Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 7

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Ich dachte immer, ein offen ausgetragener Streit unter Eltern wär schlimm – nicht, dass Mum und Pseudo-Dad je vor uns gestritten hätten – aber spätestens jetzt weiß ich es besser.

Schweigen ist viel schlimmer.

Zumindest tut Mum das gesamte Abendessen über so, als wär gar nichts geschehen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Sie hat keine ihrer üblichen Stimmungstiefs. Es würde zu weit gehen, zu behaupten, sie sei gut drauf, aber sie war definitiv schon übellauniger, was echt gruslig ist. Im Kontext von Pseudo-Dads „zum Schreien komischen“ Enthüllungen übers Babyfon.

Was noch merkwürdiger ist: Für das Belauschen von Pseudo-Dads Gespräch hat sie mich nicht mal bestraft. Ich vermute, weil sie ja irgendwie selbst davon profitiert hat. Na ja, „profitieren“ ist nicht das geeignete Wort. „Schikanieren“ triffts wohl eher.

Scheinbar will sie meinen Pseudo-Dad quälen, den sie bis jetzt mit äußerster Vehemenz ignoriert. Bestimmt wartet sie auf den richtigen Moment, es ihm vorzuhalten. Vielleicht hat sie auch schon die Scheidungspapiere daheim und ist jederzeit bereit, den Stift für ihre Unterschrift zu zücken.

Ich reiße die Augen auf. Scheidung bedeutet Veränderung, Veränderung bedeutet Angst.

Was wird dann aus mir? Immerhin bin ich noch minderjährig. Geh ich mit Mum oder Pseudo-Dad? Verlieren wir unser Haus? Wenn wir unser Haus verlieren, ist doch auch mein Refugium in Gefahr, das mir – mehr denn je – wie eine, von meinen Eltern aufrechterhaltenen, Illusion vorkommt.

Ich nehme zwei tiefe Atemzüge aus meinem Inhalator, den ich Mum vorhin erfolgreich abgeschwatzt habe, was – bei näherer Betrachtung – für sich schon wieder eigenartig ist, denn sonst lässt sie sich nie weichklopfen.

Ob sie Pseudo-Dad bereits gedanklich verlässt? Nein, meine Eltern lieben sich. Das ist unumstritten. Sie sind – und da hat Galahad absolut recht – ineinander verliebt wie am ersten Tag.

Mum kennt Pseudo-Dads schrägen Humor – hat damit leben gelernt. Erneut wird mir klar, dass in diesem Haus jeder so akzeptiert wird, wie er ist. Mit all seinen „Schönheitsfehlern“.

Außer ich.

Mein Pseudo-Dad will sich Mum gegenüber mit einem „Schnäuzelchen?“ ergeben zeigen. Nicht mal darauf reagiert sie.

Was geb ich dafür, wenn sie sich in dem Moment anbrüllen und Geschirr nacheinander werfen würden.

Ich fasse das Mitangehörte nochmal gedanklich zusammen: Meine Eltern geben mich als von einem Freund adoptiertes Kind aus ihrem selbst gegründeten Waisenhaus aus, von dem sie den Vater kennen, der eigentlich mein Pseudo-Dad ist, der fremdgegangen sein soll. Was bloß Spaß war. Also ist Pseudo-Dad mein Vater und der Freund, den Galahad für Onkel Junus hielt, was aber nicht stimmte, zieht mich auf. Ich bin aber schon hier in diesem Haus und Mum darf nichts davon wissen, dass ich nicht ihre Tochter bin.

Ich glaub, ich hab da was durcheinandergebracht. Ist ja auch kein Wunder.

Egal, dieser Lauschangriff ist ein neuerliches Paradebeispiel, das die Frage aufwirft: Gibt es eigentlich irgendetwas in diesem Haus, das nicht erstunken und erlogen ist?

Wohl eher nicht.

Und wozu das alles? Nur, um nicht zugeben zu müssen, dass der Angsthase ihre Tochter ist – zumindest Mums.

Aber, was rege ich mich eigentlich auf?

Ich kann froh sein, dass ich in Pseudo-Dads Version, die er Galahad aufgetischt hat, eine Person bin. Onkel Junus hält mich bis heute für die verfressene, durchgeknallte Katze.

Ich meine, Halloooo – sie geben mich als ihr Haustier aus.

Von wegen, sie würden gewisse Details zu meiner eigenen Sicherheit verschweigen. Und jetzt stiften sie noch Galahad dazu an, bloß niemandem von dem Kurztrip in die Lügenhochburg zu berichten.

Das ist doch alles andere als plausibel. So wollen sie einfach nur ohne schlechtes Gewissen rechtfertigen, was sie getan haben. Oder tun werden.

Ich blick da nicht mehr durch.

Eins ist aber klar, sie wollen nur nicht in die Verlegenheit kommen, ihre „missgebildete“ Psycho-Tochter der Hexenwelt zu präsentieren.

Was mich echt zornig macht, ist die Tatsache, dass sie da bei Charly wohl keinerlei Hemmungen hatten. Spricht er halt nicht oder zeigt sonst irgendeine Regung.

Seis drum. Er ist der Junge, den sie sich sehnlichst gewünscht hatten‘, spottet der Puppenspieler mit fies verstellter Stimme.

Darüber hinaus will mich mein scherzhaft quasi-fremdgehender Pseudo-Dad scheinbar mit einer Vollnarkose zwangstätowieren lassen, bevor sie mir meine Kräfte reinwürgen können und dazu wollten sie sich sogar diesen Tätowierer als Mittäter angeln.

Ohne mich! Und scheinbar auch ohne Galahad, der immerhin Moral hat. Ganz zu schweigen von den Personen, die unter diesem Dach leben.

Aber habe ich denn überhaupt eine Wahl? Es steht drei gegen einen. Na ja, drei gegen eine halbe Portion.

Eher eine achtel Portion‘, relativiert der Puppenspieler.

Mein Blick wandert zu meiner Mum rüber, die stoisch die Geschirrspülmaschine einräumt, während sie diesen Song summt, der im Radio ständig rauf und runtergespielt wird. „Hello from the other side … I was wondering that after all this years you’d lied to me“. Wer immer diese Adele auch ist – ihr Song und die versteckte Botschaft, die Dad bestimmt nicht rafft, können mir gestohlen bleiben.

Und Mums gute Laune auch.

Darüber hinaus, was wirft sie ihm seine Lügengeschichten vor, sind sie doch aus demselben Holz geschnitzt.

Mir fällt auf, dass ich selbst beobachtet werde. Mein Pseudo-Dad lugt über seiner Zeitung hervor und schneidet Grimassen, als sich unsere Blicke treffen – beziehungsweise vermutet er das, weil ich ebenfalls den Kopf angehoben habe. Hinter dem Papier will er sich bloß verstecken, denn wer liest bitteschön beim Abendessen die Morgenzeitung?

Er trägt – entgegen meiner, in zugegebenermaßen etwas schroffem Tonfall ausgestoßener, Bitte, keine multiresistenten Krankenhauskeime einzuschleppen, die mich dahinraffen könnten – immer noch seinen weißen Arztkittel von der Arbeit, was echt ekelhaft ist.

Nachdem er, zu seiner Verteidigung, die Worte: „Lassen wir ihnen doch den Spaß“ hervorgebracht hat, hat er mir doch tatsächlich etwas zerknirscht zugezwinkert. Sollte das eine Art Entschuldigung sein? Dafür, dass er mich als seine Tochter verleumdet hat?

Oder sollte ich mich entschuldigen? Nein, warte mal. Wofür denn? Seine „Scherze“ gingen auch auf meine Kosten.

Sollte ich irgendetwas sagen? Mich einmischen? Aber das müssen doch die Erwachsenen unter sich ausmachen, oder?

Ich ringe mir ein gequältes Lächeln ab, von dem er nichts mitbekommt, da ich ja wieder meinen obligatorischen Mundschutz und die blickdichte Skibrille trage.

Es erscheint mir irgendwie angebrachter, über die Gesamtsituation Belustigung zu zeigen. In meinem Inneren sieht es da jedoch ganz anders aus. Meine Gefühlswelt geht eher in Richtung Begräbnisstimmung.

Meine aufgesetzte Reaktion – beziehungsweise die Tatsache, dass ich nicht ungewöhnlich reagiere – scheint ihn sichtlich zu erleichtern, denn er rückt sich die Krawatte zurecht, als hätte sie ihm bis jetzt die Luft zum Atmen abgeschnürt, und widmet sich erneut seiner Zeitung.

Ich mustere meinen Bruder verstohlen von der Seite, der seine übliche Charly-Maske trägt und Pseudo-Dad mit jedem verstrichenen Tag ähnlicher zu sehen scheint.

Wie der Vater, so der Sohn‘, stellt der Puppenspieler treffend fest.

Womöglich sind mein Bruder und ich nicht mal verwandt. Eine Patchwork-Familie, in die Dad den Sohn und Mum die Tochter eingebracht hat.

Zuzutrauen wäre es ihnen.

Würde das stimmen, wären die Pilzkulturen, die unsere Körper besiedelt von zwei unterschiedlichen Stämmen.

Und wenn Dad fremdgegangen wär – was glücklicherweise nicht passiert ist – würd noch eine vierte, fremde Kultur dazukommen.

Ich kotz gleich.

Zwei tiefe Atemzüge aus meinem Inhalator sollen mich davor bewahren, meine Astronautennahrung nicht in eine andere Atmosphäre auszuspeien, doch zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, dass beim zweiten Mal das übliche, erlösende Pump-Zisch-Geräusch ausbleibt.

Was Mum wieder auf den Plan zu rufen scheint, denn sie stellt blitzartig die Arbeit ein, zieht im selben Moment die richtigen Schlüsse und stemmt die Hände in die Hüften: „Sag nicht, du hast schon wieder alles aufgebraucht. Und überhaupt – was hat dir denn bitteschön in diesem Moment Angst eingejagt? Es war doch absolut nichts.“

Das wars mit ihrer „guten“ Laune. Die ist wie weggeblasen und sie konzentriert ihr negatives Potenzial wieder zu hundert Prozent auf mich, obwohl Dad Scheiße gebaut hat.

Ich würde sagen, die Rangordnungen in dieser Familie sind wiederhergestellt.

Was sag ich ihr bloß? Die Wahrheit, die blanke Vorstellung der Folgen, die die Bewahrheitung von nur einem Bruchteil ihrer Lügen nach sich ziehen könnten, bereite mir Übelkeit, sollte ich ihr lieber vorenthalten. Aber anlügen will ich sie auch nicht.

Obwohl ich meine Skrupel dahingehend schön langsam über Bord werfen könnte, will ich mich nicht auf ihr Niveau herablassen.

Ein Ausweichmanöver muss her: „Das Geschirrspültab mit den Händen anzufassen, mit denen man vorher das dreckige Geschirr eingeräumt hat, ist doch absolut ekelhaft. Darüber hinaus stimmt die Luftfeuchtigkeit in diesem Raum nicht. Dies ist der optimale Nährboden für Keime, die sich auf deinen Händen in kürzester Zeit exponentiell vermehren können. Genau den Händen, mit denen du wieder das Geschirrspültab anfasst, das sich durch den Spülgang aufs Geschirr überträgt, da du nicht das extra heiße, sondern das Energiesparprogramm ausgewählt hast. So wandern die Erreger direkt über die Nahrung in eure Körper, die ihr über euren Speichelfluss auf das Besteck ausscheidet, das wiederum in den Geschirrspüler wandert, wo der Kreislauf des Grausens erneut beginnt“, weise ich sie dezent darauf hin, dass hier noch etwas gewaltig schief läuft.

Und das Erschreckende ist, der Gedanke daran jagt mir tatsächlich Angst ein.

Die Wirkung des Inhalators lässt tatsächlich in letzter Zeit zu wünschen übrig. Aus der einstigen Tagesration ist eine Stundenration geworden, was mir zu denken geben sollte.

Meiner Mum steht das Unbehagen über meine Beobachtung ins Gesicht geschrieben. Ihr aber wohl aus anderen Gründen als die von mir aufgedeckten.

Diese Blicke verfolgen mich bereits ein Leben lang. Was soll ich sagen, ich bin das schwarze, zwangsneurotische Schaf der Familie.

Und dann passiert es – ihre betroffen, gequälten Gesichtszüge gehen in ein breites Lächeln über. Ihre Reaktion schüchtert mich dermaßen ein, sodass ich mich sogar ins Tischtuch kralle.

Ihr „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, hier mal ein paar Tage rauszukommen“ kam aus tiefster Seele.

Unsere Mutter-Tochter-Beziehung ist wohl auf dem Tiefpunkt angelangt, wenn sie sich schon unsere Trennung herbeisehnt.

„Davon können wir Hinterbliebenen nur träumen“, trällert Dad.

Sie spricht ihren Kurztrip übers Wochenende nach Chicago an. Zu irgendeiner Tanzconvention, was immer das auch sein mag, zu der sie mich doch tatsächlich nötigen wollte, mitzukommen. Jetzt ist sie bestimmt froh, sich bei mir die Zähne ausgebissen zu haben.

Sie kennt mich wohl immer noch kein bisschen. Als ob ich in ein Flugzeug steigen würde – und dann noch mit ihr. Ihr Flieger geht übrigens in einer Stunde dreißig Minuten und vier Sekunden.

Mir ist Pseudo-Dads Seitenhieb nicht entgangen, daher strafe ich ihn mit einem bösen Knurren, das er mit einem Grinsen, gefolgt von „Hey, Mum ist nicht da. Sturmfreie Bude“ kontert.

Ich will mir auf die Stirn klatschen, so fehl am Platz war seine Aussage – zumindest mit dem Wissen über seine gescherzte Untreue, mit der er es sich bei Mum echt verscherzt hat.

„Wir könnten uns nach der Arbeit einen Tochter-Dad-Abend machen“, schlägt er vor.

Bitte nicht.

„Wie wärs, wenn ich uns auf dem Nachhauseweg Pizza besorge, die wir auf der Couch naschen, während wir uns den Film reinziehen, den ich extra für mich ausgeliehen habe? Ist ein Erziehungsratgeber.“ Er zückt in dem Moment die dazu passende DVD mit dem Titel: „Drachenzähmen leicht gemacht“.

Wo soll ich da anfangen?

„Wie wärs, wenn wir die Lüftungsanlage inspizieren und gleich die Filter tauschen. Danach könnten wir uns die Spezialwaschmaschine vornehmen und das Trommel-Reinigungsprogramm durchlaufen lassen“, unterbreite ich ihm meinen Gegenvorschlag.

Mein Dad sendet meiner Mum Blicke zu, die für mich endlich Sinn ergeben, bevor er total überzeichnet fleht: „Nimm mich mit. Bitte. Lass mich nicht mit ihr allein“ und sich dabei theatralisch an der Tischplatte entlang in ihre Richtung zieht.

Tränen fluten meine Augen, die ihnen glücklicherweise verborgen bleiben.

In dieser Familie läuft gerade alles den Bach runter.

„Hey, das war ein Scherz“, verteidigt er sich, da ihn meine Mum mit eisigen Blicken straft, bevor er sich erneut mir zuwendet: „Außerdem hat Mum in diesem Haushalt den männlichen Part übernommen. Du kannst aber auch in deinem Zimmer spielen …“ Spielen? Ich bin doch keine sechs mehr, „… und ich seh mir das Football-Spiel an, denn ich bin sicher, deine Mum hat die Wartungsarbeiten alle schon erledigt.“

Meine Mum presst ein „Natürlich“ hervor. Wow, direkt ins Gesicht gelogen. Ich schlucke die sich erneut anbahnenden, bitteren Tränen sauber runter.

„Du weißt, dass ich in Chicago auf Mitglieder unseres Hexenzirkels treffen werde und wir das Tanzstück für das Zirkeltreffen proben, von dem ich dir erzählt habe“, ruft sie mir in längst in Vergessenheit geratene Erinnerung. Nur so kann ich mir erklären, dass die Info für mich neu ist. „Das Tanzstück – um genauer zu sein – bei dem du mitmachen wirst.“ Wieso klingt aus ihrem Mund immer alles so endgültig? „Glaub nicht, die Tatsache, dass du zu keiner einzigen Probe erschienen bist, ist der Grund, dich davor zu drücken, junge Dame.“ Glaub ich schon. „Du wirst darin eine entscheidende Rolle spielen“, prophezeit sie mir.

„Wieso? Braucht ihr noch Requisiten?“, spottet Dad und erntet wieder erboste Blicke aus Mums Richtung.

„Immerhin ist das dein Debüt als Hexe“, ergänzt sie. Da ich ein Mensch bleibe, gibt’s auch kein Debüt. Punkt. „Es wird von dir erwartet, dass du dich von deiner besten Seite präsentierst.“

„Wird das von mir auch erwartet? Dann sollte ich ein gemäßigteres Styling in Betracht ziehen, damit mir Mary nicht die Show stiehlt.“

Ist mir egal, was man von mir erwartet. Ich machs nicht.

Aus purer Absicht.

„Wieso machst du so ein Theater um dieses Treffen?“, werfe ich die Frage ein.

„Frag deinen Vater, dann haben wir alle was zu lachen“, kontert Mum.

Autsch.

Pseudo-Dad rollt die Zeitung zu einem Sprachrohr zusammen und ruft: „DAS GRAS WIRD GEBETEN, ÜBER DIE SACHE ZU WACHSEN. DAS GRAS BITTE!

Meine Mum schnappt sich im nächsten Augenblick demonstrativ den Müllbeutel. Der Plastiksack ist nur zu einem Drittel gefüllt, also gehe ich davon aus, dass das ihr Vorwand ist, unter dem sie sich abends in mein Zimmer schleicht.

Als wäre es nicht offensichtlich genug, was sie vorhat, ergänzt sie die vollkommen unnütze Information: „Ich bringe jetzt den Müll raus“, auf die keiner reagiert.

Die tagtägliche Ankündigung der Aktion mit genau denselben Worten ist mir zuvor nie aufgefallen.

Der Gedanke, wie sie mein Zimmer mit der vermeintlichen „frischen Luft“ infiziert, ist beinahe so schwer zu ertragen, als mir vorzustellen, an meiner eigenen, verbrauchten Luft langsam und qualvoll zu ersticken.

Meine Hand umschließt den Inhalator so fest, dass es bereits schmerzt.

Im Nu ist meine Mum auch schon aus der Küche raus. Das hat jeden Tag funktioniert, doch damit ist jetzt Schluss.

Mein „Ich geh in mein Zimmer“ kommentiert mein Pseudo-Dad bloß mit einem beiläufigen Nicken. Kurz bin ich irritiert, denn ich hätte schwören können, richtig zu liegen und hätte dementsprechend mit mehr Widerstand seinerseits gerechnet. Womöglich ist Mum doch draußen bei der Mülltonne anzutreffen.

Schnell setze ich mich in Bewegung, bevor meine Aktion durch ein „Oh, Spätzchen, warte mal“, gefolgt von meinem Pseudo-Dad, der mir nach hechtet, ins Stocken gerät.

Blitzschnell ist er an meiner Seite und flankiert mich. „Ich könnte auf dem Nachhauseweg im Supermarkt vorbeifahren und Geschirrspültabs mit Schutzfolie kaufen. Jetzt bleib doch mal stehen und lass uns die Für und Wider eingehend durchdiskutieren“, ist sein amateurmäßiger Versuch, mich aufzuhalten.

„Diese Unterhaltung bringt nichts“, blocke ich ab und laufe weiter durch den Flur.

„Wieso nicht?“, will er mich in eine Diskussion verwickeln.

„Weil das ungefähr so wär, als würdest du ein Geschirrspültab in die Grundzüge der Kernphysik einweihen.“

Das war jetzt nicht so gehässig gemeint, wies geklungen hat.

Na ja, vielleicht doch.

„Jetzt bleib doch mal stehen.“ In dem Moment schnappt er auch schon nach meinem Arm.

Wie elektrisiert schnellt mein Körper zurück und bringt den nötigen Abstand zwischen uns. Seine Beinahe-Berührung erwischt mich eiskalt.

Er lässt glücklicherweise sofort ertappt die Hände in die Höhe schnellen. So als würde er sagen „Ich wars nicht.“

Sein „Tut mir leid, ich hatte es kurz vergessen, dass du …“ streut noch Salz in meine Wunde.

Mein Atem geht schwer, als ich seine Worte gedanklich vervollständige: „... ein Freak bist“.

Mein Pseudo-Dad sieht etwas mitgenommen aus, während ich mich in eine Ecke kauere, den Rücken fest in die Wand gestemmt, und in meine Papiertüte atme.

Ich schäme mich dafür, dass mich eine simple Beinahe-Berührung meines Pseudo-Vaters in die Knie zwingt und mich total aus der Bahn wirft.

Aber ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass der Hautkontakt mit einer anderen Person mein gesamtes Zellgefüge aus dem Gleichgewicht werfen könnte.

Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich, wie er sich die Haare rauft und sich in einigen Metern Abstand mir gegenüber hinhockt, bevor er sofort wieder in die Höhe schießt, so als hätte er die rettende Idee: „Ich hol dir einen Inhalator.“

Gute Idee.

Sogleich nimmt mein Bruder die Stelle, an der mein Pseudo-Dad eben noch stand, bevor er die Treppe hoch gerannt ist, ein, der sich scheinbar vom Küchentisch hoch bewegt hat, um die Show zu genießen. Wie der Puppenspieler sieht er auf mich herab. Richtet im Stillen über mich.

Was wohl gerade in seinem Kopf vorgeht?

Bestimmt lacht er mich aus ... dieser Freak.

War der Treppenabsatz im einen Moment noch leer, taucht zu allem Übel auch noch Mum auf. Sie kam von der oberen Etage zu uns runter, entdeckte zuerst das Häufchen Elend in der Ecke hockend – das nun Gewissheit hat – ihren glotzenden Sohn und ihren Ehemann, der hinter ihr die Treppen runtergelaufen kommt.

Ihr „Was ist passiert?“, das mein Pseudo-Dad mit einem schulterzuckenden „Eigentlich nichts“ beantwortet, ist wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich strecke sehnsüchtig die Hand nach dem erlösenden Inhalator aus, den meine Mum wegschnappt, bevor ihn Pseudo-Dad rausrücken konnte.

Ihr beschwörendes „Stell dich deiner Angst“ macht die Situation auch nicht besser.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Meine Lunge brennt und ich spüre, wie der Schweiß meinen Rücken entlangläuft. Dieses Kribbeln, das die feinen Tropfen, die aus den Poren meiner Haut strömen, als wollten sie wie Ratten das sinkende Schiff verlassen, treibt mich fast in den Wahnsinn.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Wie eine Endlosschleife fegt der Gefühlssturm über mich hinweg, bis sich die Reihenfolge der Körperreaktionen verändert, sie durcheinandergeraten, sie ineinander übergehen und Chaos herrscht.

„Mum bitte“, flehe ich sie an, doch sie sieht nicht so aus, als würde sie Gnade walten lassen.

„Ähm, Raven“, schaltet sich mein Dad ein, doch meine Mum gebietet sich mit ihrer Hand Ruhe und wendet sich erneut mir zu: „Überwinde deine Angst, dann bist du frei.“

So funktioniert das nicht. Wie oft soll ich ihr das noch sagen?

Der Puppenspieler bricht in Gelächter aus, zerrt an den Fesseln und lässt mich über die Bühne hüpfen, verdreht mir die Arme zu einem albernen Tanz, der meine Glieder unkontrolliert taumeln lässt.

„Ich kann das nicht, Mum“, hauche ich.

Doch, du kannst es“, bläut sie mir verheißungsvoll ein und versteckt den Inhalator hinter ihrem Rücken, so als wolle sie dieses Spiel spielen, bei dem man erst erraten muss, in welcher Hand er sich befindet, bevor man ihn bekommt.

Sie und ihre scheiß Psychospielchen.

„Raven“, will sie mein Dad besänftigen. Er hat sogar diesen speziellen Blick drauf, der sonst immer funktioniert.

Nur heute nicht.

Irgendetwas sagt mir, dass dieser Blick lange nicht mehr seine beabsichtigte Wirkung erlangen wird.

„Sie muss lernen, ohne den Inhalator zurechtzukommen. Womöglich ist sie schon abhängig und es ist sowieso nur mehr nur ein Placebo-Effekt, der Wirkung zeigt.“

Um so etwas zu beweisen braucht man Testreihen. Eine Referenzgruppe. Zeit.

„Sie hat genug“, höre ich meinen Dad voller Bestimmtheit sagen. Seine Stimme klingt so ernst, wie ich sie noch nie zuvor vernommen habe.

„Vielleicht ist das doch eine Prüfung. Sie muss sie bestehen, Fynn. Muss ihre Angst überwinden.“ Was redet sie da? Welche Prüfung?

„So etwas ist nicht üblich, bevor sie ihre Kräfte erlangt hat“, vernehme ich die Stimme meines Pseudo-Dads wie aus weiter Ferne.

Heißt das, ich muss mir meine Kräfte erst verdienen?

Gut, denn dann wird das sowieso nie was.

„Sie ist auch kein gewöhnliches Kind“, argumentiert Mum.

Mir entweicht ein qualvoller Laut, während ich den Inhalator, den ich in ihrer linken Hand vermute, anschmachte.

Aber die Ungewissheit frisst mich auf.

Und dann gibt das Püppchen auf, senkt die Hand und lässt es einfach über sich ergehen. Es ist zu schwach, sich zur Wehr zu setzen. Es weiß, dass es dem Puppenspieler nicht gewachsen ist, der riesengroß über der Bühne thront. Er macht mit ihr, was er will – wie ein Sturm mit einem achtlos weggeworfenen Plastiksack.

Ich halte mir die Ohren zu, um die Welt auszublenden, wippe dabei stoisch vor und zurück. Der Puppenspieler zerrt fester an den Seilen, sodass ich den Schmerz sogar körperlich spüren kann. Immer ungehaltener hebt er mich empor, immer höher, immer wilder.

Und als ich glaube, die Kräfte, die an mir zerren, würden meinen Körper entzwei reißen, entweichen meiner Kehle schluchzende Laute, gefolgt von einem Strom aus Tränen.

In dem Gesicht meiner Mum zeichnen sich Einsicht, Resignation und bittere Enttäuschung gleichermaßen ab. Zumindest kann ich das durch die Nebelwand der angelaufenen Gläser meiner Skimaske erkennen, an deren unteren Rand sich sogar bereits meine Tränen stauen.

Ich bin nicht so, wie sie mich haben will. Keine kleine, pausbackige, rosa Prinzessin, die sie anziehen und überall vorführen kann.

Das weiß sie und das spiegelt sich in ihren Augen wider. Jedes Mal, wenn ihr Wunschtraum durch die Realität wie eine Seifenblase platzt.

Sie verliert gerade die Kontrolle über ihren Zirkusakt und das gefällt ihr ganz und gar nicht.

Leicht nickend hockt sie sich vor mich hin und hält mir den Inhalator entgegen, während ich wie ein kleines Kind heule.

Alles in mir will danach greifen, doch ich kann nicht, kann nicht darüber hinwegsehen, dass sie das Mundstück mit den Händen angefasst hat, mit denen sie das dreckige Geschirr eingeräumt oder gerade mein Fenster geöffnet hat.

So sehr ich mir auch wünsche, meine Sinne zu betäuben, meine Hand kann einfach nicht die Distanz überwinden.

Ich schließe die Augen, sehne mir eine Glaskugel herbei, in der ich mich hermetisch abriegeln könnte, doch sofort bricht mein Versuch, Widerstand zu leisten wie ein Kartenhaus, das durch ein Lüftlein erfasst wird, in sich zusammen.

„Wieso nimmst du ihn nicht? Das ist doch das, was du willst.“ Die Frage meiner Mum zeigt mir wiedermal anschaulich, wie weit wir uns tagtäglich voneinander entfernen.

Ihre Worte und natürlich der Boden, der wenig später auf meinen Kopf trifft, offenbaren mir zudem, wie nahe ich mich jeden Tag am Abgrund der Bühne befinde.


Schneekugelsturm: Band 1

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