. Ab jetzt kann es jederzeit so weit sein, dass sie in die Luft geht. Das ist bei ihr meist ein schmaler Grat.
Mein „Sag mir nochmal, welche Phobien dazugekommen sind“ gießt noch Öl ins Feuer. Aber ich kann nicht anders, immerhin bin ich leicht obsessiv veranlagt.
Gut, schwer obsessiv.
„Nacktheit, Haare und Zahlen“, antwortet sie durch zusammengebissene Zähne, was mich beruhigt. Na ja „Beruhigt“ ist der falsche Ausdruck. „Besänftigt“ triffts eher. Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht, dass sie mir zugehört hat oder wir noch nicht aneinandergeraten sind.
Das haben wir gleich.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was hattest du in Charlys Zimmer zu suchen?“, stichelt sie weiter.
Okay, hab mich schon gewundert, warum sie heute so handzahm ist.
„Das wüsstest du, hättest du meinen Hilferuf über die Sprechanlage empfangen“, stoße ich besserwisserisch aus.
„Du meinst das Babyfon“, deckt sie mich volle Breitseite auf. Okay, das ist mir zugegebenermaßen etwas peinlich. Während ich noch ihren Seitenhieb verarbeite, seufzt sie geschafft und wendet sich ab.
Ihre heutige Lustlosigkeit, mit mir auf Konfrontation zu gehen, ist wohl ihrer Mattheit zuzuschreiben, denn sie räumt freiwillig das Feld.
Hey, warte. Sag nicht, mein Bruder kommt damit durch.
Schon wieder!
„HEY!“, pfeife ich meine Eltern zurück, die dabei waren, sich mit ihren Tassen aus der Affäre zu ziehen. „Charly. Nackter Mensch in seinem Bett. Schon vergessen?“ locke ich sie auf die richtige Fährte.
Kurz flackert bei meiner Mum ein Funke Erinnerung auf. Sofort sucht sie Dads Blick. Ich reibe mir gedanklich die Hände und ersehne die Standpauke, die meinen Bruder gleich ereilen wird.
„Das ist eine Arbeitskollegin deines Vaters, die ihren Flug verpasst hat und kurzfristig eine Bleibe für die Nacht brauchte. Da dein Vater weiß, dass ich dem nie zugestimmt hätte, hat er sie wohl unbemerkt reingeschmuggelt und damit die Regeln missachtet.“ Das wird ja immer besser. Also hat Dad auch Mist gebaut.
Meinen Wink mit dem Zaunpfahl „Und wieso schläft sie dann in Charlys Zimmer und nicht auf der Couch?“ ignoriert sie. Die Erinnerungen blitzen wieder in meinem Kopf auf und lassen mich beinahe würgen.
Emetophobie: Angst, sich übergeben zu müssen.
Nur so viel: Meine OP-Plastikschlappen waren nicht mehr zu retten. Ich werde der Reinigung dieser Stelle in den nächsten Jahrzehnten besonderes Augenmerk widmen. Und in Zukunft einen großen Bogen um kleine, gefüllte Luftballons machen.
Ihr „Das wird nie wieder vorkommen“ war unmissverständlich an den Übeltäter, Dad, gerichtet.
Dieses Durch-einen-gezielten-Blick-in-die-Schranken-Weisen beherrscht nur Mum zur Perfektion. Dass der Blick mal zur Abwechslung nicht mir galt, ist ganz amüsant anzusehen.
Bedauerlicherweise hat es den Falschen erwischt.
Ihre Ablenkung war nur von kurzer Dauer, bis ich wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe: „Umso ärgerlicher, dass dein Vater das Gedächtnis dieser Frau manipulieren musste. Sie war völlig aufgelöst, stand unter Schock.“ Frag mich mal. „So etwas ist gefährlich für ihren Geisteszustand.“
Oh, das steckt die Prinzessin sicher locker weg.
Und was macht Mum? Das, was Mum immer macht, wenn Charly Scheiße gebaut hat. Sie kehrt alles unter den Teppich, stellt alles so dar, als wärs meine Schuld gewesen und geht sang- und klanglos zur Tagesordnung über.
Ich sehe meinen Bruder an, der keinerlei Regung zeigt.
Wie immer.
Er hat in seinem Leben noch kein einziges Wort gesprochen oder seine Gesichtszüge zu irgendetwas, das auch nur im Entferntesten mit Mimik oder einer anderen Art von Kommunikation zu tun hat, verzogen. Er hat noch nie gelacht oder böse gekuckt. Nicht mal genickt.
Da kommt nichts. Rein gar nichts.
Seine Macken werden aber anstandslos toleriert. Niemand regt sich darüber auf. Sie nehmen es einfach so hin. Bei mir machen sie ein Theater, aber die Psychose, die Charly hat, ist okay.
„Und da sagen die, ich bin das Problemkind“, rutscht es mir raus. „Kleine Bewusstseinsstörung oder was?“, setze ich nach.
Der Kopf meiner Mum schießt in meine Richtung. Oh, oh, Startschuss für unser Streit-Lieblingsthema Nummer zwei: Mein Bruder.
„Dein Bruder ist kein Autist. Wie oft soll ich dir das noch sagen?“, stellt sie aufbrausend fest.
„Er spricht nicht, Mum. Außerdem zeigt er keinerlei emotionale Regung. Ein eindeutiger Triggerpunkt, wenn du mich fragst.“
„Dich fragt aber niemand, Fräulein Neunmalklug“, platzt es aus ihr heraus.
„Wieso bist du da so sicher? Hat er sich je einem psychologischen Screening unterzogen?“, streue ich Salz in ihre Mutterwunde.
„Dann müssten wir dich ja auch testen lassen oder hältst du das für normal, dass du vor allem Angst hast und in allem Angriffe auf dich selbst witterst, was übrigens ein eindeutiges Zeichen für Schizophrenie ist.“
Autsch. Das hat gesessen. Agateophobia: Angst vor Geisteskrankheiten.
Hat sie mich eben einen abnormalen, schizophrenen Phobiker genannt? Ins Gesicht.
Na ja, wurde aber auch Zeit.
„Wo hast du das her? Aus der Vogue?“, gehe ich in die Offensive, um darüber hinwegzutäuschen, dass sie damit hinkommen könnte. „Ich kann mich ganz gut selbst diagnostizieren, Mum. Ich hab die Fachliteratur beinahe durch. In Sachen Angstforschung gibt es da den ‚schizoiden‘, den ‚depressiven‘, den ‚zwanghaften‘ und den ‚hysterischen‘ Persönlichkeitstypus – ist zumindest die einhellige Meinung der führenden Psychoanalytiker. Ich weise wohl alle Typen auf einmal auf, was äußerst selten ist. Hast du gewusst, dass in der Experimentalpsychologie …“ „Du hast ab sofort E-Book-Verbot“, unterbricht sie mich.
Das sagt sie immer, zieht es aber nie durch.
„Einen Forscher soll man nicht aufhalten“, trällere ich frech.
„Wie wärs, wenn der Forscher in dir mal zur Abwechslung seine Nase in die Schulbücher stecken würde, anstatt sich ausschließlich mit sich selbst zu beschäftigen“, wendet sie das Blatt und eröffnet unser drittes Lieblings-Streitthema: Schule.
Didaskaleinophobie: Angst vor der Schule. Die hat aber wohl jeder irgendwie.
„Der Stoff interessiert mich nicht.“ Außerdem macht er mir Angst.
„Das sehe ich an deinen Noten.“ Ja, die sprechen wohl für mich. „Ist das der Grund, warum du das Referat über das altertümliche Rom nicht vor den Ferien abgegeben hast?“
Jetzt liegt sie mir damit schon wieder in den Ohren. „Ich habs doch hochgeladen“, verteidige ich mich.
„Das sollte aber ein Video werden, in dem du es selbst vorträgst, kein Manuskript.“ Ich filme mich doch nicht selbst.
Womöglich raubt mir das die Seele.
Ich besuche die High-School von zuhause aus sozusagen im Fernstudium übers Internet. Den Stoff pauke ich aus E-Books oder aus dem Netz.
Bibliophobie: Angst vor Büchern.
Ich muss was tun, sie ist schon wieder viel zu sehr auf mich fixiert, obwohl doch mein Bruder gerade in ihrem Hauptaugenmerk stehen sollte.
„Wie weit bist du damit?“, ignoriert sie mich. „Erst dann wird dein Lehrer deine Gesamtnote in Geschichte von einem F auf ein D korrigieren. Und das auch nur, weil ich ihn weichgeklopft habe.“
Da hält sie mir bestimmt noch Jahre vor. Von wegen, ich hätte die Aufgabe falsch verstanden. Das war Absicht.
„Dieses Schulsystem ist sowieso dem Untergang geweiht“, prophezeie ich ihr.
„Dann ist es ja gut, dass du nach diesem Jahr abgehst und das Schulsystem wechselst“, würgt sie mir rein.
Das glaubt aber auch nur sie.
Ich muss schnell das Thema wechseln, bevor wir das mit dem Schulwechsel erneut durchkauen.
„Wie sahen denn Charlys Referate aus?“, frage ich scheinheilig. Irgendwie kontraproduktiv, wenn man nicht spricht – oder sonst kommuniziert.
Meine Mum sieht kurz ertappt aus, als wär sie sich darüber im Klaren, dass hier was total schiefläuft, nur um im nächsten Moment fortzufahren: „Das Video wäre zudem eine gute Gelegenheit, diese alberne Maskerade abzulegen. Zur Abwechslung wäre es ganz schön, meine Tochter auch mal zu Gesicht zu bekommen. Wann ich dich das letzte Mal unverschleiert gesehen habe, weiß ich gar nicht mehr.“
Das zeigt wieder, wie weit wir voneinander entfernt sind. Das ist keine alberne Maskerade, sondern ein Schutzanzug. Das wird sie nie verstehen, also mache ich mir gar nicht mehr die Mühe, es ihr zu erklären.
„Das geht nicht“, antworte ich knapp angebunden.
„Wieso nicht?“
„Weil es nicht geht.“
Das wär so, als würde ich schützende Mauern einreißen.
„War das der Grund, warum du im Zimmer deines Bruders gestöbert hast? Wolltest du nach seinen alten Schulsachen sehen?“, zieht sie sich gerade an den Haaren herbei.
Um was zu finden? Ein Video über das altertümliche Rom mit ihm als Protagonisten, das ich kopieren kann? Mein Bruder hat sich nicht plötzlich durch ein traumatisches Ereignis verändert – er war nie anders.
Übrigens noch ein Faktor, der für meine Autismus-Hypothese spricht.
„Was, wenn wir das bei dir tun würden?“, fordert sie mich heraus. Damit versucht sie die Kurve zu kratzen und davon abzulenken, dass ihr heißgeliebter Sohn doch der Abnormere von uns beiden sein könnte. Dem unangefochtenen Platz eins bin ich mir – zumindest aus ihrer Sicht – sicher.
Erschreckenderweise nehmen unsere Diskussionen immer denselben Lauf. Ich will ihr Augenmerk darauf lenken, dass ich hier nicht die einzige Durchgeknallte unter diesem Dach bin und sie bremst mich mit dieser „Wie würdest du dich fühlen“-Haltung aus, was ich wiederum mit der „Du hast ihn mehr lieb als mich“- Masche kontere, bis sie ihre Eltern-Karte zieht und mich mit Rot vom Platz fegt.
Es ist eine Sackgasse, in die wir uns immer reinmanövrieren.
Ich ziehe eine Schnute. Mein „Und ich dachte, du wärst zur Abwechslung mal stolz auf mich“ klang wenig überzeugend.
Meine Mutter bläst ihre Wangen auf und presst die Luft lautstark raus.
Blennophobie: Angst vor Schleim.
„Stolz?“, krächzt sie. „Worauf denn genau?“
Mein „Ich habe deinen Rat befolgt“, soll ihr ein schlechtes Gewissen machen.
„Aha“, kommentiert sie meine Worte skeptisch.
„Ich habe meine Angst überwunden und bin durch den Schilderwald in die übelriechende Hölle eingedrungen.“
„Ich verstehe nur Bahnhof.“
„Charlys Zimmer. Ich bin da rein. Im Schweiße meines Angesichts habe ich widrigsten Bedingungen getrotzt.“ Einige Sekunden warte ich auf ihre Lobeshymne, doch sie kommt nicht.
Die kommt nie.
Meine Mutter zieht besserwisserisch die Augenbrauen hoch. „Weißt du, worauf ich wirklich stolz wäre?“ Jetzt lenkt sie schon wieder vom Kernthema „Bruder“ ab.
„Worauf denn?“, entgegne ich herausgefordert.
„Wenn du mal einen Fuß vor die Tür setzen würdest.“ Und da ist es wieder. Sie braucht immer nur einen klitzekleinen Satz, um mir den Wind aber sowas von gewaltig aus den Segeln zu nehmen und damit unser Lieblings-Streitthema Nummer vier einzuleiten: Die Tür und alles, was sich dahinter befindet.
Ich weiß natürlich genau, von welcher Tür sie spricht. Die Eingangstür unseres Hauses. Die Eingangstüre ist böse. Sehr böse.
Gewissermaßen hab ich unser Haus noch nie zuvor verlassen. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
Der Gedanke erschreckt mich kurz. Jeder geht nach draußen. Jeder. Außer ich.
Ich bin anders.
Na ja, irgendwie muss ich ja hier reingekommen sein, also war ich definitiv schon draußen. Glaub ich.
Mum hat mir erzählt, ich hätte als Baby immer wie am Spieß geschrien, wenn sie nur in die Nähe der Tür gekommen ist, da hat sie es irgendwann mal aufgegeben und ist mit mir im Haus geblieben.
Der kurze Blick auf die Nachrichten im Fernsehen reicht meist aus, um mich in mein kleines, steriles Refugium zurückzuziehen, wo ich mich in Sicherheit wiegen kann.
Alles da draußen macht mir auf die eine oder andere Art und Weise Angst. Die Kriminalität, Kriege, andere Menschen, ungeregelter Straßenverkehr – einfach alles.
Die geistige Aufzählung reicht bereit aus, um mich wieder in einen aufwallenden, durch die Substanz des Inhalators, die sich noch in meinem Blutkreislauf befindet, abgeflauten Angstschub zurück zu katapultieren.
Wieso schafft sie es eigentlich immer, das Ruder so rumzureißen, sodass ich am Ende dastehe wie ein nacktes, lurchartiges Etwas, das am liebsten heulend das Weite suchen will?
Batrachophobie: Angst vor Amphibien.
Ich schlucke eingeschüchtert. „Das geht nicht.“
„Wieso nicht?“, stellt sie mich zur Rede und stemmt dabei die Hände in die Hüfte.
„Weil es das Draußen ist.“
Das Draußen ist böse.
Das wär wie Fensteraufmachen – nur krasser.
„Gut, wenn du nicht lernst, dann könntest du doch zur Abwechslung mal arbeiten“, schlägt sie doch tatsächlich vor.
„Arbeiten?“, krächze ich.
Okay, das ist neu.
„Ja, einen Ferienjob.“
Sie hat sie nicht mehr alle. Es ist ja eine Sache, wenn sie mich ignoriert, aber meine Ängste sind unignorierbar.
Mum stößt Dad den Ellbogen in die Seite. „Sagst du dazu auch mal etwas?“
Dad schreckt hoch, so als hätte er bis jetzt mit offenen Augen weitergeschlafen. „Klingt gut“, prustet er ertappt.
Er hat keine Ahnung, worüber wir reden, so viel steht fest. „Ich habe gerade vorgeschlagen, dass sich Mary einen Ferienjob suchen soll“, bringt ihn Mum auf den neuesten Stand.
„Die suchen bestimmt eine Reinigungskraft fürs städtische Aquarium mit Tauchschein fürs Haifischbecken. Das passt doch wie die Faust aufs Auge“, spottet Dad.
„Du könntest damit dein Taschengeld aufpeppen“, ignoriert Mum Dads Späße wiedermal.
„Was denn bitteschön aufpeppen? Ich hab noch nie einen Cent Taschengeld von euch gesehen“, wende ich ein.
Wozu auch? Es bot sich mir noch keine Gelegenheit, Geld auszugeben.
Mum und Dad sehen sich beinahe ertappt an. Daraufhin zückt Dad seine Brieftasche vom Küchentresen, angelt einen Geldschein heraus und streckt ihn mir mit den Worten: „Das holen wir gleich nach. Hier hast du einen Dollar“ entgegen.
Und wieder einmal muss ich mitansehen, wie die Entwicklungsarbeit, die ich in diesem Haus seit Jahren leiste, für die Katz war. „Dad, hast du gewusst, dass Geldscheine bis zu 3000 unterschiedliche Bakterientypen besiedeln können? Du steckst doch immer deine Brieftasche in deine Hosentasche. Damit erwärmst du sie auf Körpertemperatur, was sie als Petrischale fungieren lässt. Ein idealer Nährboden unter anderem für E.coli-Bakterien. Wenn du also die Ein-Dollar-Note anfasst, wärs so als würdest du mit der Hand eine Toilettenbrille abstreifen. Wenn du dir hinterher mit dem Fingernagel in den Zahnzwischenräumen rumstocherst, wie du es gerade eben getan hast, wärs so, als würdest du mit der Zunge einen Toilettensitz ablecken.“
„Erinnere mich daran, dein Ärztezeitschriftenabo zu kündigen“, droht Mum.
„Ich hab ein Ärztezeitschriftenabo?“, hinterfragt Dad.
„Das hab ich aus dem Wallstreet Journal“, kläre ich sie auf.
„Jetzt macht sie mir Angst“, verarscht mich Dad. „Mum hat recht. Du bist offensichtlich heillos unterbeschäftigt, wenn du schon zu so solch einer Lektüre greifst. Wieso hilfst du deiner Mutter nicht ein bisschen im Haushalt?“
Meinem hocherfreuten „Ja“ setzt Mum ein abwehrendes „Nein“ hinterher, das sie mit äußerster Vehemenz ausgestoßen hat.
„Dann könnten wir endlich meinen Hygieneplan umsetzen, der da drüben auf dem Regal verstaubt“, schlage ich vor.
„Vergiss es“, blockt sie ab. Die Umsetzung ist ihr wohl zu radikal. „Früher oder später musst du dieses Haus verlassen“, droht sie mir, um mich ganz schnell wieder von der Idee abzubringen und lenkt unsere Diskussion wieder gekonnt auf unser viertes Streit-Lieblingsthema um: Meinen Hintern durch die Tür aus diesem Haus zu befördern.
Wie macht sie das nur immer?
Mein „Dann entscheide ich mich für das Nie“ scheint ihr nicht zu gefallen. Dann passt es doch gut, wenn ich die Frage „Was arbeitet denn Charly?“ einwerfe.
Da! Da wars schon wieder. Dieser Blick, den sie an Dad richtet. Mein Bruder ist arbeitslos, aber bei ihm ist das okay.
Meine Mum seufzt schlapp und wendet sich ab. „Ich dachte, die betreuungsintensiven, schlaflosen Nächte mit dir hätten wir hinter uns, als wir die Möbel aus deinem Zimmer entsorgt haben. Aber scheinbar hab ich mich da geirrt.“
Hey, das waren viel zu viele potenzielle Verstecke für Monster – und Keime.
„Du gehst ja nicht ans Babyfon, wenn man nach dir ruft“, platzt mir der Kragen. Eigentlich ist sie an allem schuld.
„Babys haben Babyfone. Du bist fast sechzehn Jahre alt! Und auch zu alt, um auf deinen Bruder eifersüchtig zu sein.“
Quatsch, dafür ist man nie zu alt.
„Aber das war ein Notfall.“
„Deine ‚Notfälle‘ kennen wir ja bereits“, versucht sie alles zu beschwichtigen.
„Was, wenn mich eine Scelerophobie dahingerafft hätte.“
„Ich hab keine Ahnung, was das schon wieder ist, aber ich bin sicher, es ist harmlos“, speist sie mich ab.
„Es ist die Angst vor Einbrechern. Steht auf deiner Liste. Hab ich vor ein paar Jahren entdeckt, als einer an meine Fensterscheibe geklopft hat“, motze ich.
„Das war ein Ast, den der Sturm vom Baum gerissen hat.“ Dendrophobie: Angst vor Bäumen.
Ja, gut, wars halt ein Ast.
„Das war Charly. Ich hab genau gesehen, wie er am Vortag auf den Baum geklettert ist, nur um mich durchs Fenster zu erschrecken. Sicher hat er den Ast bei der Gelegenheit angesägt.“
Sie hat diesen „Ja, sicher. Jetzt sind wieder alle anderen schuld“-Blick drauf, den ich nur zu allzu gut kenne.
„Siehst du, hättet ihr das Loch – nach meinen Umbauplänen – zugemauert, wär das alles gar nicht passiert“, belehre ich sie und eröffne damit unser Lieblings-Streitthema Nummer fünf.
„Zum hundertsten Mal. Wir mauern dein Fenster nicht zu. Dein Zimmer ist in seinem jetzigen Zustand schon alles andere als ...“ „Normal“, ergänze ich ihre Worte. „Kindgerecht“, verbessert sie mich und verpasst mir einen erneuten Hieb mit der Anspielung.
„Das Fenster erfüllt keinen Zweck, außer dass es zu einer Kältebrücke und einem Schwachpunkt der gesamten Außenkonstruktion werden kann.“
„Das Fenster bleibt“, besteht sie felsenfest.
„Es ist viel zu groß.“
„Das war Absicht“, argumentiert sie.
„Wozu ein Fenster für jemanden, der den Anblick der Außenwelt kaum erträgt, frage ich mich?“
„Dafür sitzt du aber recht oft am Fensterbrett und starrst in die Ferne“, entlarvt sie mich.
„Woher weißt du das?“, schnaube ich aufgebracht. „Beobachtest du mich etwa?“ Da tritt mein Verfolgungswahn an die Oberfläche. Womöglich hat sie in meinem Zimmer Kameras installiert.
Mit ihrer Erklärung „Das war geraten“, hat sie mich voll in eine Falle tappen lassen. „Der Platz an einem Fenster hat auch für mich etwas Anziehendes an sich.“ Sucht sie jetzt nach unseren Gemeinsamkeiten oder was?
Ich fühle mich ertappt – so als hätte sie ein Geheimnis von mir verraten, dennoch lasse ich es mir nicht nehmen, ein „Noch ein Grund, es zuzumauern“ hinterherzuschicken.
„Meine Tochter vegetiert sicher nicht in einem Zimmer ohne Fenster dahin. Anstatt dich von der Außenwelt abzuschirmen, solltest du ein Teil davon sein.“
„Die Außenwelt und ich sind ganz gut ohne einander ausgekommen.“ Jeder bleibt auf seiner Seite.
„Dann hole ich die Außenwelt in dein Zimmer. Mir scheint, du brauchst wieder einmal eine Prise Realität.“ Ich weiß genau, was sie damit sagen will. Sie zwingt mich zum Fernsehen, damit ich nicht ganz vereinsame und am „Puls der Zeit bleibe“. Dazu verhext mein Dad ihn so, dass er den ganzen Tag über läuft. Das nehme ich zumindest an, da immer alle Versuche, ihn auszumachen scheitern.
Fernsehen geht gar nicht. Der Fernseher ist böse.
Für mich ist ein normales Nachmittagsprogramm ungefähr so, als würde man sich Horrorstreifen am laufenden Band reinziehen.
„Das könnt ihr nicht tun, das ist Folter. Dad!“, suche ich nach einem Verbündeten, der sich – was vergangene Verhandlungen zeigten – leichter weichklopfen lässt.
Mein Ruf weckt wohl seine Lebensgeister, denn er stößt sich wie elektrisiert vom Tresen ab und meint: „In diesem Haus bist du vollkommen sicher, Prinzessin.“ Wieso ruft das Wort „Prinzessin“ wohl in Zukunft Bilder des nackten Wahnsinns in mir hervor? Und toll, dass er uns gar nicht zugehört hat. Zumindest ist er beim Einbrecherthema ausgestiegen.
„Ich spüre es, wenn dir Gefahr droht. Dein Daddy kommt dann angeflogen und rettet dich.“ Jetzt spricht er mit mir, als wär ich doch ein Baby. Findet übrigens auch Mum, die genervt aussieht. „Hey, ich sage nicht, dass ich Superman bin. Ich sage nur, niemand hat Superman und mich jemals zusammen in einem Raum gesehen“, verteidigt er sich.
Na ja, er kann zaubern und hat diese Muskeln, also kann er vielleicht auch Dinge geschehen lassen, die ein Superheld machen kann.
Was weiß ich, ich hab ihn noch nie Zauber wirken gesehen, denn in diesem Haus herrscht striktes Zauberverbot. Noch eine Regel meiner Mum, über die ich aber eigentlich nicht meckern kann.
Zaubern geht gar nicht. Zaubern ist böse.
„Mum droht mir schon wieder mit dem Fernseher“, petze ich.
„Ich drohe nicht, das ist schon beschlossene Sache“, informiert sie mich.
„Tut mir leid, Prinzessin. Wir verhandeln nicht mit Terroristen“, macht er sich darüber lächerlich.
„Also werd ich bestraft und Charly nicht, obwohl er mit der Arbeitskollegin von Dad im Bett war“, fasse ich alle schmutzigen Details nochmal zusammen.
Mum sieht mich mit einem Ausdruck des Entsetzens an. „Die Dame hatte ganz offensichtlich Herrenbesuch, aber der muss sich schon vor längerer Zeit rausgeschlichen haben.“
„Vorher hat er noch den Kühlschrank geplündert“, entdeckt Dad gerade, der darin nach etwas Essbarem stöbert. „Hätte er nicht den Fernseher mitnehmen können, wie jeder andere Einbrecher auch?“
„Quatsch, ich hab sie doch erwischt“, pruste ich.
Meine Eltern sehen mich mit einem ungläubigen „Ja-sicher“-Blick an, da mache ich einen leichten Rückzieher: „Also jetzt nicht direkt, aber“ „Ab ins Bett. Alle miteinander“, unterbricht mich Mum herumwedelnd.
Das gibt’s doch nicht, jetzt stoße ich schon wieder auf taube Ohren. Das macht sie immer, wenn wir uns in einer unserer Diskussionen verfangen – ebenfalls eine Abwärtsspirale.
Sie geht einfach weg.
Mein „Ihr könnt doch jetzt nicht einfach so tun, als wär nichts gewesen. Nicht nach allem ... was war“, klang jämmerlich.
„Sollen wir uns das letzte Stück Lasagne von vor zwei Wochen teilen?“, trällert Dad – immer noch mit dem Kopf im Kühlschrank steckend. „Nein, warte. Das schaff ich allein.“
Im nächsten Moment taucht Dad lächelnd heraus. Er ist immer fröhlich und lässt seine Scherze ab. Eigentlich kann man ihn nicht ernst nehmen. Nie zuvor hab ich gesehen, dass er schlecht drauf war. Und er stresst mich nicht wegen meiner Ticks, also komm ich mit ihm weit besser klar, als mit meiner Mum.
Zumindest war das bisher so. Sein Gesichtsausdruck, als ich vor seinem gestisch angedrohten Wurf, mit dem er die Speisereste gerade in dem viel zu weit entfernten Mülleimer mit dem kleinen, darüber hängenden Basketballkorb versenken wollte, schreiend zurückweiche, zeigt mir, dass unser Verhältnis doch schwieriger ist, als ich mir eingestehen will. Für einen Bruchteil von Sekunden blitzten in seinen Zügen schon mal Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung auf.
Was soll ich sagen, ich bin ein Psycho. Frag Mum.
Kurz flammt in mir die Zuversicht auf, dass ich es mit dem betäubten Angstzentrum schaffe, den Anblick zu ertragen, wenn er gleich sein Ziel verfehlen und alles mit Schimmelpilzen besudeln könnte. Ich mache sogar eine auffordernde Geste mit der Hand, die er mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen kommentiert, aber zucke dennoch so stark zusammen, da hat er sich noch nicht mal bewegt.
Ahhhhhhhhh. Ich kanns nicht. Kann nicht darüber hinwegsehen, was Schlimmes passieren könnte. Und erneut verpasse ich ihm einen Vater-Tochter-Dämpfer.
Er nickt lächelnd, so als wolle er mir sagen, dass es okay ist, aber ich glaube ihm nicht. Gar nichts ist okay.
Meine Frustration darüber schlägt in Zicken über: „Jetzt kommt Charly schon wieder damit durch und wird es mir heimzahlen, weil ich sein Liebesnest ausgehoben habe. Dann werdet ihr wieder so tun, als hätt ich bloß Verfolgungswahn und mein Bruder bleibt unangetastet“, prophezeie ich ihnen. Wie er es überhaupt geschafft hat, die Frau in sein Bett zu kriegen, ohne sie überhaupt anzusprechen, ist mir auch schleierhaft.
„Was, wenn ich einen viel älteren Menschenarbeitskollegen von Dad im Bett gehabt hätte und wir ...“ Ich verziehe das Gesicht angewidert und würge ein bisschen, kann den Satz aber nicht vollenden. Das würde zu viel Überwindung kosten, meinen Brechreiz zurückzuhalten. „Ihr hättet mir bestimmt die Hölle heiß gemacht.“
In den Gesichtern meiner Eltern zeichnet sich Belustigung ab. „Ja, okay“, lenke ich ein, „Das wär unwahrscheinlich.“
Ich bin von jeglicher, körperlicher Fremdeinwirkung ungefähr so weit entfernt wie ein nackter Lurch von einem Besuch im Solarium. Dennoch plädiere ich hier für Gleichberechtigung unter Geschwistern und meine Mum blockt mimisch ab.
„Ich weiß nicht warum, aber scheinbar genießt mein Bruderherz hier drin so etwas wie Immunität“, spreche ich das Offensichtliche aus. Wobei wir wieder beim Lieblings-Streitthema Nummer zwei angekommen wären.
Mum sucht augenrollend den Blick von Dad, als wolle sie sagen: „Ich hab die Schnauze sowas von voll.“
„Wieso hackt ihr immer nur auf meinen“, zugegebenermaßen zwangsneurotischen, „Neurosen rum und widmet euch nicht mal zur Abwechslung seiner offensichtlichen Weigerung jegliche Form der zwischenmenschlichen Verständigung aufzunehmen?“
„Du bist unser primäres Ziel“, versucht mein Dad es mit krankem Humor zu nehmen, da meine Mum nichts weiter als einen vollkommen übertriebenen Laut der Belustigung für mich übrig hatte.
„Wolltet ihr eigentlich primär einen Jungen oder ein Mädchen?“
„Eigentlich wollte ich bloß Fernsehen, aber sie es mal so, du hast noch genug Zeit, dich auf dein Geschlecht festzulegen. Wir geben dir da nichts vor“, spottet Dad.
„War ich eigentlich geplant?“, stelle ich die Hammerfrage.
„Ja, aber nicht so“, spottet Dad.
Meine Mum atmet lautstark ein. „Wenn du nur endlich aufhören würdest, jede Mücke zu einem Elefanten zu machen, wäre unser Zusammenleben bedeutend einfacher.“ Aha, da ist es schon wieder – ihre Lieblings-Analogie, die sie für mich benutzt. Nur zu ihrer Information, ich hab Angst vor Dickhäutern – und 'ne Stechmückenphobie.
Mein „Wenn du nur aufhören würdest, jeden meiner Elefanten zu einer Mücke zu machen, würdest du mich zur Abwechslung mal verstehen“, war vorhersehbar.
Ihr „Du hast recht“, lässt mich erstaunt innehalten – zumindest bis sie ein vorwurfsvolles „Es ist alles unsere Schuld“ nachsetzt.
Im nächsten Moment erscheint so etwas wie Erleuchtung in ihren Zügen, die sie mit einem zutiefst neugierigen „Ist es etwa so weit? Ist Tante Rosa zu Besuch gekommen? Bist du deshalb so motzig?“ kundtut. Wieder eine ihrer „Analogien“, die ich aus tiefstem Herzen verabscheue. Und erneut schafft sie es, mir mit voller Wucht in die Magengrube zu boxen.
„Nein, Mum“, zische ich mit Blick auf die männliche Gesellschaft in diesem Raum – und leicht geröteten Wangen.
„Tante Rosa“ ist ihr Sinnbild für meine bis jetzt ausbleibende Menstruation.
Sie sieht enttäuscht aus – mit diesem Hauch „Das ist doch nicht normal.“
Keine Ahnung. Ich bin fast sechzehn und es tut sich nichts. Absolut gar nichts. Worüber ich unendlich froh bin.
Ich hasse Tante Rosa. Tante Rosa ist böse.
Natürlich weiß jeder in diesem Raum Bescheid. Ihr Versuch, es auf diese plumpe Art und Weise zu verschleiern, ist schon fast erbärmlich.
„Doktor Libberny freut sich schon so auf dich. Sie fragt immerzu nach dir.“ Ja bestimmt. Doktor Libberny ist leider keine imaginäre Verwandte – sie ist Mums Gynäkologin.
„Nur über meine Leiche“, stoße ich überlegen aus.
„Das haben wir gleich“, trällert Dad, der dazu übergegangen ist, in den Schränken nach Essbarem zu suchen.
Ärzte gehen schon mal aus Prinzip gar nicht. Ärzte sind böse. Außer Dad, er ist unausweichlich und gehört auch dieser Berufsgruppe an.
„Es wird der Tag kommen, an dem du wohl oder übel über deinen Schatten springen musst. Du wirst dieses Haus verlassen. Einen Arzt aufsuchen. Zur Schule gehen. Dich mit Freunden treffen. Einfach Leben. Und wenn ich dich geknebelt mit eigenen Händen da rauszerre. Ich schwöre dir …“
Mein Dad, der zwischen seinen Kommentaren recht schlaftrunken in Mums leere Tasse gestarrt hat, als würde er im Kaffeesatz lesen, legt seine Hand auf den Arm meiner Mutter, was sie abrupt innehalten lässt. Sein warmherziger Blick reicht aus, um sie zu besänftigen. Vielleicht setzt er aber auch Magie ein. Wer weiß das schon so genau?
Die Magie der Liebe womöglich. Ich kenne die Liebe nicht. Sie macht mir Angst, aber jeder liebt doch irgendjemanden oder irgendetwas.
Außer ich. Ich bin anders.
Außerdem kann mir das Leben gestohlen bleiben.
Ich ignoriere ihre Worte, nutze die Zeit, in der sie sich wortlos anstarren und dabei sicher liebäugeln, zur Vorbereitung auf das, was mir schon seit Wochen auf dem Herzen liegt, ich aber Angst hatte, es auszusprechen. Vielleicht ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen. Und nach heute Nacht fühl ich mich auch nicht mehr so unwohl dabei, es endlich loszuwerden.
Okay, jetzt oder nie.
Genau in dem Moment, in dem ich Mut fasse – gut „Mut“ ist das falsche Wort. „Mir einen Ruck geben“ triffts eher – wenden sich alle wie auf ein stilles Zeichen hin zum Gehen ab.
Mein „Wartet, ich“ hält sie nicht auf.
Sie haben wohl bereits genug von mir.
Entschlossen greife ich nach der Gabel, die hier noch vom Abendessen rumliegt, dem Wasserglas und hämmere dagegen, um sie aufzuhalten, was auch gelingt.
Die Beachtung meines Bruders ist mir nun auch sicher, als das Teil in tausend kleine Stücke zerbricht und mein zweites Lieblingsgefühl aktiviert: Scham. Angst und Scham gehen bei mir immer einher. Und da ist sie wieder, diese Hilflosigkeit und das Gefühl, sich nicht im Griff zu haben, das die Angst kurz zurückdrängt.
Aber nur kurz.
Sie kehrt immer wieder.
Alle Blicke im Raum sind nun auf mich gerichtet. Wie eine Bekloppte fixiere ich die heilen Reste des Wasserglases in meiner Hand, die mir mein Dad mit den Worten: „Ist nichts passiert. Die Splitter sind sauber“ beinahe in Zeitlupe aus der Hand nimmt.
Nelophobie: Angst vor Glas.
Das „Darum geht’s doch gar nicht“, habe ich jetzt einen Tick zu gereizt ausgestoßen.
„Oooooookkkkkaaaaayyy. Da ist wohl jemand mit der falschen Phobie aufgestanden“, zieht er die falschen Schlüsse.
Das war nicht witzig.
Ein paar Züge aus meiner leeren Asthma-Pfeife und ein Räuspern hätten den aufwallenden Schub sicher gedämpft. So kucke ich nur dumm aus der Wäsche und atme die Gänsehaut weg.
Es funktioniert und ich finde meine Stimme wieder: „Eigentlich ist das ein ganz guter Anfang für das, was ich euch schon die ganze Zeit über sagen will, ich aber … Angst … hatte, es laut auszusprechen.“ Wie jämmerlich ist das denn?
Okay, reiß dich zusammen, du bist alles dreitausendzweihundertmal in Gedanken durchgegangen.
„Was immer es ist, es kann bis zum Klingeln meines Weckers warten“, will mich Mum aufhalten.
Ich atme tief durch. „Ich habe entschieden, weiter als Mensch leben zu wollen. Das heißt, ich will mit sechzehn nicht als Hexe getauft werden.“
Das Runterklappen ihrer Kinnladen wird durch das melodiöse Fallen des Kaffeelöffels meiner Mum untermauert. „So, jetzt ist es raus und bevor ihr gleich durchdreht, hab ich ein kleines Video vorbereitet, um eine Art Argumentationskette aufzubauen.“ Ich schnappe mir Mums Notebook vom Küchentresen, zücke meinen mitgebrachten USB-Stick, stecke ihn rein und drücke die Starttaste. Kurz flackert die Cyberphobie in mir auf, die ich erfolgreich zurückdrängen kann.
Das sind praktische Dinge, ohne die man aufgeschmissen ist, also muss ich wohl oder übel damit leben.
So wie mit meiner Familie.
„Das bin ich bei meinen ersten Vorstoß in die Welt des Spitzentanzes, zu dem mich Mum genötigt hat. Da war ich vier oder so“, kommentiere ich die bewegten Bilder der raren Videoaufzeichnungen, die von mir existieren. Die konnten sie nur machen, bis ich kapiert habe, wozu der schwarze Kasten da ist.
Ein winziges Mädchen, dessen Gesicht unter einem Geschirrtuch mit zwei ausgeschnittenen Löchern für die Augen, verborgen liegt, steht im zartrosa Tutu da und täuscht mit einem Bein eine Pirouette an.
Scheinbar erfasst sie in dem Moment eine Melissophobie, also die Angst vor Bienen. Nur so kann ich mir meinen recht eigenartigen Tanzstil erklären. Es ist eher eine Art Mix aus spastischen Lähmungserscheinungen und Fruchtbarkeitstanz.
„Meine ersten Versuche auf einer Geige“, erkläre ich, als man mich sieht, wie ich das rosa Plastikinstrument schrotte, das ich kreischend fallen ließ, da ich mich vor dem Ton erschrocken habe, der da rauskam. „Übrigens haben in dem Moment sicher Weichmacher meine Hautbarriere durchschritten, was mein Brustkrebsrisiko um 25 % erhöht hat. Pro Brust. Danke dafür.
Und das bin ich mit sechs. Bei der Aufzeichnung für die Video-Geburtstagsüberraschung für Onkel Junus. Seht ihr das rosa Etwas, das hinter dem rechten Bein von Dad Schutz sucht. Das bin ich im Prinzessinnenkostüm. Dafür hasse ich euch heute noch. Gut, dass ich in dem Alter noch nicht die genaue chemische Zusammensetzung von Polyester kannte.
Die ganz Aufmerksamen unter uns erkennen, dass ich – verborgen unter der Schmetterling-Glitzermaske – nur den Mund bewege, aber nichts dabei rauskommt. Nennt sich Playback. Der Burgfräuleinhut mit dem Schleier ist übrigens menschenrechtsverletzend. Sorry, Mum, deine zehn vorangegangenen Musikproben sind nicht auf fruchtbaren Boden getroffen.“
„Zumindest weißt du jetzt, was ein knallharter Drill ist“, macht sich Dad über mich lustig und kassiert einen bösen Blick von Mum.
„Das ist mein erster Kontakt mit einem Planschbecken“, mache ich weiter, „das ihr im Sommer im Wohnzimmer für mich aufgebaut habt. Da war ich zehn.“ Zu sehen ist ein vollkommen verstörtes, hysterisches, dürres Ding mit Schwimmflügeln und Rettungsring, das wie am Spieß brüllt, während Dad ein Quietschtier badet, um ihm damit das Wasser schmackhaft zu machen. „Danke nochmal, Dad, für den Schock meines Lebens. Seitdem hab ich übrigens Angst vor Rentieren.“
„Und ich vorm Schnorcheln“, ergänzt er.
In der nächsten Szene erkennt man einen undefinierten Schatten hinter den Gardinen, wo sich ein kleiner Froschmann im Neoprenanzug – also ich – die Seele aus dem Leib schnorchelt.
Die Sequenz habe ich in einer Endlosschleife arrangiert. Da stellt es sogar mir die Gänsehaut auf und auch einige der hier Anwesenden haben das Gesicht verzogen und spielen mit dem Gedanken, sich die Ohren zuzuhalten.
„Seitdem besteht eine einstweilige Verfügung der Nachbarn gegen uns, uns alle Tierschutzorganisationen des Planeten auf den Hals zu hetzen, wenn wir nochmal die Katze quälen“, kommentiert Dad belustigt glucksend.
„Und zum Schluss, eine Compilation meiner zahllosen Obsessionen“, verkünde ich und starte Filmmaterial alltäglicher Situationen, die immer auf dieselbe Art und Weise enden: Ich kauere mit einer Panikattacke in der Ecke und atme in eine Papiertüte.
Es gibt doch nichts über ein gemütliches Homevideo-Frühstück. Mit dem Unterschied, dass wir eigentlich gar nicht frühstücken.
Mum lässt die längst erfolgreich verdrängten Erinnerungen mit ausdruckslosem Gesicht auf sich wirken, während Dad verträumt seufzt, als würde er gerade in den schönsten Erinnerungen schwelgen.
„Wenn man davon ausgeht, dass ich bald Zauberkräfte kriegen soll, möchte ich das Gesehene nochmal resümierend zusammenfassen: Ich bin das ängstlichste Wesen auf dem Planeten, ein Neurotiker sondergleichen und werde wahrscheinlich ein einziger, wandelnder Psycho-Harry-Potter mit Kräften, die andere verletzen könnten, falls ich mich erschrecke, was im Schnitt hundertzwanzigmal pro Tag vorkommt. Statistische Ausreißer am Valentinstag nicht mit eingerechnet.“ Was soll ich sagen, Herpes lauert überall. Das sollten sie im Aufklärungsunterricht mitreinpacken. „Sehen wir doch der Tatsache ins Auge. Ich hab mich im menschlichen Zustand schon nicht im Griff. Als Hexe wär ich eine einzige Lachnummer und ein Risiko für die Menschheit. Ich möchte mir das und vor allem allen anderen ersparen. Vielleicht sollte ich einfach versuchen, ein guter Mensch zu sein. Das wär schon Herausforderung genug.“
Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt gut dargestellt. Zumindest scheinen sie meine Worte gedanklich zu reflektieren.
„Mary“, meldet sich meine Mum zu Wort, „Ich hatte mindestens genauso viel Angst wie du vor meiner Hexentaufe. Sag es ihr, Fynn.“
Mein Dad räuspert sich. „Ja, mindestens.“ Das klang nicht sehr überzeugend.
„Warst du denn dabei, Dad?“, hake ich nach.
„Ähm, nicht direkt. Deine Mum hat mir davon erzählt.“
„Du hast auch keine Zauberkräfte, Mum“, argumentiere ich. Sie sprechen nie darüber. Es ist so eine Art Tabuthema. „Und du kommst ganz gut klar. Ich will das auch.“
Mum und Dad senden sich besorgte Blicke zu. Sie wirft also den Ball rüber zu Dad, der das Wort ergreift: „Prinzessin, wir haben doch schon ein paar Mal über unsere Vermutung gesprochen, deine Ängste könnten sich in Luft auflösen, wenn du erst deine Kräfte erhältst. Denk doch mal darüber nach, wie du dich dann vor … Bakterien, Sonnenlicht und Briefträgern abschirmen könntest.“ Natürlich hab ich schon daran gedacht – ich denke in letzter Zeit an kaum etwas anderes mehr, wo ich doch bald sechzehn werde.
Es ist verlockend, mir vorzustellen ich könnte mir eine unsichtbare Seifenblase hexen und mir meinen eigenen, kleinen, geschützten Lebensraum schaffen.
Was, wenn sie recht behalten und mich die Kräfte normal machen? Na ja, „normal“ ist vielleicht etwas weit hergeholt. „Eine Hexe mit einer normalen Angstschwelle“ triffts eher.
Selbst wenn nur ein Funke Hoffnung bestünde, dass ich durch die Kräfte meine Ängste in den Griff bekomme, sollte ich es doch versuchen.
Oder?
Ich will ja nicht mal eine Superhexe werden, nur mal aufs Klo zu gehen, ohne Angst zu haben, nach dem Klopapier zu greifen, weil da Pestizide drin sein könnten, wär schon gut.
Sofort werde ich von Ängsten zerfressen.
Mein „Und … und was, wenn das nicht klappt? Was, wenn alles nur noch schlimmer wird? Wenn mir nicht gefällt, was sie aus mir machen“, ist ein erbärmlicher Versuch, sie doch noch umzustimmen. Was soll ich sagen, ich habe Angst vor Veränderungen. Und eine Hexe zu werden ist eine Megaveränderung.
Das pack ich nie.
„Schlimmer wie jetzt – das ist wohl kaum mehr möglich“, macht Mum ihrem Ärger Luft.
„Schlimmer geht immer“, musste ja wiedermal von Dad kommen.
„Hab Vertrauen in dich selbst“, rät mir meine Mum. „Außerdem wirst du nie ein Mensch sein, auch wenn du keine aktiven Kräfte erhältst. Du bist eine Hexe. Es liegt dir im Blut“, ergänzt sie. „Das kann man sich nicht aussuchen.“
„Du konntest es. Wieso kann ich es nicht?“
„Ich bin immer noch eine Hexe, auch wenn ich keine Zauberkräfte habe. Außerdem, das mit mir ist etwas vollkommen anderes“, weicht sie meiner Frage aus.
„Wieso, weil du deine Zauberkräfte verloren hast?“, konfrontiere ich sie patzig.
„Deine Mutter hat ihre Zauberkräfte doch nicht verloren“, belehrt mich Dad eines Besseren. „Sie hat sie verschenkt.“
Mir steht der Mund sperrangelweit offen. Das wusste ich nicht. Ich hab es immer angenommen, ohne das je zu hinterfragen. Warum sollten sie sonst so ein Geheimnis daraus machen, das Dad wohl gerade platzen ließ?
Ich sehe zu Charly rüber. Natürlich wird man aus seinem maskenhaften Gesicht nicht schlau, ob die Information für ihn auch neu war.
Was hab ich mir eigentlich dabei gedacht, ihn anzusehen?
„Du hast sie verschenkt?“, hinterfrage ich verblüfft. „Wieso? Und an wen denn?“
Sie sieht angestrengt zu meinem Dad rüber und antwortet, ohne sich mir zuzuwenden: „Das war in einem anderen Leben.“
Ihr abschweifender, in die Ferne gerichteter, betrübter Blick verrät mir, dass sie wohl nicht mehr darüber verraten will. Immer wenn ihre Vergangenheit zur Sprache kommt, sieht sie so aus und suggeriert, dass sie nicht darüber sprechen will.
Mein Bluff „Gut, dann verschenke ich meine Kräfte eben auch gleich nach meiner Taufe“, soll sie aus der Reserve locken, damit ich ihnen das endlich ausreden kann.
„Nein“, kommt es synchron und gleichermaßen energisch aus den Mündern meiner Eltern. Ich glaube, mein Dad hat das Wort noch nie zuvor benutzt – zumindest nicht direkt in mein Gesicht.
„Wieso ist das bei Mum okay und ich darfs nicht?“, ist doch eine berechtigte Frage.
Meine Mum lässt sich zu einer Antwort herab: „Sie sind ein Teil von dir. Du solltest nicht leichtfertig damit umgehen.“
„Das wär alles gar nicht nötig, wenn ihr meinen Wunsch respektieren würdet.“
„Du hast einfach nur Angst davor, aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen“, war eine typische Mum-Antwort.
„Wenn du erst auf der Hexenschule bist, lernst du, deine Kräfte zu kontrollieren“, setzt sie nach, so als hätte unsere vorangegangene Debatte nie stattgefunden und läutet erneut unser drittes Lieblings-Streitthema ein.
Verdammt, sie zeigen sich in diesen Belangen wenig kompromissbereit, was mir zu denken geben sollte.
„Ich will nicht auf diese blöde Schule gehen“, weigere ich mich.
Ihr „Diese blöde Schule hat dein Onkel Junus zusammen mit seinem Ehemann Artis gegründet. Sie sind die Oberhäupter eines der größten Hexenzirkel überhaupt, falls du es vergessen hast. Dem Hexenzirkel, dem du dich anschließen wirst“, soll mich wohl beruhigen.
„Onkel Junus ist der Direktor?“, hake ich nach.
„Ja“, antwortet Dad.
„Ich dachte, Onkel Junus wär Chirurg, kein Direktor“, hake ich nach. Oder war das gelogen?
„Ist er auch“, antwortet Dad schulterzuckend.
„Noch ein Grund, diesem Ort fernzubleiben.“ Nur Streber kennen den Direktor. „Und er hat einen Ehemann“, soll ausschließen, ob ich mich nicht doch verhört habe.
„Ganz genau“, prustet Dad und richtet beide Zeigefinger augenzwinkernd auf mich. „Gut, in Sachen Musikalität und koordinierten Bewegungsabläufen kommst du wohl eher nach deinem Vater, Prinzessin“, versucht er die Wogen zu glätten. „Aber du hast viele andere Stärken.“
„Zum Beispiel“, fordere ich ihn heraus.
Er sieht ertappt aus, denkt kurz intensiv nach und präsentiert mir stolz seine Antwort: „Du kannst alle E-Nummern auf meiner Cornflakes-Packung übersetzen.“ Er hat recht. Ich kenne sie alle. „Zeig mir eine Fünfzehnjährige, die das kann. Dank dir weiß ich auch, dass Mäuse davon Tumore in ihren Schädeln bekommen, aber dafür kleben sie nicht zusammen. Wer will schon matschige Cornflakes, bevor man die Milch drüberkippt? Außerdem brauch ich in meinem Alter keine Vitamine mehr – bloß Konservierungsstoffe.“
„Alles, was du brauchst, ist ein bisschen Tanz- und Singunterricht und dann wirst du sehen, dass es dir dort gefällt. Du musst auch nicht unbedingt ein Instrument spielen“, schaltet sich Mum ein.
Ja, und dann wird alles gut.
„Ich interessier mich aber nicht für diesen Mädelskram. Meine Interessen sind etwas diffiziler“, raune ich.
„Oder beängstigender“, ergänzt Dad.
Ja, ich setze meine Energien lieber in die Angstforschung. Im stillen, sicheren Kämmerlein.
Wann geht das endlich in ihren Schädel rein?
„Wer weiß, vielleicht helfen dir ja die Kräfte, deine verborgenen Talente zu wecken“, ignoriert mich Mum schon wieder.
Verborgene Talente? Ich brauch einen anderen Körper, um so gut zu tanzen, wie meine Mum es kann. Sie hat sogar eine eigene Tanzschule aufgemacht.
„Wie habt ihr euch das überhaupt vorgestellt?“, stelle ich meine Eltern zur Rede. „Nur zu eurer Information, ich habe erst Ende Oktober Geburtstag. Genauer gesagt am 31. Der Tag, an dem ihr meine Kräfte wecken wollt.“ Zu Halloween, was ganz schön gruslig ist. Und total bizarr, dass der größte Angsthase an einem offiziellen Gruseltag geboren wird, an dem Leute reihenweise durch die Straßen ziehen, um anderen Angst einzujagen. „Das Semester beginnt aber doch schon Anfang September, also nächste Woche. Das heißt, ich bin noch ich selbst. Zumindest wenn eure Theorie stimmt und mich die Kräfte zur Tochter machen, die ihr nie hattet, was ich immer noch bezweifle. Soll ich etwa in meiner jetzigen Konstitution dahin? Ich war noch nie in einer richtigen Schule und das Zeug hilft nur kurze Phasen wie das Frühstück, Abendbrot oder Begegnungen mit euch zu überbrücken.“ Ich wedle mit meinem Inhalator vor ihren Nasen herum.
An ihren geschockten Gesichtern und Dads ungläubig, beinahe amüsiertem „Du hast Angst vor uns? Ich meine, vor Mum hab ich auch Angst, aber ich bin doch die Philanthropie in Person“ erkenne ich, dass ich mich grad gewaltig verplappert habe.
Mum steht der Mund offen. Das hat sie schwer getroffen.
„Wieso überrascht euch das so? Ich hab doch vor allem Angst, das wisst ihr nicht erst seit gestern“, erkläre ich schulterzuckend.
„Ich bin deine Mutter“, prustet sie gekränkt.
„Ich hab keine Angst vor dir.“ Na ja, ein bisschen vielleicht. „Nur, na ja, vor gewissen Verhaltensweisen, die du manchmal an den Tag legst. Davor, wie du mich manchmal ansiehst. So als hättest du eine dunkle Vorahnung mich betreffend.“
Das lasse ich mal so im Raum stehen und komme zurück zum Thema. Mein „Was ist jetzt mit der Schule? So könnt ihr mich da nicht hinschicken, also lassen wir das lieber“, soll ein bisschen auf die Tränendrüse drücken.
Meine Eltern tauschen Blicke aus. Mums „Du wirst erst nach deinem Geburtstag eingeschult“, ist echt der Hammer.
„Was?“, zische ich. „Das kann nicht euer Ernst sein.“
„Ich fürchte doch“, trällert Dad.
Sieht so aus, als wär er von meiner Mum überstimmt worden.
Angst steigt in mir hoch. Ich sehe das Püppchen, wie es nackt vor der Klasse steht und von allen als die „Neue“ beäugt wird, die den Direktor vom anderen Ufer ‚Onkel Junus‘ nennt und jede Menge Privilegien genießt.
Unter anderem auch später mit der Schule zu starten.
Das Püppchen versucht, die Hände vor die viel zu klein geratenen, unterentwickelten Brüste zu schlagen, was jedoch im letzten Moment vom Puppenspieler verhindert wird, der als Professor mit quietschender Kreide ein „Mary Walker“ an die Tafel ritzt.
„Die Gruppenbildung ist abgeschlossen. Du passt hier sowieso nicht rein. Das sieht man sofort. Du bist ein Freak. Du bist anders“, bläut er mir ein.
„Das könnt ihr mir nicht antun“, kam jetzt todernst über meine Lippen.
Das gibt meinen Eltern wohl zu denken, denn sie schweigen dazu – sehen sich nur ratlos an.
„Es ist die beste Lösung, ohne zu erklären, warum du … so bist“ „Wie du eben bist“, ergänzt mein Dad die Worte meiner Mum.
Ich bin anders. Niemand wagt es auszusprechen, aber jeder weiß es, der unter diesem Dach lebt.
„Und was wollt ihr sagen, warum ich später als alle anderen in die Schule komme?“, will ich wissen.
„Eine Grippe“, hat mein Dad seine Antwort schon parat.
„Eine Grippe, die über einen Monat dauert“, hinterfrage ich skeptisch.
„Ist halt ein schweres Kaliber“, stellt mein Dad fest. „Was gehst du auch im August bei dem Schneesturm raus zum Schaukeln.“ Das haben sie sich ja toll zurechtgelegt.
Okay, es hilft nichts. Meine Eltern lassen sich nicht von ihrem Kurs abbringen, also muss ich wohl oder übel meinen letzten Trumpf ausspielen: „Wieso muss Charly eigentlich nicht auf diese Schule gehen und ich schon?“
Mum geht gleich an die Decke, da versucht Dad zu retten, was noch zu retten ist: „Ich bin sicher, er geht auch hin, wenn du hingehst.“
Mums Kopf schießt zu Dad rüber. Eins ist klar, dieses brisante Detail hätte nie seinen Kopf über seinen Mund verlassen dürfen.
„Das heißt, er hat sich auch geweigert und war erfolgreich“, schließe ich daraus.
„Wir werden demnächst ein paar Veränderungen in deinem Leben vornehmen, ob du willst oder nicht.“
„Wenn du nichts mehr von uns hörst, warst du eine davon“, fügt Dad hinzu.
Und zack wird wieder alles vertuscht.
„Ohne mich!“, stelle ich klar. „Keine zehn Pferde kriegen mich dahin. Ihr könnt mich nicht dazu zwingen. Und mir schon gar keine Kräfte gegen meinen Willen verpassen.“
„Das werden wir ja sehen“, meint Mum verheißungsvoll. Sie nimmt mir das Angstgeständnis bestimmt immer noch übel, obwohl das doch auf der Hand lag.
„Es ist viel zu früh, um solche Dinge zu besprechen“, weicht Dad aus und wendet sich ab.
„Das tut ihr immer“, werfe ich meinen Eltern vor, „Wir diskutieren und wenn euch die Argumente ausgehen, kehrt ihr mir den Rücken.“
„Das ist nicht wahr“, verteidigt sich Mum.
„Natürlich ist das wahr. Dir ist es vollkommen egal, wie ich mich fühle.“
„Es ist mir nicht egal. Ich bin deine Mutter.“
„Wieso versetzt du dich dann nicht mal für eine Sekunde in mich hinein? Du hast keine Vorstellung davon, wie es ist, ich zu sein. Okay, da deine empathischen Fähigkeiten unterentwickelt sind, lass uns das gefühlt dreitausendste Beispiel aufstellen, damit du verstehst, was ich dir sagen will: Stell dir vor, jeder meiner Tage wär eine endlos andauernde Vorstellung im Zirkus und ich wär Teil des Drahtseilaktes. Ich muss mit einem Einrad übers Seil, was Teil der Nummer ist. Ich hab alles darüber gelesen, bin in der Theorie sattelfest, kann aber trotzdem nicht Einradfahren. Daher falle ich jeden Tag runter. Du, Mum, bist der Zirkusdirektor, der die Peitsche schwingt und mich nach deinen Vorstellungen zu dressieren versucht, was aber keinen Sinn hat, da ichs nicht kann, mir aber auch keiner zeigen kann, wies geht, weil ihr alle nicht Einradfahren könnt.“ Das war doch recht anschaulich.
„Kann ich in deiner Vorstellung der Magier sein?“, fragt Dad neugierig. „Oder der Schwertschlucker. Feuerspeier? Der Clown. Okay, ich bin der mit der Clownsnummer.“
„Was ich damit sagen will, Mum. Du hörst nicht auf mich. Jeden Tag siehst du, dass ich falle, aber es ist dir scheißegal. Du ziehst deine Show durch. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ich bin dir schlicht und ergreifend egal.“
Ich habe bei ihr sichtlich einen Nerv getroffen, denn sie wappnet sich zum Gegenschlag: „Nein, mir ist es nicht egal, dass sich meine Tochter im Zimmer ihres Bruders vor Angst in die Hose macht.“
Ich reiße die Augen entsetzt auf. Dass sie es wagt, das auszusprechen. Gut, jeder hat es gesehen, aber es war klar, dass wir das totschweigen.
Wenn es ganz schlimm ist, lässt mich die Angst die Kontrolle über gewisse Körperöffnungen verlieren. Das würde sie verstehen, hätte sie sich eingehend mit der Materie befasst, wie ich es getan habe.
Das erklärt übrigens auch den kleinen aber feinen Zeitverlust, der zwischen dem „Vorfall“ und dem Beginn unseres immer noch andauernden, mehr als zermürbenden Gespräches lag. Ich musste da was in Ordnung bringen.
Die Scham klopft unerbittlich an meine Tür und verschafft sich mit einem Rammbock Einlass in mein Innerstes. Mein Kopf läuft knallrot an, was sie glücklicherweise unter der Gasmaske nicht erkennen können. Und natürlich wandern meine Augen geradewegs zu meinem Bruder.
Ich frage mich, was er in diesem Moment denkt. Schämt er sich für seine Schwester? Bin ich ihm auch egal?
Sofort widme ich mich wieder meiner Zielperson: Mum. Sie hätte zumindest Verständnis heucheln können, aber stattdessen klagt sie mich bloß weiter an.
Ich presse die Lippen aufeinander, um ihr nicht das zu sagen, was mir auf der Zunge liegt, doch verliere die Kontrolle: „Weißt du, was ich zuallererst mache, wenn ihr mir meine Kräfte aufgezwungen habt? Ich lasse dich das fühlen, was ich fühle und dann sehen wir mal, wie du reagierst.“ Ich würde am liebsten die Worte sofort zurücknehmen, entsprangen sie doch einer Bösartigkeit, die mich selbst erschaudern lässt.
Mum hat die Augenbrauen herausgefordert hochgezogen. Bevor sie etwas erwidern kann, geht Dad dazwischen: „Das ging heute alles ein bisschen nach hinten los, findet ihr nicht auch?“
Seine Wortwahl als ungeschickt zu bezeichnen, wär eine Untertreibung. Habe ich doch die Kontrolle über beide unteren Körperöffnungen verloren, was noch nie vorgekommen ist.
Mums „Du hast recht“ lässt Dad um gefühlte zehn Zentimeter wachsen. „Lass uns das beenden.“
Sie tut es schon wieder. Lässt mich einfach mit meiner Angst allein zurück, als alles mit mir durchzustehen, wie es eine Mutter tun würde.
„Ich könnte euch auf Selbstbestimmung über meinen Körper verklagen. Wie in dem Film, der auf dieser wahren Begebenheit basiert“, drohe ich, bevor sie zur Tür raus sind.
„Du hast Fernsehverbot“, kommt es von Mum wie aus der Pistole geschossen.
Bin ich froh.
„Aber Charly“, ist mein letzter, jämmerlicher Versuch, sie dazu zu bewegen, meinen Bruder doch noch zu bestrafen, der durch das kollektive Aufbrechen in Richtung Schlafzimmer weiter ignoriert wird.
Knurrend bleibe ich zurück, verschränke die Arme vor der Brust und hänge unserer Diskussion nach. Sie würden doch ihre angedeuteten Drohungen nicht wahrmachen?
Oder?
Sie klangen wild entschlossen und jede Wette, dass sie bereits etwas aushecken.
Sofort schaffen es mehrere, ineinander verschachtelten Ängste an die Oberfläche.
„MARY, AB INS BETT!“, brüllt Mum.
Dad untermalt alles mit einem Zirkus-Peitschenschwinggeräusch und dazu passender Geste.
Zumindest einer hats verstanden.