Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 9
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ОглавлениеDie riesige Glasschiebetüre, die den Garten und alles, was sich dahinter befindet, vom Haus aussperren sollte, steht sperrangelweit offen.
Obwohl es offensichtlich ist, wird mir nur langsam klar, was ich gerade getan habe. Besser gesagt, wo ich da reingeraten bin: Ins Draußen.
Über mir prangt zwar noch das schützende – und zugleich auch potenziell todbringende – Glasdach, aber vor mir befindet sich das Nichts.
Nein, das Alles. Das Alles, was meine kühnsten Angstvorstellungen übersteigt.
Eigentlich sollte die Tür fest verschlossen sein. Hermetisch abgeriegelt. Jemand hat vergessen, das Draußen auszusperren.
Das Draußen geht gar nicht. Das Draußen ist böse.
Und ich bin geradewegs reingelaufen. Mein Blick wandert über meine Schulter zurück ins Hausinnere. Ich spiele mit dem Gedanken, die Tür zu schließen und mich schreiend in mein Refugium zu retten.
‚Was würde das nützen? Im Haus ist sowieso schon alles, was nicht hier herein gehört‘, kichert der Puppenspieler, der wie gebannt auf meine nächsten Schritte wartet.
Mir vorzustellen, jemand wäre schon hier eingedrungen, der gerade unser Hab und Gut durchforstet, lässt die Knie des Püppchens schlottern.
Ich drehe den Kopf wieder in Richtung des Draußens. Der Puppenspieler würde genau das erwarten. Würde erwarten, dass das Püppchen jeden Moment den Schwanz einzieht. Er weiß es, dass es so laufen wird und das Püppchen weiß es auch.
Das ist nur eine Frage der Zeit.
Aber etwas ist anders.
Etwas hat sich zwischenzeitlich verändert.
Mein Zimmer ist kein Rückzugsort mehr. Dieses Haus ist nicht mehr sicher. Beziehungsweise hat es jetzt den Status der Außenwelt.
Ich höre die Stimme meine Mutter in meinem Kopf: ‚Es wird der Tag kommen, an dem du wohl oder übel über deinen Schatten springen musst … Du wirst dieses Haus verlassen ....‘
Wer rechnet denn bitteschön damit, dass heute dieser Tag gekommen ist?
Ich fühle, dass der Zeitpunkt gekommen ist, meiner Mum zu beweisen, dass ich meine Angst in den Griff bekommen kann – sie überwinden kann.
‚Das glaubst du doch selbst nicht‘, stößt der Puppenspieler amüsiert aus, was meine neu erlangte Zuversicht sofort wieder ins Wanken geraten lässt.
Er hat schon wieder recht. Zu solchen Gedanken, die noch vor Kurzem an Absurdität grenzten, bin ich bestimmt nur fähig, da ich zwei ganze, in kurzen Abständen eingesaugten, Inhalatoren intus habe.
Eine Überdosis sozusagen.
Aber es wäre nicht dasselbe. Nicht so, als hätte ich es ohne Unterstützung geschafft. Es war eher Zufall.
Es gibt nur wenige Dinge, denen ich mir absolut sicher bin und dazu gehört die Tatsache, dass ich nie, aber auch wirklich nie, nie, nie, nie, nie im Leben diese Tür selbstständig geöffnet hätte.
Daher würde Mum auch nicht stolz auf mich sein, wenn sie davon erfahren würde. Oder wenn sie die späte Erkenntnis ereilen würde, sie wäre es selbst gewesen, die vergessen hat, sie zuzumachen.
Gleichzeitig pocht das Verlangen dumpf an die Tür des Hinterzimmers, in das ich es vor langer Zeit verbannt habe: Das Verlangen aus diesem Gefängnis auszubrechen.
Aber ich kanns nicht.
Kann meine Angst nicht überwinden.
Selbst jetzt, wo meine Sinne betäubt sind, bin ich nicht stark genug, einen Schritt in den Garten zu setzen. Kann aber – im Gegenzug – auch nicht wieder ins Innere des Hauses zurückkehren.
Ich kann weder vor noch zurück.
Hier stehenbleiben kann ich aber auch nicht.
Nun finde ich mich vor – allein, unschlüssig, was das geringere Übel ist. Mein Kopf schnellt vom Haus zum Garten und wieder zurück.
„Das Drinnen oder das Draußen? Das Drinnen oder das Draußen? Das Drinnen oder das Draußen? Das Drinnen oder das Draußen?“, neckt mich der Puppenspieler.
Niedergeschlagen komme ich zu der Erkenntnis, dass ich mich nie werde aus eigener Kraft von den Fesseln des Puppenspielers befreien können, der immer den Takt angeben wird.
Aber irgendetwas muss ich tun.
Für alle Zeit wie angewurzelt hier stehenbleiben und erfrieren kann ich auch nicht. Und als ob das hier nicht schwer genug zu ertragen wäre, ertönt nun im Hintergrund dieses Geräusch. Als hätte es auf mich gewartet, um sich zusätzlich über mich lustig zu machen.
Ich weiß genau, was es ist, denn das Geräusch ist mir wohlvertraut. Es ist da, wenn ich aufwache, ist mein steter Begleiter tagsüber und allgegenwärtig bis ich spät abends die Augen zumache. Selbst im Schlaf sucht es mich heim. In meinen Träumen pirscht es sich an und klopft an meine Tür, verfolgt mich immerwährend. Wie ein lauter Begleiter, ein Schatten, der selbst die Stille nicht scheut: Die Schaukel.
Seit ich denken kann, steht sie in unserem Garten. Unter meinem Fenster.
Unbenutzt.
Quietschend.
Der aufkommende Wind, der mir die Schneeflocken an den zitternden Leib weht, hat dieses vom Mondlicht beleuchtete Spielgerät angefacht, das in mir schreckliche Erinnerungen weckt und mich seit dem Tag meiner Geburt in den schier sicheren Wahnsinn treibt.
Ich weiß nicht, wie oft Pseudo-Dad schon versucht hat, sie zu ölen, damit sie nicht dieses abartige Geräusch von sich gibt.
Das Ding quietscht weiter.
Egal was er macht. Sogar seine Versuche, das Ding still zu zaubern blieben ohne Erfolg.
Nach zahllosen Jahreswechseln schwand meine Hoffnung, das Teil würde irgendwann mal von selbst in sich zusammenfallen.
Die verdammte Schaukel trotzt jeder Bewitterung. Allein schon, um es mir heimzuzahlen.
Ein zäher Brocken, dessen Bild sich mir aus meiner Fensterperspektive quer durch alle Jahreszeiten bietet.
Ich kenne sie tief winterlich verschneit, mit goldgelben Blättern des Herbstes bedeckt, von Frühlingspollen eingezuckert bis hin zur leichten Sommerbrise, die sie hin und her schwingen lässt.
Sie stammt noch von den Vorbesitzern dieses Hauses. Wohl ein Grund, warum Mum die Hütte wollte. Die Schaukel hat sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Immer noch kein Grund, ein gebrauchtes Haus zu erstehen. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um darüber hinwegzukommen.
Mein Vorschlag zur Lösung des Problems, die Schaukel mit einer Kettensäge dem Erdboden gleichzumachen, hat mir eine Woche nonstop Bollywood-Film-Dauerbeschallung eingehandelt, um – ich zitiere Mum wörtlich – „Mein Aggressionspotenzial einzudämmen“.
Seitdem weiß ich, dass Inder die emotionalsten Wesen auf diesem Planeten sein müssen und dass Mum tatsächlich an dem Teil hängt.
Das mit ihren Kindheitserinnerungen war zumindest immer ihr Hammerargument, mit dem sie jede meiner zahlreichen Anstrengungen ausgeschlagen haben, das nutzlose Teil zu entfernen.
Ich weiß noch, wie Mum die Schaukel immer als Instrument benutzt hat, um mich damit nach draußen zu locken.
Natürlich vergeblich.
„Mary, Mary, das ist so toll. Komm raus. Das macht Spaß“, höre ich sie heute noch rufen, als wärs gestern gewesen.
Es fehlte nur noch, sie hätte sich dazu herabgelassen, sich selbst draufzusetzen und loszuschaukeln, was glücklicherweise nie passiert ist. Ich, die sie immer vom Fenster aus beobachtet habe, hatte wohl das Vorrecht, die Erste zu sein, die das Spielgerät einweiht.
Dazu kam es nie.
Unzählige Male hat sie es versucht, mich damit für das Draußen zu gewinnen, bis sie es irgendwann aufgegeben hat.
Seitdem rostet sie vor sich hin.
Und quietscht.
Als würde sie beleidigt sein, weil ich nie mit ihr gespielt habe und mir damit ständig in die Ohren liegen, welchen Spaß wir nicht zusammen hätten haben können.
Nicht nur wegen Mums zahlreichen, enttäuschten Blicke, die mir nicht verborgen blieben, wenn sie erneut scheiterte, mich damit zu ködern, sondern vor allem auch wegen dem „Päckchen“ ist die Schaukel zu meinem ganz persönlichen Symbol für unsere total verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung geworden.
Ich hasse die Schaukel. Die Schaukel ist böse.
Das „Päckchen“ ist einer ihrer glorreichen Ideen entsprungen, mit der sie mich eines Tages ködern wollte. Dabei handelt es sich um ein Geschenk von Mum mit roter Schleife. Sie hatte wohl eine neue Strategie entwickelt und dazu das Päckchen plakativ auf dem Schaukelsitz platziert.
Was soll ich sagen? Es liegt heute noch da. Natürlich nicht mehr so taufrisch wie damals. Der Karton ist nach dem ersten Regen eingefallen und die Schleife hat ein Sturm fortgerissen.
Jede andere Mutter wäre eingeknickt und hätte mir das Geschenk – nachdem klar war, dass ich es mir nie holen werde – trotzdem gegeben.
Aber nicht Mum.
Nein, sie tauscht in regelmäßigen Abständen den Karton, verpackt es neu und hat es zusätzlich noch mit einem Seil fixiert. So stellt sie sicher, dass ich es ständig vor der Nase habe. Es muss bereits knappe zehn Jahre da draußen vor sich hingammeln.
Wie konsequent kann man eigentlich sein?
Ich hätte jede Wette abgeschlossen, jemand würde es bereits in der ersten Woche klauen, doch scheinbar will es keiner.
Es ist ihr ganz persönlicher Psychoterror, dem sie mich tagtäglich aussetzt.
Ich hasse Geschenke. Geschenke sind böse.
Manchmal – wenn mir meine Phantasie einen Streich spielt, wie sie es eben gerade tut – glaube ich zu hören, das monotone vor und zurück Quietschen klinge wie: ‚Komm-raus. Komm-raus. Komm-raus. Komm-raus.‘
Als würde die Schaukel mich – wie die längst verklungene Stimme meiner Mum – auch zu sich rauslocken wollen. Mit dem Geschenk auf dem Präsentierteller.
Ihrem Ruf bin ich aber nie gefolgt. Es ist total grotesk, aber ich frage mich immerzu, was in diesem scheiß Päckchen ist.
Ich bin definitiv versucht, diesem Quietschen selbst den Gar auszumachen und mein verdammtes Geschenk zu öffnen. Aber nur kurz, dann gewinnt die Angst wieder überhand.
Quietsch, Quietsch. Quietsch. Quietsch. Quietsch. Quietsch. Quietsch.
Okay, das reicht.
Keine einzige Sekunde ertrag ich dieses Geräusch mehr. Oder die Ungewissheit des Inhalts des Pakets.
Dir werd ichs zeigen, Mum.
Sofort geht meinem Vorhaben die Luft aus. Ich kanns nicht.
Kann mich nicht überwinden, da ertönt ein lautes Scheppern hinter mir.
Was war das? Ich raste aus.
Ich brülle, schließe die Augen und steige über die Schwelle nach draußen.
Der knarzige Untergrund des gefrorenen Grases lässt mich keuchen, doch ich beiße die Zähne schmerzhaft zusammen und setze stoisch einen Fuß vor den anderen.
Zwinge mich zum Weitergehen, obwohl es mir in dem Moment alles abverlangt.
Wie der hölzerne Soldat meiner Mum (Ich hasse den Holzsoldaten. Der Holzsoldat ist böse, aber das ist eine andere Geschichte), der beide durchgestreckten Arme gegengleich schwingt und dabei die Knie so hoch hebt, als würde er in der Armee marschieren, stapfe ich durch den zentimeterhohen Schnee, den der August-Schneesturm angerichtet hat.
Wieso geht denn diese verdammte Flutlichtanlage nicht an, die Dad installiert hat, weil Mum die fixe Idee hatte, bei Mondschein Kräuter zu pflanzen und die den angenehmen Nebeneffekt hätte, Verbrecher in die Flucht zu schlagen?
Ich wedle sogar mit den Armen, doch bis auf den Schein des Mondlichtes, der von der getönten Folie der Taucherbrille beinahe vollständig verschlungen wird, hüllt sich unser Garten in tiefste Dunkelheit.
Bestimmt existiert sie auch nicht. Zumindest hab ich sie noch nie angehen sehen und Mum noch nie im Mondschein im Garten arbeiten.
Würde ich Schutzbrille tragen, würden die sechseckigen Schneesterne gerade in meinen heißen Tränen versinken.
Ja, richtig gehört. Ich heule.
Ich habe Angst.
Sie muss panisch sein, denn sonst würde ich sie trotz der örtlichen Betäubung nicht so stark spüren. Es ist kaum zu ertragen, dennoch klammere ich mich an das Bild meiner Mum, das mich weiter antreibt.
Ich werds ihr zeigen.
Der resignierende Blick meiner Mum, als sie sich – nachdem mich mein Pseudo-Dad aufhalten wollte, in mein Zimmer zu gehen, um sie beim Lüften zu ertappen – eingesteht, dass es sinnlos ist, weitere Energien in die Angstbewältigung ihrer Tochter zu stecken und das überhebliche Grinsen des Puppenspielers tun ihr Quäntchen dazu.
Total aufgelöst erreiche ich die Schaukel, packe das, mit einer Masche nicht sehr fest verknotete, Seil, löse es, kralle mir das Päckchen, ziehe mir den Schaukelsitz mit schier roher Gewalt unter meinen Hintern und lasse mich darauf plumpsen.
Mein gesamter Körper bebt unter meinen schluchzenden Lauten, während ich mit einer Hand das Geschenk an meinen Bauch presse, mit der anderen die rostige Kette ergreife, mich mit den Füßen abstoße und mich in einem Akt der Selbstzerstörung ganz den Launen der Schwerkraft aussetze.
Dabei ist es mir auch egal, dass sich die eiskalte Eisenkette schmerzhaft in meinen Baumwollhandschuh gräbt. Die Topflappen hab ich bedauerlicherweise beim Marschieren eingebüßt.
Gut, egal ist es mir nicht. Sagen wir mal so, es ist nebensächlich. Geht man nach den anderen Grausamkeiten, dem ich meinem Körper gerade aussetze.
Wie eine Besessene schluchzend schwinge ich mich in die Höhe (schön wärs, ich wippe gerade mal leicht hin und her), stelle mir vor, wie meine Eltern an der Tür des Wintergartens stehen und meine Leistung stolz beklatschen.
Doch von der Überwindung meiner Angst kann keine Rede sein.
Ganz im Gegenteil, es ist der Puppenspieler, der mich anstößt und sich dabei halbtot lacht.
Die Angst kontrolliert jeden Knochen und Muskel in meinem Körper, lässt mich erneut stocksteif werden. Ich schmecke Blut, so fest muss ich mir auf die Unterlippe gebissen haben.
Der metallisch fade Geschmack in meinem Mund lässt mich würgen.
Wie lange die Schaukel das jämmerliche Püppchen, das nur aufhört zu flennen, um die Kotzebröckchen runterzuschlucken, die sich in ihre Taucherbrille zu ergießen drohen, quietschend hin und her gewippt hat, bis der Puppenspieler Gnade walten ließ, vermag ich nicht zu sagen. Wie lange es apathisch der viel zu schnellen Frequenz seines Herzens gelauscht hat, auch nicht.
Ich weiß nur eins: Ich bin dem allem nicht gewachsen. Fühle eine Taubheit, die meinen Körper einnimmt.
Und meine Seele.
Wie ein Absterben, das meinen Körper immer mehr in Besitz nimmt.
Mein Hinterkopf trifft auf den gefrorenen Erdboden auf. Scheinbar hat meine halb erfrorene Hand die Kette losgelassen und nur meinen Oberkörper zurückfallen lassen, da meine Oberschenkel mitsamt den Beinen noch halb am Schaukelsitz hängen.
Ich bin wie eine leblose Puppe, einem rasanten Stillstand ausgesetzt, unfähig, mich aus eigener Kraft zu befreien. Baumle einfach nur mit der Hälfte meines Körpers in dieser erneuten Fessel.
Vielleicht soll es einfach so sein. Womöglich bin ich dazu verdammt, mein gesamtes Leben lang eine Geisel meiner selbst zu sein.
Nein.
Ich bäume mich innerlich auf, zwinge die klammen Glieder, sich endlich in Bewegung zu setzen und das vom Schnee durchgeweichte Päckchen in meiner Hand mit schier roher Gewalt aufzureißen.
Hervor tritt jede Menge durchnässtes Füllmaterial in Form von weicher Watte. Nein, Baumwolle. Dazwischen befördere ich ein recht winziges Leinensäckchen zutage.
Was sich darin befindet, vermag ich nicht zu sagen, obwohl ich es schon geöffnet und herausgenommen habe. Es ist einfach viel zu dunkel, daher halte ich den Inhalt hoch. Genau in den kreisrunden Schimmer des Vollmondes.
Es entpuppt sich als kleines Glaskügelchen. Nicht größer wie eine gewöhnliche Glasmurmel, die noch einmal extra in einem winzigen, durchsichtigen Stoffsäckchen verpackt zu sein scheint. Aber sie ist nicht ganz rund. An einer Stelle wurde ein konisches Teil aus Plastik angeklebt. Nein, es ist aus Holz. Man kann die kleinen Jahresringe durchschimmern sehen.
Und oben besitzt sie eine kleine hölzerne Öse. Daran hängt eine Schnur. Nein, keine Schnur. Zahnseide.
Ich reiße die Augen auf.
Es ist eine Kette. Und sie ist wie für mich gemacht.
‚Es ist ja auch dein Geschenk‘, motzt der Puppenspieler.
Ja, aber das Geschenk ist von Mum. Die Mum, die ständig meine Überwindung in allen Belangen zu erzwingen versucht.
Mum weiß genau, dass ich keine Metalle an meine Haut heranlasse, also wäre es zu erwarten gewesen, sie hätte genau eines als Kette auserkoren.
Und was soll das Leinensäckchen? Die Füllschicht aus Baumwolle?
Jeder normale Mensch hätte einfach eine Plastiktüte und Styroporflocken genommen. So auch Mum.
Das sieht ihr gar nicht ähnlich.
In diesem kleinen Geschenk steckt so viel Liebe zum Detail. So viel Akzeptanz wie ich sie in all den Jahren unter diesem Dach nicht erfahren habe.
Und es war die ganze Zeit über hier draußen. Zum Greifen nahe.
Ich male mir aus, was es bedeutet hätte, hätte ich mir einen Ruck gegeben und wär früher hier raus. Das wäre vielleicht ein Anfang gewesen. Der Beginn eines aufeinander Zugehens in unserer vollkommen verfahrenen Mutter-Tochter-Beziehung.
Es lag an mir, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
Wie ich diese Redewendung hasse.
Vielleicht habe ich ihr die ganze Zeit über Unrecht getan? Das schlechte Gewissen steckt mir wie ein Kloß im Hals.
Ich gebe mir aber nicht die alleinige Schuld an dieser Misere. Immerhin hätte sie einen weiteren Schritt auf mich zugehen können, als klar war, dass das mit dem Geschenk nicht funktioniert hat.
Neugierig mustere ich die kleine Kugel genauer. Meinen kleinen Schatz, der nur für mich bestimmt ist, da erleuchtet etwas abartig Helles meine Augen. Selbst durch die getönten Gläser hindurch werde ich geblendet.
Es sind Blitze eines plötzlich einsetzenden Gewitters. Schlagartig kommt tosender Wind auf, der mir die Schneeflocken um die Ohren bläst.
Ein Schneesturm. Mit Gewitter. Im August. Und ich bin dem ohne Schutz ausgesetzt.
Das raubt mir fast den Verstand. Da ich schon wieder starr vor Angst bin, presse ich die Augen zusammen.
Das Bild der kleinen Glaskugel, die durch die Blitze Gestalt annahm, und die ich genauer erkennen konnte, bevor ich den Blick abgewendet habe, taucht dahinter auf.
Es ist gar keine Murmel.
Es ist eine Schneekugel.
Gefüllt mit einer transparenten Flüssigkeit und klitzekleinen, frei herumschwebenden Schneeflöckchen.
Und in ihrem Inneren stand, mitten im Schneesturm – und jetzt kommts – ein winzig kleines Püppchen.
Das Geschenk relativiert sich gerade von selbst.
Es könnte direkt aus der Hand des Puppenspielers stammen. Noch ein Indiz dafür, dass er und Mum gemeinsame Sache machen. Natürlich handelt es sich bei dem Püppchen um das Sinnbild meiner Wenigkeit.
Was wollte sie mir denn damit sagen? Dass ich in meiner eigenen, kleinen Schneekugel feststecke, die an Zahnseide hängt, aus der es kein Entrinnen gibt?
Wollte sie mir damit vor Augen halten, wie meine Zukunft aussehen könnte? Mein Leben als Gefangene im Glas. Einsam. Abgegrenzt.
Das ist ... grotesk. Entbehrt jeglichem Taktgefühl mir gegenüber.
Ich gebe zu: Wo Licht ist, ist auch Schatten, aber Mum versteift sich immer nur auf die negativen Auswirkungen meiner Isolation.
Das Leben in einer Schneekugel hat doch auch durchaus etwas Schönes an sich. Man fühlt sich darin behütet. Beschützt. Sicher.
Ganz zu schweigen von meiner derzeitigen Situation, an der sie auch eine Teilschuld trägt. Immerhin ist ihre blöde Tanzconvention Wurzel allen Übels.
Ich bin im Zwiespalt, ob ich mir nicht wünschen sollte, das Geschenk nie geöffnet zu haben, finde aber doch krankerweise Gefallen daran.
Ja, mir gefällt das Leben in einer Schneekugel – ich stehe dazu. Deshalb hänge ich mir den Anhänger auch – nach reichlicher Überlegung – demonstrativ um den Hals. Natürlich nur tagsüber – in der Nacht herrscht Strangulationsgefahr.
Einem Reigen an Blitzen folgt ein grollender Donner, der den Boden unter mir vibrieren lässt, bevor es in ein leichtes Beben übergeht.
Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich einen kleinen Hügel, der sich einen Arm weit von mir entfernt aus dem Erdreich erhebt. Immer höher wächst er über sich hinaus, bis ein grob gemeißelter Stein erscheint, als der Wind den aufgeschütteten Schnee, den er bis jetzt wie eine schützende Haube getragen hat, mit sich fortträgt.
Wie ich es geschafft habe, meinen Kopf zur anderen Seite zu drehen, weiß ich nicht mehr, doch was ich mit Sicherheit sagen kann ist, dass dort gerade – ebenfalls einen Arm weit von meinem Körper entfernt – ein identischer Stein aus dem Boden gewachsen ist.
Einerseits von Neugierde, anderseits von unbändiger Angst getrieben hebe ich das Kinn hoch an meine Brust und erkenne einen ganzen Kreis von diesen Steinen, der mich zu umschließen scheint.
Bevor ich mich fragen kann, ob mir meine Phantasie hier nicht erneut einen gewaltigen Streich spielt, der von meiner Angstattacke geschürt wird, beginnen die Steine von innen heraus zu leuchten, als wären sie glühende Kohlen.
Im Himmel über mir formieren sich die Blitze im nächsten Augenblick – sie bündeln sich. Knisternde Elektrizität liegt in der Luft, die ich sogar auf meiner Haut spüren kann, bevor die Blitze wie langgezogene Funken herabschnellen, nur um genau ins Zentrum des Kreises einzuschlagen, in dem ich mich befinde.
Mir entweicht ein inbrünstiger Schrei.
Es fühlt sich so an, als wäre ich im Epizentrum des Wintersturms gefangen, wo das Püppchen im Stroboskop-Licht, dem ähnlich wie sie es in den Discos benutzen, abgehackt tanzt. Ein von Urgewalten geprägter Tanz, vor dessen unbändiger Kraft ich mich mit meinen Händen, die ich schützend über meinen Kopf halte, abzuschirmen versuche.
Vergeblich.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte.
Hitze. Ja, definitiv.
Blitze müssten heiß sein. Ich sollte verbrennen. Das weiß ich auch, obwohl ich in Physik eine Niete bin.
Stattdessen fühle ich eisige Kälte meine Glieder emporkriechen, als wär ich im Zentrum eines Blizzards eingeschlossen.
Es sind Eisblitze, die herabschnellen und unbarmherzig rund um mich herum einschlagen – mich wie in einen Käfig einschließen.
Einen Käfig aus Eiszapfen.
Und dann – urplötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt – wird alles still und macht einer gespenstischen Finsternis Platz, in der ich mich wiederfinde.
********
Meine panischen Darth-Vader-Atemzüge durchbrechen die Dunkelheit, in der ich nicht mal die Hand vor Augen erkennen kann.
Zumindest bis sich meine Augen daran gewöhnt haben, denn im nächsten Moment lässt sich ein kleines, nicht zur Gänze verdunkeltes Fensters, das alles in ein schleierhaftes Schattenspiel taucht, erkennen.
Ich bin in einem dunklen, unbekannten Raum.
Das reicht schon aus, um mich beinahe ausflippen zu lassen. So schnell ich kann, stemme ich mich hoch und drücke mich an das vermeintliche Fenster, das viel zu klein ist, um hindurchzupassen.
Ich kralle meine Nägel so fest in meine Kopfhaut, dass ich den Fokus von meiner Angst auf mein Gehör setzen kann.
Mein Mund formiert sich bereits zu einem erneuten Angstschrei, da vernehme ich das abartig laute wiehern von Pferden, gefolgt von einer Erschütterung des Raumes, die mich von den Füßen reißt.
Mein Kopf stößt gegen einen gepolsterten Stoff, bevor ich so richtig schön durchgeschüttelt werde.
Warte mal. Pferde. Sitzpolster. Kleines Fenster. Mein Gehirn zeigt mir ein Bild meines Geschichts-E-Books. Sag mal, bin ich in einer Kutsche?
Wie komm ich denn hierher?
‚Die Frage lautet, wie du hier rauskommst‘, ermahnt mich der Puppenspieler.
Erneut fahre ich hoch, kämpfe mich zum Fenster rüber und hoffe, dass sich dort – wie auf dem Bild in meinem Schulbuch – ganz in der Nähe ein Türgriff befindet.
Meine Hand ertastet einen metallischen, kalten Hebel, der sich runterdrücken lässt. Sie ist verschlossen!
‚Sei froh! Oder wolltest du aus einer fahrenden Kutsche springen?‘, wendet der Puppenspieler ein.
Auch wieder wahr.
Keine Ahnung, ich weiß nur, dass ich hier raus will, obwohl ich mich vor dem Draußen auch fürchte. Von einer inneren Panik getrieben, versuche ich gleichzeitig zu verdrängen, wo diese unfreiwillige Reise hingehen könnte, und mache mich mit roher, von Horror entfachter Gewalt am Türgriff zu schaffen.
Das hat nichts mehr mit Kalkül zu tun, ich reagiere nur noch aus reiner Panik heraus.
Mit gequälten Lauten stemme ich mich gegen die Tür, die sich keinen Millimeter rührt. Immer ungehaltener knalle ich mit der Schulter dagegen, bevor ich ein paar Schritte zurück mache und dagegen sprinte. Als ich mit voller Wucht dagegen knalle, schwingt die Tür überraschenderweise – obwohl ich ja eigentlich damit rechnen musste – auf und lässt Tageslicht herein fluten, das meine lichtentwöhnten Augen peinigt.
Ich versuche noch, mich irgendwo festzukrallen, doch vermag mein Hinausstürzen nicht zu verhindern, kippe vornüber und befinde mich im freien Fall aus der fahrenden Kutsche.
Mein Herz bleibt stehen, bevor ich mit dem Kopf voran ins hohe Gras der Kante einer Böschung eintauche.
Sofort ziehe ich das Kinn an meine Brust heran. Nur diesem reflexartigen Verhalten ist es zu verdanken, dass ich mich abrollen konnte und somit mit dem Rücken auf die Erde auftreffe. Dabei wird mir so fest jegliche Luft aus der Lunge gepresst, sodass mir schlagartig Hören und Sehen vergeht.
Dort komme ich nur kurz zu liegen, bevor ich den steilen Abhang herunterkugle. Immer schneller dreht sich die Erde um mich herum. Ich spüre Äste, die über meinen Körper peitschen, aufgewirbeltes Laub, Erde, Farne, Gestrüpp, Geröll, was sich in meine Haut gräbt, und durch das ich immer schneller zu werden scheine.
An Schmerz ist noch gar nicht zu denken. Dafür stehe ich wahrscheinlich noch unter Schock.
Aber er wird kommen, da bin ich mir sicher.
Diese Tortur scheint kein Ende zu nehmen. Immer wenn ich glaube, endlich irgendwo zu liegen zu kommen, stürze ich tiefer hinab, betäubt von meiner Angst, die mich lähmt.
Ich wünschte mir, ohnmächtig zu werden, sodass ich nicht mitbekomme, wenn ich mir gleich das Genick breche, doch ich schaffe es nicht.
Schaffe es nicht mal, die Augen zu schließen. Spüre nur, wie mir Teile meines Ganzkörperanzuges vom Leib gerissen werden.
Plötzlich bremst etwas meinen Rutsch, das sich wie eiskalter Matsch anfühlt. Nicht, dass ich so etwas jemals auf meiner Haut gefühlt hätte, doch genauso stelle ich es mir vor. Einen Wimpernschlag später hebt es mir jäh den Magen aus.
Erneut falle ich in die Tiefe bis ich auf eine Oberfläche auftreffe, die sich wie Beton anfühlt und mich einen Atemzug später in eiskaltes Nass einhüllt.
Tosende Wassermassen sprudeln um mich herum, ziehen mich mit sich in die Tiefe und nehmen mich mit auf ihre Reise, als wäre ich direkt auf einen fahrenden Zug aufgesprungen.
Der Strom macht mit meinem Körper, was er will, lässt mich in Richtung Wasseroberfläche treiben, nur um mich kurz vorm Ziel wieder runterzuziehen. Immer wieder wirbeln tausende Luftbläschen um mich herum.
Sofort fühle ich mich in die Schneekugel hineinversetzt. Ich werde darin ertrinken.
Luft – ich brauche sie – und zwar schnell.
Aus reinem Überlebensinstinkt rudere ich mit den Armen, doch ich vermag nichts gegen die Wucht des Wassers auszurichten, die meinen Körper immer wieder zu Bewegungen zwingt, die ich nicht kontrollieren kann. Ich werde von den Fluten mitgerissen, als wär ich ihr blinder Passagier.
Der Gedanke daran, dass ich gar nicht gut schwimmen kann – was man zumindest von ein paar Mal Trockentraining und kurzen, panischen Planschbeckenaufenthalten aufschnappen kann – raubt mir zusätzlich den Atem, der schon lange aufgebraucht ist. Da zerrt eine Tiefenströmung an meiner Taucherbrille und erinnert mich daran, dass sie genau für dieses Medium konzipiert wurde, obwohl ich sie jahrelang zweckentfremdet hatte.
Wie eine Irre halte ich sie an meinen Kopf, damit sie nicht von der Strömung fortgerissen wird und sauge die gesamte Luft auf einmal aus dem Schnorchel.
Aber das war nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die ersten Anzeichen, die einen nahenden Erstickungstod einläuten, versetzen mich in absolute Hysterie, bis ich an meinen Füßen das Geröll des Flussbettes spüre.
Mein nächster Atemzug ist schon längst überfällig, dennoch schaffe ich es, mich mit letzter Kraft mit meinen Beinen abzustoßen, an die Wasseroberfläche zu gleiten, sie zu durchstoßen, mir das Mundstück des vollständig mit Wasser gefüllten Schnorchels runterzureißen und meine Lungen keuchend mit dem rettenden Sauerstoff zu füllen, bevor ich erneut viel zu schnell untergehe.
Abermals werde ich hinfort gespült, unfähig, der unfreiwilligen Reise aus eigener Kraft ein Ende zu setzen. Dafür sind meine Ärmchen viel zu schwach. Ehrlich gesagt habe ich Bewegungen jeglicher Art grundsätzlich vermieden.
Das hab ich jetzt davon.
Ungeachtet dessen, dass das Flussbett gar nicht tief zu sein scheint, ist das hier trotzdem ein Kampf ums nackte Überleben. Dennoch schaffe ich es immer wieder, mich abzustoßen, um hustend nach etwas Atemluft zu ringen.
Die Verschnaufpausen hätte mein Schnorchel überbrücken können, hätte ihn mir die Kraft der Wassermassen nicht gerade mitsamt Taucherbrille entrissen. Nur einem Moment der Unachtsamkeit ist es zuzuschreiben, dass es so weit kommen konnte.
Meine Hand schnellt zwar vor, ist aber zu langsam, um die Brille noch zu erhaschen. Sie wird hinfortgespült. Mit ihr, das Püppchen, das nun in einer Rolle gedreht wird, sodass die Kapuze ihres Anzuges an den Unterwasserwurzeln hängenbleibt.
Im Nu umspült mich das Schwarz meiner Haare, die nun unbändig der Strömung ausgesetzt sind. Sie erinnern mich an die Algen um mich herum, die um meinen Körper herum streicheln, was mich noch mehr in Panik versetzt.
Meine Kräfte schwinden mit jedem weiteren Versuch, Luft zu erhaschen. Noch dazu muss ich immer wieder krampfhaft husten, wenn ich Wasser, das über meinen Kopf schwappt, irrtümlich einatme oder schlucke.
Ich kann nicht mehr.
Meine Lungen brennen wie Feuer, während meine Glieder schön langsam von der Eiseskälte taub werden.
Verzweifelt sehe ich das, in der Schneekugel eingeschlossene, Püppchen vor mir. Wie es vergeblich versucht, mit der Faust an das Glas zu hämmern, um sich daraus zu befreien.
Nur dass in meiner Vorstellung das Püppchen an die, mit Schneesternen bewachsene, gefrorene Fensterscheibe meines, von Wasser gefluteten, Zimmers pocht. Den grinsenden Puppenspieler vor sich, der auf der Schaukel sitzt und dabei zusieht, wie mir mein eigenes, kleines Hochsicherheitsgefängnis zum Verhängnis wird.
Wie es zu meinem Grab wird.
Im nächsten Augenblick nimmt die Geschwindigkeit des Wassers an Fahrt auf. Es fühlt sich so an, als ginge es bergab, bevor ich in eine Art Weiher stürze, in dem die Fluten plötzlich gefühlt zum Stillstand kommen.
Herabfließende Wassermassen drücken mich tief in das Flussbett. Ein kleiner Fischschwarm fährt auseinander und bringt sich vor mir in Sicherheit. Ich erschrecke mich, da mich einer von ihnen am nackten Arm streift. Mein Angstschrei schafft es nur in Form von Luftblasen an die Oberfläche.
Schwarze Punkte flackern bereits in meinen Augen, als mich eine tiefliegende Flussbettströmung erfasst und mich weiter schwemmt.
Meine Hand tastet suchend umher, stößt auf eine Wurzel, an der ich mich hochziehe. Ich schaffe es gerade mal meinen Kopf bis zu meinen Nasenlöchern an die Wasseroberfläche hochzuziehen, bevor die Kraft des Wassers die Umklammerung meiner Finger löst, nur um mich weiter mit sich zu tragen.
Wie lange dieser Überlebenskampf dauert, vermag ich nicht zu sagen. Aber eins weiß ich genau: Die Reise scheint ein jähes Ende zu finden, als mein Körper an etwas hängenbleibt.
An einem Netz, um genau zu sein.
Ich zapple wie wild geworden, versuche, mich daraus zu befreien, doch verheddere mich nur noch mehr in den feinen Stricken, die sich wie Fesseln um meinen Körper schlagen, als wären es Tentakel eines Tintenfisches, der nicht vorhat, mich je wieder loszulassen.
Je mehr ich mich bewege, desto fester schließen sie sich um mich wie ein Kokon. Ich weiß, dass ich in einer Todesfalle sitze. Warum ich mich immer noch dagegen zur Wehr setze, obwohl ich chancenlos bin, muss einem Überlebensmechanismus zuzuschreiben sein, der automatisch abläuft, denn zu einem klaren Gedanken bin ich nicht mehr fähig.
Plötzlich taucht etwas über mir ins Wasser ein. Ich kann feine Linien erkennen, die das Nass kurzzeitig teilen, bevor sie kribbelnd auf meine Haut treffen. Immer mehr von ihnen durchbohren die Wasseroberfläche wie kleine Pfeilgeschosse.
Und dann flackern auch schon wieder die schwarzen Punkte in meinen Augen auf. Da ist nur ein Gedanke, der immerwährend durch meinen Kopf schießt: Die Angst begleitet mich bis zum Schluss. Nicht mal jetzt ist sie gnädig und lässt mich gehen. Gewährt mir ein bisschen Frieden.
Nein, sie wird mein letzter Gedanke sein.
Und dann passiert es. Der Atemreflex setzt Unterwasser ein und füllt meine Lunge komplett mit dem falschen Element, was mich die Augen im Schock aufreißen lässt.
Zuerst hören meine Arme und Beine auf, sich zu bewegen bis sie von meinen Augenlidern, die bereits schwer werden, abgelöst werden, die sich wie in Zeitlupe schließen.
Ich erwarte, dass das Leben wie ein Filmstreifen an mir vorbeizieht, doch da ist nur das Bild von den wachsenden Eiskristallen an meiner Fensterscheibe.
Ich sehe die feinen Verästelungen des Eises, wie sie sich auf die gesamte Fläche ausbreiten und zu Eisblumen werden. Mein Zeigefinger berührt sanft die Scheibe – macht das, wozu ich selbst in meiner Vorstellung nicht fähig gewesen wäre. Einen Wimpernschlag später wachsen Eisblumen auch auf meiner Haut. Zuerst nur an meinem Finger. Wenig später besiedeln sie meinen Arm und so weiter und so fort.
Ich werde eins mit dem Fenster. Werde ein Teil meiner Schneekugel, die feine Haarrisse bekommt, die sich fortsetzen.
Und dann passiert es: Das Glas zerberstet – spült das Püppchen aus seinem Gefängnis.
Eine unbändige Kraft zerrt im nächsten Moment an mir. Und als ich glaube, meine Phantasie würde mir einen Streich spielen, packt mich etwas fest an meinen Schultern und zieht mich ruckartig an die Wasseroberfläche.
Schwallartig speie ich meine Lungen leer, bevor ich krampfhaft zu atmen beginne. Es ist wie ein Befreiungsschlag, die leer gequetschten Lungen wieder Stück für Stück durch keuchende Atemzüge mit dem richtigen Element zu befüllen.
Die Kraft eines fremden Körpers, der die Hände fest an meine Schultern presst, hält mich aufrecht. Ihm allein ist es zu verdanken, dass ich überhaupt imstande bin, mich über Wasser zu halten.
Als die dunklen Schatten aus meinem Blickfeld weichen und ich die Feuchtigkeit wie verirrte Tränen von meinen Augen blinzle, blicke ich in die wachen Augen eines Mädchens.