Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 3

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„Hast du Angst, Mary Walker?“ Seine Frage hallt in meinem Kopf wie ein Echo, obwohl seine Stimme längst verklungen ist.

Habe ich Angst? Ich sollte Angst verspüren.

Die Angst steht ihnen allen ins Gesicht geschrieben.

Und ich? Ich stehe einfach nur da und versuche, etwas zu fühlen, das angebracht ist. Aber ich kann es nicht, kann nichts dergleichen fühlen.

Nicht mehr.

„Ah, eine ganz Mutige“, stößt er abschätzig aus.

Falsch, denn nur, weil ich keine Angst vor ihm habe, heißt das nicht, dass ich mutig bin. Mir fällt das hier einfach nur leichter. Trotzdem atme ich schnell und versuche, verängstigt auszusehen, damit meine Emotionslosigkeit nicht gleich verrät, dass mit mir etwas nicht stimmt.

Dass ich anders bin.

Es ist eigenartig, aber alles, woran ich in diesem Moment denken kann, ist das Fenster in meinem Zimmer, an dem Eiskristalle emporwachsen. Und an die Sehnsucht, sie mit den Fingern nachzuzeichnen – wie jeder andere es tun würde.

Wie jeder andere, außer ich.

Ich war anders.

Nein, ich bin anders. Immer noch.

*************

Ein paar Tage zuvor.

Da ist dieses Geräusch, das ich schon einmal gehört habe. Es war neulich in der Küche. Mum hat im Eisschrank nach den Eiswürfeln gekramt.

Eiswürfelmachen ist ganz leicht: Man füllt Wasser in diese Plastiksäckchen mit den vordefinierten Kammern, macht einen Knoten rein und friert sie ein.

Nach kurzer Zeit wurde sie fündig und hat das gefrorene Säckchen auf die Spüle gelegt. Das Säckchen mit den in Eis eingeschlossenen Bakterien und den, verursacht durch den Kontakt mit dem Plastik, darin übergegangenen Weichmachern. Eine tickende Zeitbombe, die nur darauf gewartet hat, durch das Schmelzen in den künstlichen Orangensaft meines Dads überzugehen und seinen Körper zu bevölkern. Häppchenweise ein heranwachsendes, bösartiges, tumoröses Gewebe zu ernähren bis es groß genug ist, um ihm einen Namen zu geben: Geschwulst, Wucherung, Krebs.

Ich konnte gar nicht hinsehen, hab sogar demonstrativ den Kopf weggedreht, um mich dem Anblick, der selbst noch durch meinen Kopf geisterte, als ich bereits den Blick abgewendet hatte, zu entziehen.

Das hat mir wieder vor Augen geführt, warum Mum mein Trinkwasser vorher abkocht, das niemals auch nur in die Nähe eines Eiswürfels kommen wird.

Genau dieses Knistern vernehme ich auch jetzt in meinem Zimmer – auf der Fensterbank sitzend.

Ja, das Knistern von Eis liegt in der Luft.

Aber diesmal ist es kein Eiswürfelsäckchen, das die Geräusche von sich gibt, weil es in eine viel wärmere Atmosphäre eingetaucht ist, sondern meine Fensterscheibe.

Sie gefriert.

Ich kann den Eiskristallen sogar beim Wachsen zusehen. Zuerst sprießen die Blumenmuster nur in den Rändern der aus genau 24 einzelnen Glasstücken zusammengesetzten Fensterscheibe und bilden dadurch einen Rahmen, doch sie pflanzen sich fort – besiedeln schon bald die gesamte Scheibe.

Die feingliedrige Kristallstruktur, die wie aus Geisterhand heranwächst, gleicht jener von Sternen. Jedes der winzigen, sechseckigen Sternchen verzweigt sich wieder und wieder zu einem sechseckigen Gebilde bis daraus ein großer sechseckiger Eiskristall wird.

Ich erinnere mich, gehört zu haben, dass kein einziger Eiskristall dem anderen gleicht. Jeder ist für sich ein Unikat.

Aber sie dürften gar nicht hier sein.

Die Schneeflocken, die so plötzlich unerbittlich an mein Fenster prasseln, lassen mich zurückschrecken. Eben war das doch noch ein beschaulicher Regenschauer und jetzt ist es schon ein ausgewachsener Hagelsturm.

Im August!

Mein Atem geht bereits schnell und zeichnet sich sogleich durch das Beschlagen des Fensters ab.

Man könnte nun mit den Fingern auf der Scheibe malen. Botschaften verfassen. Kleine, lustige Zeichnungen kreieren, die einem die Vergänglichkeit vor Augen führen würden. Gedankenverloren macht sich meine Hand selbständig. Schwebt über dem milchig weißen Hauch, der bereits von der Kälte zurückgedrängt wird und jeden Moment zu verschwinden droht.

Einen Wimpernschlag später ist er fort. Und mit ihm die Chance auf ein klitzekleines bisschen Normalität, zu der ich mich – seien wir uns doch mal ehrlich – niemals hätte durchringen können. Sind es doch meine Gedanken, die mir immerwährend im Wege stehen und mich das schlimmste Szenario ausmalen lassen.

Ich frage mich, ob das gefrorene Fenster zerberstet, wenn ich es mit dem Finger streife.

Das ist zu viel.

Meine Großhirnrinde identifiziert – spät aber doch – den Reiz, der über meine Sinnesorgane aufgenommen wird. Diese Information wird in mein limbisches System weitergeleitet, das die passenden Gefühle auslöst. Mein Nebennierenmark schüttet Adrenalin, Kortisol und Kortison aus, was mein Nervensystem aktiviert.

Es kommt zu einer Schrecksekunde gefolgt von einer Alarmreaktion. Dann erweitern sich meine Herzkranzgefäße und mein Puls rast. Meine Muskeln werden stärker durchblutet. Ich atme schneller, um meinen Körper besser mit Sauerstoff zu versorgen.

Mein Blut verdickt sich, weil eine Verletzung bevorstehen könnte. Die Pupillen sind erweitert. Meine Körpertemperatur erhöht sich. Kalter Schweiß bricht mir aus. Ich bin erregt. Unruhig. In hellem Aufruhr.

Genau das passiert gerade.

Wiedermal.

Ich weiß genau, was es ist, denn das Gefühl ist mir wohlvertraut. Es ist da, wenn ich aufwache, ist mein steter Begleiter tagsüber und allgegenwärtig bis ich spät abends die Augen zumache. Selbst im Schlaf sucht es mich heim. In meinen Träumen pirscht sie sich an und klopft an meine Tür, verfolgt mich immerzu. Wie ein stiller Begleiter, ein Schatten, der selbst die Dunkelheit nicht scheut:

Die Angst.

Seit ich denken kann, ist sie ein Teil von mir. Sie beherrscht mich, wie ein Puppenspieler, der seine wehrlose Figur an seidenen Faden im Takt des Schauspiels dirigiert. Vollkommen dem Willen einer fremden Macht ausgeliefert, die man nicht imstande ist zu beherrschen.

Auf eine bizarre Art und Weise ist es erträglicher, sich die Angst als schrulligen, alten Puppenspieler vorzustellen. Nur sein Mäntelchen ist bei jedem Auftritt anders: Cheimaphobie: Angst vor der Kälte, Chionophobie: Angst vor Schnee, Achluophobie: Angst vor der Dunkelheit, Isolohobie: Angst, allein zu sein, Somniphobie: Angst vor Schlaf, Oneirophobie: Angst vor Träumen … ich könnte endlos so weitermachen.

Mir macht alles Angst. Zumindest habe ich noch nichts entdeckt, das dieses Gefühl nicht in mir ausgelöst hätte.

Man glaubt gar nicht, wie beängstigend die Welt sein kann.

Die Bühne dieses Puppentheaters, in der 24 Stunden am Tag mein Leben, also ein und dieselbe Tragödie in nicht enden wollenden Akten, abläuft, ist ein Zimmer, dessen nächtliche Stille nur durch panisch keuchende Atemzüge unterbrochen wird. Die panisch keuchenden Atemzüge des am Fenster kauernden Holzpüppchens mit den roten, runden Pausbäckchen und den Zöpfen, wie ich mir meine Wenigkeit ausmale.

Automatonophobie: Angst vor Puppen.

Der Mund der Figur ist zu einem stillen Schrei geformt, die Kulleraugen weit aufgerissen. Aber in ihnen funkelt nicht nur die Angst. Da ist noch etwas anderes. Ein anderes, mich beherrschendes Gefühl: Die Scham.

Angst und Scham gehen bei mir immer einher.

Es ist diese Hilflosigkeit und die Empfindung, nicht Herr seiner eigenen Gefühle zu sein, die die Angst kurz zurückdrängt. Aber nur für einen Bruchteil von Sekunden, dann kehrt sie zurück.

Sie kehrt immer zurück.

In diesem Moment ist die Angst unter einem bestimmten Deckmäntelchen, was für die meisten Menschen eher beruhigend wirken würde, hervorgekrochen und hat mich aus meinem unruhigen Schlummer erwachen lassen: Das Prasseln des Regens – Ombrophobie – der nun, durch die herrschende Kälte, in Eisregen übergegangen ist.

Aber – und das muss ich mir mit jedem weiteren Tag meines Lebens eingestehen – ich bin nicht wie die meisten Menschen.

Ich bin anders.

Meine Hände an meinen Ohren wollen mich von diesem steten Blopp, Blopp, Blopp, abschirmen, das die dicken, gefrorenen Tropfen, die erbarmungslos an meine Fensterscheibe hämmern, verursachen. Ich hasse dieses Geräusch und das Gefühl, das es in mir auslöst.

Acoustophobie: Angst vor Geräuschen.

Dabei muss ich unweigerlich an die Abgase, die die Luft verschmutzen und gelöst in den kleinen, gefrorenen Wassertröpfchen vom Himmel fallen, denken. Unzählbar viele tickende Eiswürfelchen-Zeitbomben, die den Boden verseuchen. Ich stelle mir vor, das Püppchen drohe in einer dieser Pfützen zu ertrinken und erwische mich dabei, wie ich den Atem anhalte.

Ja, ich hab sogar Angst vor der Atemluft: Aerophobie.

Allein der Gedanke, die Fensterscheibe könnte Schaden nehmen oder schlimmer: Einen Spalt weit offen stehen, lässt mich fast durchdrehen.

Mysophobie: Angst, mit Schmutz in Berührung zu kommen.

Ich will weglaufen, mich in Sicherheit bringen, aber bin wie gelähmt – starr vor Angst. Darüber hinaus könnte ich nirgendwo hin, denn in meinem Kopf gibt es nur die Suggestion von Schutz. Gefahren lauern überall um mich herum. Ich rette mich nur von einem zum anderen Moment, indem ich eine Angst zurückdränge, deren Platz von einer anderen eingenommen wird.

Mir vorzustellen, diese von Schmutz getränkte Feuchtigkeit könnte sich wie ätzende Säure – Acidophobie – in meine hypoallergenen Laken fressen, mit denen ich mich wie in einen Kokon eingewickelt habe, versetzt mir den nächsten Schub.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Es fühlt sich so an, als ob die Angst, die meinen Rücken entlang kratzt, ihre Krallen tief in mein Fleisch schlägt.

Aphenphosmophobie: Angst vor Berührungen.

Ich sehe das Holzpüppchen vor mir. Anstatt der seidenen Fäden schlagen sich Stacheldrähte um seinen Körper.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Es passiert schon wieder.

Gerade wird mir klar, dass das Holzpüppchen in der heutigen Aufführung ein sonderbares Bild abgeben muss. Ich sehe die leblosen Augen der Gestalt in Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ vor mir.

Hier drin bin ich absolut sicher, sage ich mir unaufhörlich. Das Fenster kann man nicht öffnen. Es ist verschlossen – hermetisch abgeriegelt. Dreifach verglastes Sicherheitsglas. Mit einer verspiegelten Spezialfolie UV-beschichtet, sodass es die schädlichen Strahlen des Sonnenlichts absorbiert. Dank der Folie ist es praktisch unmöglich, von außen hereinzublicken.

Meine Atemluft strömt aus einer Lüftungsanlage. Sie wird auf dem Dach angesaugt, durchläuft mehrere Pollen- und Feinstaubfilter und strömt lupenrein aus den kleinen, runden Tellerventilen an der Decke meines Zimmers. Meine verbrauchte Atemluft wird durch die bauchigen Ventile abgesaugt und fünfundzwanzigmal am Tag komplett getauscht.

Aerophobie – Angst vor der Luft.

Meine Eltern haben keine Kosten und Mühen gescheut, um das Haus nach meinen Bedürfnissen umzubauen.

Mann, wie das klingt.

So als wär ich jemand, der an Allergien leidet oder an einer ansteckenden Krankheit. Ich stelle mir vor, eine Seuche würde das Püppchen befallen, sehe rote, eitrige Pusteln, die jeden Zentimeter meiner Haut überziehen.

Dermatophobie: Angst vor Hautkrankheiten.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Sie jagt erneut in Wellen durch meinen Körper. Besiedelt mich wie ein Krebsgeschwür.

Keine Angst, wiederhole ich wie ein Mantra, was noch nie funktioniert hat.

Sollte das System durch einen Stromausfall versagen, habe ich immer noch meinen OP-Mundschutz, den ich nie abnehme.

Hier drin bin ich absolut sicher. Der Gedanke an die Seuchenschleuse direkt hinter meiner Zimmertüre, die auch bei Quarantänefällen in Krankenhäusern zum Einsatz kommt, beruhigt mich einigermaßen. Wobei „beruhigen“ nicht das richtige Wort ist, um das zu beschreiben, was in mir vorgeht. „Beschwichtigen“ wäre treffender.

Nosophobie: Angst, krank zu werden.

Aber weder bin ich krank, noch leide ich an Allergien – zumindest sind meine Phobien nicht ansteckend und auch in keiner Allergenen-Tabelle der Welt gelistet.

Es bleibt eigentlich nur ein Schluss. Niemand wagt es auszusprechen, aber ich sehe es. Sehe es meiner Familie an der Nasenspitze an, was sie denken, wenn sie mich wiedermal mit diesem speziellen „Blick“ ansehen.

Ich bin anders.

Nicht normal.

Das weiß ich, auch ohne dass jemand ein Wort darüber verlieren würde. Ihre Blicke sprechen Bände.

Was bin ich?

Ich bin ein Angsthäschen, ein Feigling, ein Schisser, ein Hasenfuß, ein Duckmäuschen. Gerade in diesem Augenblick frage ich mich, wann der Kammerjäger zuletzt da war oder Mum unser Haus ausgeräuchert hat.

Sofort beschert mir die Vorstellung von trappelnden Mäusebeinchen auf meinem Fliesenboden, die in ihrem Fell hereinbringen könnten, was unter allen Umständen draußen bleiben muss, Gänsehaut.

Muriphobie: Angst vor Mäusen.

Ich spüre die kleinen Viecher sogar, als würden sie direkt auf meiner Kopfhaut krabbeln.

Pediculophobie: Angst vor Läusen.

Okay. Stopp. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst.

Es funktioniert nicht. Mein Puls rast unaufhörlich.

Vor meinem geistigen Auge taucht das Holzpüppchen auf – zitternd wie Espenlaub – im Hintergrund das schallende Lachen des Puppenspielers, der nicht zulässt, dass ich Kontrolle über mich selbst erlange. Unermüdlich schüttelt er das Püppchen, zieht es in Richtungen, die es selbst nie einschlagen würde.

Meine Hände zittern – ich verliere immer mehr die Kontrolle über sie – über meinen Körper.

Ein Scheiß Gefühl.

Keuchend öffne ich die Augen, die ich seit der Entdeckung der Eiskristalle geschlossen gehalten habe. Das gebrochen weiße Licht des Nachtlichts erhellt Teile meines Zimmers und taucht es in dieses diffuse Spiel aus Licht und Schatten, das mir eigentlich – nach all den schlaflosen Regennächten – wohlvertraut sein sollte.

Sciaphobie: Angst vor Schatten.

Aber heute ist es anders.

Ein „Anders“ löst das Gefühl übrigens immer aus – Cenophobie.

Die Dunkelheit wird immer wieder von den Reflexionen des Mondes zurückgedrängt, die sich in den geschmolzenen Schneeflocken auf meiner Fensterscheibe, die durch den Temperaturunterschied des Glases schlussendlich wieder zu Regentropfen geworden sind, brechen.

Mein Blick driftet ab, schwenkt auf meine Hände, die nun fest in die Bettdecke gekrallt Halt suchen. Darauf zeichnet sich das Muster der Regentropfen ab.

Ein Schattenspiel, das etwas grausam Schönes an sich hat.

Es sieht so aus, als ob Tränen wie dünne Rinnsale meine Arme entlanglaufen würden. Dabei hinterlassen sie diese langgezogenen Muster, die mich unweigerlich an Schlangen und Würmern erinnern.

Herpetophobie: Angst vor Kriechtieren.

Allein die blanke Vermutung, wie es sich anfühlen muss, wenn sie an mir empor kriechen, lässt meine Nägel fest in meine, durch reine Baumwolle behandschuhten, Handinnenflächen graben.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Der eingebildete Schmerz löst die Angst aus, mich selbst zu verletzen – Amychophobie.

In meinem Kopf werden die Rinnsale lebendig. Ich spüre förmlich die Feuchtigkeit an meiner Haut, die unerbittlich in die Richtung meiner Handinnenflächen kriecht, sich ihren Weg über meine imaginären, offenen Wunden sucht und in meinen Blutkreislauf eindringt. In dem endlosen Strom stößt sie bis in den letzten Winkel meines Körpers vor, löst Infektionen aus, die mich krank machen.

Ich sehe das Püppchen vor meinem geistigen Auge – die hochroten Bäckchen vom Fieber zerfressen – Pyrexiophobie. Das Fieberthermometer im Mund, dessen Flüssigkeit an der Spitze herausplatzt, so hoch ist es.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Gerade eben will ich aus meiner eigenen Haut fahren, was natürlich zum Scheitern verurteilt ist.

Ich klammere mich an den Strohhalm, dass ich meine Hände mitsamt Nägel gefühlte hundertmal am Tag desinfiziere und sie immer bedeckt trage. Nicht nur, wenn ich den Raum verlasse.

Bacteriophobie: Angst vor Bakterien.

Gegen meinen Willen muss ich mein Zimmer in regelmäßigen Abständen verlassen. Dazu zwingen mich meine Eltern, um nicht – ich zitiere wörtlich: „Mit mir und meiner Angst den ganzen Tag allein zu sein“.

Als „Kamerad“ soll mir übrigens dieses überaus hässliche, rosa Stofftier-Einhorn mit durchsichtigen Glitzerflügeln dienen, das auf dem Nachttisch neben meinem Bett steht.

Nur die Tatsache, dass es mir mein Dad geschenkt hat und ich ihn nicht verletzen will, hat mich bis jetzt davon abgehalten, es für immer spurlos verschwinden zu lassen.

Dabei gibt es hunderte, verlockende Szenarien in meinem Kopf, wie ich es angestellt hätte. Eines hässlicher als das andere.

Ich hasse Stofftiere, weil sich in ihnen Feinstaub – Amathophobie – anreichert und sie etwas für Hasenfüße sind, die Angst davor haben, allein zu sein.

Gerade stelle ich mir den Puppenspieler als rosa Einhorn vor, das mich aus den total überzeichneten, viel zu groß geratenen Kulleraugen doof anglotzt.

Egal wo ich mich im Raum befinde, es scheint so, als würde es mich immer direkt anstarren.

Echt gespenstisch. Da ist es kaum überraschend, dass es mir noch mehr Angst macht, anstatt mir zu helfen.

Was eigentlich wieder ein Paradebeispiel dafür ist, wie wenig mich meine Eltern doch kennen.

Schnell wende ich den Blick ab und scheitere dabei, einen gequälten, von mehreren Ängsten genährten Laut zu unterdrücken. AAAhhhhh. In einer letzten, verzweifelten Geste kralle ich meine Hände in meine Kapuze.

Ich könnts nicht genau beschwören, aber gerade ist es, glaube ich, die Angst vor der Angst selbst – Phobophobie – die mich einnimmt.

Mir wird klar, dass ich mich geradewegs in der Abwärtsspirale befinde. So nenne ich den Zustand, wenn eine Angst der anderen die Türklinke reicht. Das geht immer so weiter – wie eine unaufhaltbare Kettenreaktion.

Ich denke an die heutige Bühne des Puppenspiels. An fallende Dominosteine. Daran, dass das Püppchen ganz winzig ist und am Ende der Kette steht. Die Vorstellung, dass in dem Moment dieser riesige, letzte, schwarze Stein mit den weißen Pünktchen kippt, um den Winzling darunter zu zerquetschen droht, raubt mir beinahe den Verstand.

Asthenophobie: Angst vor Schwäche.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Die Abwärtsspirale zieht mich runter. Bedingungslos. Immer tiefer reißt mich der Strudel in die Tiefe – wie Treibsand.

In meiner Vorstellung bin ich nun in der Wüste und drohe zu verdursten. Die Sonne knallt unbarmherzig auf meine Haut herab – hinterlässt schmerzende Brandblasen.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Stopp! Hör auf zu denken, befehle ich mich selbst. Ein letzter Selbstversuch, Kontrolle über meine Gefühle zu erlangen, der wie immer zum Scheitern verurteilt ist.

Der Puppenspieler gewinnt immer.

Das war immer so und wird auch immer so sein. Nur abfinden kann ich mich damit einfach nicht. Obwohl der Kampf aussichtslos erscheint, ziehe ich jeden Tag aufs Neue in die Schlacht, um mir meine Niederlage zu holen.

Dennoch verzeichne ich einen kleinen Teilerfolg, denn ich schaffe es, mich aus der Starre zu befreien.

Panisch schießt meine Hand in die Richtung, in der ich meinen Rettungsanker vermute, den ich gerade durch tapsige, unkoordinierte Bewegungen verfehle und geradewegs ins Leere greife, weil das Püppchen nun seine erschrockenen Kulleraugen wieder so fest geschlossen hält, dass es Angst hat, seine Augäpfel könnten dem Druck nicht mehr länger standhalten. Bei dem Gedanken reiße ich die Lider wieder auf.

Alles in mir sträubt sich, nach dem Rettungsring zu greifen, aber ich stecke zu tief im Abwärtsstrudel, um mich daraus aus eigener Kraft zu befreien.

Ab jetzt gibt’s nur eins, um daraus zu entkommen: Und es befindet sich im Halbdunkeln vor mir – griffbereit auf dem Fensterbrett stehend und macht mir weit mehr Angst als alles andere.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Das Plastik des geraden Mundstücks des Inhalators, wie ihn auch Asthmakranke benutzen, schimmert im Mondlicht – lässt es beinahe silbern erscheinen.

Meine Hände zittern bei dem Gedanken, dass der pulverisierte Wirkstoff, der sich darin befindet, einem modernen Chemielabor entsprungen sein könnten, das jegliche Hygienevorschriften missachten könnte. Das, was das Zeug in meinem Körper alles anrichten könnte, muss ich wohl oder übel in Kauf nehmen.

Alles, was ich darüber weiß, ist, dass die Substanz darin vorübergehend mein Angstzentrum betäubt und meine Fesseln, zumindest kurzzeitig, vom Puppenspieler zu lockern vermag. Aber das, was mir Abhilfe verschaffen kann, ist ebenfalls ein Instrument, mit dem er mich quält.

Es läuft immer nach seinen Spielregeln ab: Ich will es nicht benutzen. Es ist ein Zeichen von Schwäche und ich schäme mich dafür, immer gezwungen zu sein, darauf zurückzugreifen.

Als wär ich ein Verrückter, der seine Persönlichkeit mit Psychopharmaka dämpfen muss, um gesellschaftsfähig zu sein. Denn seien wir uns doch mal ehrlich, genau das ist es, was da drin ist, auch wenn ich es nicht genau weiß.

Der Inhalator beschert mir so eine Art Verschnaufpause zwischen dem ersten und zweiten Akt der Vorstellung und ist unter anderem die Voraussetzung, die es mir möglich macht, mein Zimmer überhaupt verlassen zu können.

Aber ich will das nicht. Will nicht von einem mir gänzlich unbekannten Medikament – Nopharmaphobie – abhängig sein, um Dinge zu tun, die für die meisten Menschen alltäglich sind. Dinge, an die sie nicht mal einen klitzekleinen Gedanken verschwenden würden.

Aber du bist nicht wie die meisten Menschen: Du bist anders‘, reibt mir der Puppenspieler unter die Nase.

Die genaue Zusammenstellung der Inhaltsstoffe nicht zu kennen, macht mich fertig und ist beängstigend.

Zumindest klang die Geschichte meiner Eltern, das Etikett müsse beim Versand verlorengegangen sein, nur beim ersten Mal halbwegs glaubwürdig.

Das Püppchen mag vielleicht die eine oder andere Macke haben, aber dämlich ist es nicht. Zumindest verneble ich mir seit Jahren mit unzähligen dieser Asthma-Pfeifen die Sinne – und auf keiner war bisher ein Etikett dran.

Ich stelle mir den Beipackzettel, der mir ebenfalls vehement vorenthalten wird, vor. Informiere mich vor meinem geistigen Auge über abartige Nebenwirkungen und lese den Hinweis, dass das Präparat abhängig macht.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Der Vorhang der nächsten Vorstellung wird hochgezogen und ich erkenne eine neue Figur im Puppentheater. Eine riesige Spritze, die Fahrt aufnimmt und nur ein Ziel kennt: Den bleichen, verängstigten Junkie-Püppchenpopo.

Erneut drohe ich, vom Sog der Abwärtsspirale erfasst zu werden. Ich sehe das zappelnde Püppchen, wie es auf die Knie sinkt, um um Erbarmen zu flehen und den Puppenspieler, der den Inhalator herablässt, nur um ihn immer im letzten Moment wegzuziehen, bevor das Püppchen ihn erreichen konnte. So als würde er mir eine Karotte hinhalten, damit ich immer weiter seinen vordefinierten Weg beschreite.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Beschämt gebe ich mich geschlagen und schnappe nach dem Inhalator, der die Leine des Strippenziehers – zumindest vorübergehend – lockern wird.

Dabei stelle ich mich so ungeschickt an, dass ich den Inhalator vom Fensterbrett stoße. Liegt vielleicht auch an den übergroßen Topflappen, die ich über den Baumwollhandschuhen trage, um mich nicht irgendwo zu verbrühen – oder am Frost der Scheibe hängenzubleiben, was ich soeben als Zusatznutzen identifiziere.

Das silbern schimmernde Plastik streift im freien Fall die Schatten der Rinnsale der Regentropfen, bevor es scheppernd auf dem Boden auftrifft und seine Einzelteile in alle Richtungen verstreut.

Das Klackern, der über den Boden tanzenden Teile der Pfeife, die mir einen kurzen Moment des Friedens bescheren hätte können, hallt in meinem Kopf nach. Das Lachen des Puppenspielers ebenso, der mir heute wohl keine Pause gönnt.

Mir stockt der Atem. Mein kurzer Moment der Abnabelung, der zum Greifen nahe war, ist nun mit Schmutzpartikeln des Bodens kontaminiert.

So kann ich sie nicht mehr verwenden. Das geht nicht. Darüber hinaus würde mich der Zusammenbau der Teile gefährden.

Ich bin in hellem Aufruhr, habe Probleme, klar zu denken. Jemand muss sie aufheben und desinfizieren. Unter meiner Aufsicht, versteht sich.

Nein, warte, das geht nicht. Ich muss das selbst machen. Niemand sonst vermag es, mit der richtigen Besonnenheit und dem Fingerspitzengefühl vorzugehen, das es braucht, um so eine Aktion durchzuführen. Und ich fasse das Ding bestimmt nicht mehr an.

Daher gibt es nur eine Möglichkeit: Ein neuer Inhalator muss her.

Sie befinden sich im Arzneischrank, der für mich ungefähr so unerreichbar ist, wie die Unabhängigkeit vom Puppenspieler für das Holzpüppchen.

Meine Mum schließt sie darin weg – rationiert sie, damit ich nicht – ich zitiere wörtlich: „Nur noch durch dieses Ding atme.

Sie hat mich damit in der Hand.

Manchmal beschleicht mich das ungute Gefühl, sie würde mit dem Puppenspieler unter einer Decke stecken. Das würde zumindest ihre mehr als übertriebene Reaktion auf meine Bitte erklären, die Atemluft meines Zimmers mit dem Mittel zu versetzen.

Die Kürzung meiner wöchentlichen Ration bestätigte dafür meinen ersten Verdacht, sie könnte mehr über die Substanz wissen als ich. Der Einwand, dass es ja eigentlich ihre eigene Idee gewesen sei „nur noch durch dieses Ding zu atmen“, hat eine Buchführung ins Leben gerufen, mit der sie meinen Verbrauch seitdem mit Argusaugen überwacht und penibelst aufzeichnet.

Es ist ein erschreckend banaler Gedanke, keine Angst mehr zu empfinden zu wollen und für jemanden wie mich, der jeden Tag ums nackte, horrormäßige Überleben kämpft, doch mehr als erstrebenswert.

Normal sein – ja, das wärs.

Ich seufze lautstark und erschrecke vor dem Geräusch.

Logophobie – Angst, einen Ton von sich zu geben.

Doch, selbst wenn der Arzneischrank sperrangelweit offenstehen würde – ich bin zu klein, um die Pfeifen zu erreichen. Eine Leiter kommt nicht infrage, denn ich hab Höhenangst – Acrophobie.

Daher ist es auch jedes Mal aufs Neue ein Nervenkitzel, mich ans Fenster zu setzen, das mich magisch anzuziehen scheint.

Ich könnte in die Tiefe stürzen – irreparable Schäden am Schädel erleiden. Aber etwas in mir sagt mir, dass das bei mir vielleicht schon der Fall sein könnte.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Mein Kopf sackt mutlos auf meine Brust. Vielleicht bin ich als Kind vom Wickeltisch gefallen. Das wäre zumindest eine plausible Erklärung für mein absonderliches Verhalten.

Ich schließe die Augen, denn jetzt kommt wieder der Teil, für den ich mich schäme.

Mum“, krächze ich weinerlich in die Richtung der Sprechanlage, die ich durch Drücken eines Knopfes aktiviert habe. Zu meiner Verteidigung – dieser Raum ist schalldicht und irgendwie muss ich doch mit meiner Außenwelt kommunizieren, wenn ich mich hier drin abschotte.

Mein Hilferuf bleibt unbeantwortet.

Kunststück, es ist drei Uhr morgens. Die schlafen alle. Du bist also allein und niemand wird dich hören“, verhöhnt mich der Puppenspieler schadenfroh.

Okay, dann lauter. Das ist schließlich ein Notfall.

Mum!!!

Stille.

Dann nochmal.

MUM!!!

Stille.

Isolohobie: Angst, alleine zu sein.

Beim Püppchen hat erneut Schnappatmung eingesetzt, während es schluchzend an seinen Fäden zerrt und um Gnade winselt, doch der Puppenspieler lässt nicht los.

Niemals.

Der Puppenspieler gewinnt. Jedes Mal.

Wieso hört sie mich denn nicht? Vielleicht ist auch schon wieder der Akku vom Gegenstück leer. Das passiert ihr ständig. Oder sie hat es wiedermal in der Küche stehenlassen, anstatt es – wie von mir aufgetragen – immer bei sich zu tragen. Dazu ist schließlich die Schlaufe, die daran befestigt ist, da.

Nie ist sie darüber erreichbar. Manchmal glaube ich, sie macht das absichtlich.

Stell dich deiner Angst“, hat sie mir eingetrichtert.

Als ob das so einfach wär. Darüber hinaus, was bedeutet das überhaupt? Sich seiner Angst stellen, meine ich.

Ich stelle mir vor, wie das Püppchen die herab baumelnden Fäden ergreift, um daran hochzuklettern. Bis ganz nach oben, wo der Puppenspieler an den Enden der Schnüre wartet, um sich ihm entgegenzustellen. Kurz schafft es das Püppchen, ihn wutentbrannt anzufunkeln, bevor dieser in Gelächter ausbricht, Zeigefinger und Daumen spitzt, nur um es zurück auf die Bühne zu schnippen, wo es seinen aufgezwungenen, holprigen Stepptanz weiter vollführt.

Ich kann das nicht.

Der Puppenspieler gewinnt immer.

Ich bin anders.

Und da ist schon wieder das zweite Gefühl, das an meine Angst gekoppelt zu sein scheint: Die Scham.

Ob sich meine Eltern auch für mich schämen? Nicht, dass sie das immerwährend beteuern würden, schließlich müssen sie mich doch hinnehmen, wie ich bin. Sie können mich ja schlussendlich nicht mehr zurückgeben, wie es bei einer kaputten Puppe der Fall wäre, die nicht mehr „Ich hab dich lieb, Mummy und Daddy“ trällert, wenn man sie drückt.

Ich sehe mich, wie ich das defekte Spielzeug in Händen halte. Eins der Kulleraugen hängt heraus – am seidenen Faden einer dünnen Feder.

Dysmorphobie: Angst vor Missbildungen.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Dieses verdammte Kopfkino. Sofort sehe ich das Püppchen in einem überfüllten Kinosaal. Hustende Leute. Popcorn überall verstreut.

Ochlophobie: Angst vor Menschenmengen.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Wieso hab ich bloß so eine blühende Phantasie?

Vor meinem geistigen Auge taucht ein Feld mit Pusteblumen auf. Was der Windstoß gerade mit den Samen anrichtet, brauch ich wohl nicht zu erklären. Und mittendrin – das Püppchen, das sich mit den Armen vergebens abzuschirmen versucht.

Mein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen als lästig zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Besonders für jemanden, der es vermag, sich damit immer weiter runterzuziehen.

Wie stellt man das ab? Ich muss mich dringend vom Nachdenken ablenken.

Mein Herz macht das nicht mehr lange mit. Es springt mir fast aus der Brust, so schnell schlägt es – Cardiophobie.

Ich muss handeln, schließe die Augen, versuche, meine Gedanken zu bündeln und nicht in Panik zu geraten, bevor ich meine Baumwollhandschuhe mit den Topflappen und die OP-Plastikschutzschlappen – unter denen ich ebenfalls Baumwollsocken trage, um mich vor den, sich im Plastik befindlichen, Weichmachern, die jederzeit meine Hautbarriere durchdringen könnten, zu schützen – fester über Hände und Füße ziehe.

Das Klatschen meiner in Polymeren gebetteten Fußsohlen, die auf den eiskalten Fliesenboden auftreffen, als ich langsam vom Fensterbrett geglitten bin, reicht schon aus, um mein Vorhaben zu gefährden, denn ich bilde mir schlagartig das Klappern der Holzfüßchen des Püppchens auf der Bühne ein.

Der Gedanke daran, im Dunkeln durchs Haus zu streifen, lässt mich zudem beinahe kneifen, doch der Wunsch nach diesem kurzen Moment der Glückseligkeit, die mir der Inhalator bescheren könnte, und die zum Greifen nahe ist, ist stärker.

Außerdem habe ich Angst, in meinem Zimmer zu erfrieren, wenn ich mich nicht bewege. Hhhhhhh.

Die Vorstellung, für diese – in den Augen anderer erscheinenden – Banalität meinen Bruder zu wecken, dessen Zimmer sich gleich neben dem meinem befindet, hilft auch, beherzt einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Das ist die Gelegenheit, ihm mal eine seiner reichlichen Gemeinheiten heimzuzahlen, mit denen er mich seit Jahren tyrannisiert. Er scheint nämlich Gefallen daran gefunden zu haben, mich in jeglicher Form zu erschrecken und mir dazu einen Streich nach dem anderen zu spielen. So als wär jeden Tag der erste April oder Halloween.

Erschreckender Gedanke.

Das wär ja unter Geschwistern nichts Ungewöhnliches. Unter normalen Geschwistern, versteht sich. In diese Kategorie fallen wir allerdings nicht.

Darüber hinaus ist mir vollkommen klar, dass ich für ihn ein leichtes Opfer darstelle, das auch ohne sein Zutun ständig überreagiert und – laut Mums Lieblingsspruch, den sie in meinem Zusammenhang des Öfteren strapaziert – „Die kleinste Mücke zum Elefanten“ macht.

Das ist ja das Bizarre an meiner Situation. Mir ist vollkommen klar, was mit mir passiert – dennoch bin ich total außer Stande, etwas daran zu ändern.

Und er nutzt das schamlos aus.

Sagen wir mal so, die Bruder-des-Jahres-Trophäe kann er sich – wie auch in den letzten fünfzehn Jahren davor – abschminken.

Ich habe mich – überraschenderweise – mittlerweile damit abgefunden. Was nervt, ist nur, dass er damit immer ungestraft davonkommt.

Immer. Ohne Ausnahme.

Bis heute.

Heute zahl ich es ihm heim. Der Gedanke ist wie ein Tau aus gesponnener Angst, an dem ich mich weiter entlangziehe.

An meiner Zimmertür angelangt, nehme ich noch einen letzten, tiefen Atemzug, bevor ich die Luft anhalte, durch das Plastik des Seuchenschutzes schlüpfe, die durch eine Schutzhülle umschlossene Türklinke ergreife und diesen klinisch reinen Raum verlasse.

Bedauerlicherweise übermannt mich die Angst zu ersticken – Pnigophobie – und ich muss diese stickig, stinkende Atmosphäre tief in meine Lunge einsaugen, die mich vor meiner Tür einnimmt.

Mir wird klar, dass ich noch nie zuvor hier draußen war, ohne vorher einen betäubenden Zug von meinem Inhalator gemacht zu haben, daher fühlt sich das heute noch grausamer an als sonst.

Aber die Sucht ist stärker. Übrigens wieder ein Indikator, dass das Zeug abhängig macht.

Darauf bedacht, so große Schritte wie möglich zu machen, um so wenig wie möglich mit Milben im Teppichboden des Flurs in Kontakt zu kommen, hechte ich zum Nebenzimmer.

Unglaublich, dass Mum sich bis heute vehement weigert, diesen Nährboden des abgrundtief Bösen zu entfernen. Damit meine ich auch stellvertretend die hässliche Blümchentapete, die Vorhänge, die Trockengestecke, die Bilder an der Wand und die Lampenschirme.

Das war aber nur der Teil, bevor mich der nächste Angstschub dahinraffen konnte.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Okay, keine Aufzählungen mehr.

Das Türblatt des Zimmers meines Bruders, vor das ich mich gequält habe, ist vollständig mit Warnhinweisen beklebt. „Achtung Erstickungsgefahr“, „Bissiger Hund“, „Vorsicht Ultraviolette Strahlung“, „Quetschgefahr“ sind nur ein Auszug dessen, was das einst satte, bestimmt von Holzwürmern zerfressene Braun der Holztüre nun zukleistert.

Wieder ein „Scherz“ auf meine Kosten.

Und – wie jedes Mal – wenn ich im Vorbeigehen einen Blick darauf erhasche, frage ich mich, ob etwas davon wahr ist, schüttle aber im nächsten Moment energisch meinen Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich Angst, mir ein Schleudertrauma im Nacken geholt zu haben, aber mit den flüsterleisen, hinterlistigen Worten: „Na warte, Bruderherz“ ergreife ich beherzt die Türklinke.

Das Türblatt schwingt quietschend auf. Ein Mix aus männlichem Schweiß und verbrauchter Atemluft schlägt mir entgegen wie der Odem des Todes.

Bromidrosiphobie: Angst vor Körpergeruch.

Okay, das ist zu viel. Keuchend und mit eingezogenem, bis auf Anschlag gequetschtem Bauch versuche ich, alles loszuwerden, was da nicht reingehört, sprinte zurück in mein Zimmer und atme tief durch, so als wär ich ein Fisch, der kurz mal hochgesprungen ist, um den unwirklichen Lebensraum oberhalb der Wasseroberfläche zu betrachten, bevor er wieder zurück ins rettende Nass stürzt.

Ich sehe mich, wie ich von einem Boot ins offene Meer stürze und von Haien zerfleischt werde. Ichthyophobie: Angst vor Fischen.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

Keuchend rutsche ich die Fliesenwand meines Zimmers entlang und wippe stoisch vor und zurück. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst.

Ich will das nicht mehr. Will nicht mehr, dass der Puppenspieler die Fäden in Händen hat. Will endlich frei sein.

Und dazu brauche ich diesen verdammten Inhalator. In meinem Kopf plane ich den nächsten Versuch. Aber diesmal bin ich besser vorbereitet.

Ich tausche meine, von außen komplett blickdicht getönte, Skibrille, die ich zum Schutz vor direkter Sonneneinstrahlung, Laserpointer-Angriffen und anderen latent lauernden Gefahren, die mein Augenlicht für immer irreparabel schädigen könnten trage, gegen meine, ebenfalls mit getönter Folie zugeklebte, Taucherbrille mit Schnorchel. Auf den OP-Mundschutz kann ich aber nicht verzichten, den ich mir über das Mundstück ziehe.

Schnelligkeit ist die Devise. So komme ich nur minimal mit Keimen in Kontakt und erreiche doch das, was ich will: Ein Stückchen vorgegaukelte Normalität, auch wenn sie nur von kurzer Dauer ist. Dass mir dabei der Ärger meines Bruders sicher ist, macht das Ganze noch lukrativer.

Einfach nicht zu viel darüber nachdenken, sage ich mir, balle die Fäuste, fülle das Blasrohr bis auf Anschlag mit meiner gefilterten Luft, laufe, so schnell ich kann, aus dem Zimmer, erreiche die Tür meines Bruders, die glücklicherweise schon offensteht, hebe den OP-Mundschutz von meiner Haut ab, nehme das Mundstück heraus und presse mit meinem letzten Atem seinen Namen „Charly“ hervor, bevor ich mir den Schnorchel wieder in den Mund ramme, ohne dabei die Türschwelle zu passieren. Immerhin habe ich noch nie zuvor sein Zimmer betreten. Wer weiß, was tatsächlich darin auf mich lauert.

Stille.

Die Möglichkeit, dass er so fest schläft, sodass er mich nicht mal rufen hört, hatte ich nicht vorhergesehen, als ich den Plan schmiedete.

Kunststück, es ist kurz nach drei Uhr morgens und deine Stimme glich eher einem Mäusepiepsen als dem Gebrüll eines Löwen“, gluckst der Puppenspieler gehässig.

Nun stehe ich im Halbdunkeln in der Tür meines Bruders und röchle, da ich so geringe Dosen wie möglich von meinem Schnorchel verbrauchen will und dabei angestrengt lausche, ob ich noch ein anderes Mäusepiepsen vernehme als das meine.

Reinzugehen ist keine Option – ich könnte stolpern oder in Krümel treten. Der Gedanke an potenziell allergieauslösende Nussreste, die die Barriere meiner Plastikschlappen überwinden (Aichmophobie: Angst vor spitzen Gegenständen), lässt mich beinahe auf dem Absatz kehrt machen, aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Zu groß ist die Versuchung, ihm seine Gemeinheiten endlich heimzuzahlen – und natürlich die Angst, die meine Glieder bereits wieder versteifen ließ.

Heute ist aber der Tag der Abrechnung, also kneif die Arschbacken zusammen, sage ich mir immerzu.

Meine Knie schlottern. Meist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Zeit bald gekommen ist, sich in Fötusstellung in die Badewanne des bis in den letzten Winkel desinfizierten Nassbereiches meines, an mein Zimmer angrenzenden, Badezimmers zu flüchten, aber dennoch stehe ich still. Das ist sowieso mein nächstes Ziel, wenn das hier vorbei ist, denn ich hab schließlich Außenwelt geschnuppert, die überall an mir haftengeblieben ist.

Für mich ist das Verlassen meines Zimmers so, als hätt ich eine Expedition in den Dschungel hinter mir. Ich sehe mich im schweißgetränkten Khakikostüm stehen, wie ich gegen eine fleischfressende Pflanze ankämpfe, die mich zu verschlingen droht.

Bathonophobie: Angst vor Grünzeugs. Phagophobie: Angst, gegessen zu werden.

Adrenalinausschüttung – Pulsrasen – Schnappatmung – Pupillenerweiterung – Schweißausbruch.

HÖR JETZT ENDLICH AUF ZU DENKEN!“, kam jetzt deutlich lauter über meine Lippen, was, bedingt durch das Mundstück meines Schnorchels, durch den ich – auch wenn ich weiß, dass das nichts bringt – wieder normal atme, da meine mitgebrachte Atemluft längst aufgebraucht ist, eher als unverständliches Gebrabbel herausgetreten ist.

Stille.

Das große, unförmige Knäuel unter seiner Bettdecke, unter der ich meinen Bruder vermute, rührt sich kein Stück vom Fleck.

Sag mal, wie tief kann man eigentlich schlafen?

So tief, wies eben geht, wenn man nicht bei jedem Mäusefurz hochschreckt, wie du es tust‘, beantwortet der Puppenspieler meine Frage.

Am Lichtschalter könnte ich mir einen Stromschlag holen – Electrophobie – also fällt das schon mal flach.

Mum wecken auch.

Das Schlafzimmer meiner Eltern befindet sich in der darüber liegenden Etage. Und die ist mit der Treppe verbunden. Die Treppe geht schon mal gar nicht.

Climacophobie: Angst, hinunterzufallen.

Die Treppe ist so böse wie der Lichtschalter.

Darum habe ich in meinem Zimmer diese Schalter, die auf Klatschlaute reagieren. Das hat auch am Anfang Überwindung gekostet, immerhin könnte ich mir dabei die Finger brechen. Glücklicherweise ist das Teil relativ sensibel eingestellt und reagiert auch bei topflappengepolsterten Händen.

Die ich übrigens beim Tausch der Skibrille in meinem Zimmer vergessen habe. Ich will schon umdrehen und mich in mein Reich retten, da wird mir klar, dass mein Bruder wieder gewonnen hat, wenn ich jetzt zurückweiche.

Diese günstigen Umstände darf ich einfach nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wer weiß, wann sich wieder so eine Chance ergibt, ihn so richtig schön um kurz nach drei Uhr morgens aus den Federn zu hauen.

Möglicherweise nie mehr wieder.

In meinem Inneren baut sich dieses Gefühl auf: Schadenfreude. Und es fühlt sich gut an.

Der bloße Gedanke daran ihn zu ärgern, ist stark genug, um über die Schwelle zu treten und mich im Licht der Rinnsale seines deutlich kleineren Fensters nach Stolperfallen umzusehen. Ich entdecke einige potenziell gefährliche, nicht definierbare Häufchen auf seinem Teppichboden, die ich als achtlos weggeworfene Kleidung identifiziere. Mir vorzustellen, es könnten vergammelte, mit Schimmelpilz befallene Lebensmittel sein, würde mir jetzt den Rest geben.

Darauf bedacht, jedem Objekt auszuweichen, stakse ich wie ein Storch im kniehohen Wasser durch das Minenfeld und bewege mich immer weiter auf sein Bett zu.

Schon beinahe erleichtert, dass dieser Spießrutenlauf endlich ein Ende hat, touchiere ich mit meinem Fuß etwas Hartes. Beim folgenden Ausweichmanöver trete ich direkt auf etwas Weiches, das sich wie ein mit Wasser gefüllter, kleiner Eisbeutel anfühlt. Als ein leises „Plopp“ gefolgt von einem „Platsch“ das Platzen des Dings einläutet und sich auf der Außenseite meiner Plastikschlappen eine charakteristische Nässe abzeichnet, gehen alle Pferde gleichzeitig mit mir durch.

Hygrophobie: Angst vor Feuchtigkeit.

Ab jetzt geht alles ganz schnell: Nach dem ersten, von Angst genährt-geschnorchelten Aufschrei, versuche ich, alles abzuschütteln, was meine vollkommen desinfizierte Oberfläche zerstören könnte, bevor ich keuchend auf das Bett meines Bruders hechte, um dieses große, unförmige Knäuel unter seiner Bettdecke zu umklammern, als wärs eine Boje, die auf dem Ozean treibt.

Da erfasst mich die Meeresobsession wieder, die in die Erkenntnis, dass ich mich gerade, zusammen mit meinem Bruder, in seinem versifften Bett befinde, übergeht und mich wie einen Fisch, den man in einen Korb abgelegt hat, bevor man ihm mit einen Knüppel eins über die Rübe zieht, zappeln lässt.

Was ich sogar herbeisehne, damit dieses Martyrium endlich ein Ende hat.

Sofort kehrt Leben in die Decke ein, was mich – obwohl es ja mehr als vorhersehbar war – so erschreckt, dass es mir erneut Laute des Horrors entreißt.

Als hätte ich nicht schon längst alles, was für einen ausgewachsenen Nervenzusammenbruch vonnöten wäre, zusammengekratzt, ertaste ich ein nacktes Etwas, das erstaunlich viel schwabbelige Masse besitzt. Proteinphobie: Angst vor proteinreicher Nahrung.

Igitt, ich kotz gleich. Wenn ichs nicht besser wüsste, würde ich sagen, mein sonst so durchtrainierter Bruder hätte zugenommen.

Moment mal.

Ein verschlafenes „Hast du denn immer noch nicht genug, du Tier?“, das eindeutig von einer weiblichen Stimme stammt, lässt mich abrupt zu einem dieser gefrorenen Eiswürfel im Säckchen erstarren.

Genau in dem Moment geht das Licht an.

Als mir klar wird, dass es nicht die Speckpölsterchen meines Bruders sind, die ich da in beiden baumwollbehandschuhten Händen halte, sondern nackte, weibliche Brüste, ziehe ich so schnell die Flossen weg, als hätt ich mich geradewegs daran verbrannt.

Pyrophobie: Angst vor Feuer.

Ich sehe mich einer nackten, strohblonden Frau mittleren Alters mit stark erweiterten Pupillen gegenüber, der gerade alle Gesichtszüge auf einmal entgleisen.

Und das Schlimmste ist: Ich habs angefasst.

Ein ohrenbetäubender Schrei entgleitet uns synchron. Okay, bei mir wars ein Schockschnorchelbrüller.

Daraufhin folgt eine Schrecksekunde, in der sie meinen Mini-Desinfektionsspender für unterwegs, der an ungewachster Zahnseide um meinen Hals baumelt, mustert, während ich entsetzt auf ihr volles Dekolleté starre, auf dem sie unübersehbar die Worte „PRINCESS“ in ihre Haut gestochen trägt.

Belonophobie: Angst vor Nadeln.

Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich meinen, nur in Boxershorts bekleideten, Bruder an der Tür stehen – die eine Hand am Lichtschalter – in der anderen ein Glas mit bräunlich schwarz gefüllter Flüssigkeit – vermutlich Cola – in der klackernd-knisternde Eiswürfel schwimmen, haltend.

Mein Gehirn stellt die nötigen Verbindungen her.

Ihres auch.

Mit männlichem Schweiß getränkte Luft – Kleidung überall – nackte, ältere Frau im Bett meines Bruders – kein wassergefüllter Eiswürfelbeutel, sondern ein kleiner, mit Körperflüssigkeit gefüllter, geplatzter Luftballon auf dem Boden.

Auf ein stilles Zeichen hin, kreischen wir uns dann im Duett die Seele aus dem Leib. Sie aber wohl aus anderen Gründen als ich.

Während ich hauchzart den Rand des Wahnsinns touchiere, wird mir klar, dass mein Anblick nicht gerade für mich spricht. Die Taucherbrille mit Schnorchel zusammen mit meinem Mundschutz, den Baumwollhandschuhen, den Plastikschlappen und der, an einer Kordel, bis auf Anschlag zusammengezogenen Kapuze meines auskochbaren, ebenfalls hypoallergenen, ökologisch abbaubaren Ganzkörperstrampelanzuges muss für sie ziemlich verstörend wirken. Für alle anderen in dem Haus grenzt mein sonderbarer Aufzug ja an Normalität.

Auf jeden Fall hab ich noch nie einen Menschen so schnell aus einem Bett hüpfen und sich zur Tür neben meinen Bruder retten gesehen.

Was ist das?“, will sie total aufgebracht wissen, während sie recht erfolglos versucht, ihre Blöße zu verbergen. Dabei sieht sie immer mal wieder zur Tür, wahrscheinlich um sich den Fluchtweg bis zuletzt offenzuhalten. Auch, ohne dass sie in meine Richtung gezeigt hätte, wär klar gewesen, wen sie mit der Bezeichnung „Was“ meint.

„Püppchen“, schnorchle ich und hebe die Hand zum Gruß, bevor mein Bruder die Distanz zu mir überwinden, nach mir schnappen, mich aus seinem Bett ziehen und mir den Mundschutz zuhalten konnte – was er bestimmt gleich wahrmachen wird. Gleich nachdem er aus der Starre erwacht, die ihn wie angewurzelt neben der Frau stehen lässt, die er scheinbar irgendwo aufgerissen und mit nach Hause genommen hat.

Schon bei der blanken Vorstellung, er könnte meine schlimmste Befürchtung wahrmachen, geht mir der Kackstift gewaltig auf Grundeis.

Jede Intervention wär aber sowieso schon zu spät gewesen, da meine Eltern in dem Moment durch die Tür stürmen, in dem ich die Panikattacke nicht mehr abwenden kann, was üblicherweise in einem absoluten Kontrollverlust endet, der mich schreiend und um mich schlagend durchdrehen lässt.

Was gerade passiert. Auf dem Bett meines Bruders.

Zu meiner Verteidigung: Immerhin bricht gerade das gesamte Chaos, das sich Welt nennt, ungefiltert über mich herein.

Aber in den paar kläglich gesäten, lichten Momenten spüre ich, dass ich da dieses neue Gefühl in mir entdeckt habe, das ich bis jetzt noch nicht kannte: Jemand hat Angst vor mir.

Vor MIR!

Dem Angsthäschen, dem Feigling, dem Schisser, dem Hasenfuß, dem Duckmäuschen!

Was mich weit mehr wundert, bevor ich mich in Grund und Boden schämen kann, meine Kehle sich zuschnürt und mich der ultimative Angstschub in die Knie zwingt, denn Beinahe-Anfassen durch meinen Bruder geht schon mal gar nicht (Beinahe-Anfassen ist böse):

Ich habe endlich etwas gefunden, das mir keine Angst macht: Ich habe keine Angst, wenn jemand anderes Angst vor mir hat.

Ferner noch – ich finde Gefallen daran.

Finde Gefallen daran, jemandem Angst zu machen.


Schneekugelsturm: Band 1

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