Читать книгу Schneekugelsturm: Band 1 - Marie Lu Pera - Страница 5

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Mein Blick ist auf die Schublade gerichtet. Das letzte bisschen Wirkung des bereits länger zurückliegenden Zuges aus dem Inhalator hat mich die Treppe nach unten in die Küche überwinden lassen.

Jetzt ist es fast vier Uhr dreißig morgens.

Ich muss wissen, ob meine Mum die Phobien in der richtigen Reihenfolge auf die Liste gesetzt hat. Diese Liste muss mit meinen Fliesen exakt übereinstimmen. Die Angst vor einer Abweichung und dem daraus entstehenden Durcheinander frisst mich fast auf und hat mich bis jetzt wachgehalten.

Bevor ich das nicht nachkontrolliert habe, ist an keinen Schlaf zu denken. Nun bin ich hin- und hergerissen. Decidophobie: Angst, Entscheidungen zu treffen.

Ich bin ein Kontrollfreak und der Zweck heiligt die Mittel, daher habe ich die sterilen Topflappen wieder über meine Baumwollhandschuhe gezogen und fasse damit nach dem weißen Knopf der Schublade, die ich daran aufziehe und das Büchlein mit einer OP-Zange, die mir Dad aus dem Krankenhaus organisiert hat, rausangle.

Mit einer OP-Pinzette schlage ich den Einband auf. Die ersten Seiten sind voll mit Phobien, doch je weiter ich nach hinten blättere, desto stärker verändert sich das Schriftbild meiner Mum. Waren die anfänglichen Worte noch fein säuberlich eingetragen, werden die Buchstaben auf den hinteren Seiten immer schlampiger und krakeliger, bis die Worte in lieblos hin gekritzelte, wellenförmige Hieroglyphen übergehen.

Die Erkenntnis lässt mich weiche Knie bekommen: Sie hat irgendwann aufgehört mitzuprotokollieren und nur noch angedeutet, meine Ängste in das Büchlein zu übernehmen. Die letzten Phobien muss sie vor Jahren korrekt eingetragen haben.

Der Geschmack von bitterer Enttäuschung legt sich wie ein Pelz über meine Zunge und Tränen fluten sogleich meine Augen.

Bevor ich länger darüber nachdenken kann, in welches Gefühlschaos mich das stürzen wird, vernehme ich Schritte.

Vor Schreck zucke ich sogar zusammen.

Wenn sie mich hier beim Rumschnüffeln finden, gibt es gewaltigen Ärger. Meine Mum würde wissen, dass ich ihr nicht vertraue – obwohl meine Zweifel ja begründet waren.

Schnell bugsiere ich das Büchlein zurück in die Schublade, die ich langsam zuschiebe, bevor ich aus der Tür hasten will, wo mir klar wird, dass eine Flucht schon zu spät ist.

Ich sehe mich hinter der Kücheninsel nach Versteckmöglichkeiten um.

Fehlanzeige.

Meine Eltern werden gleich durch diese Tür kommen. Oder zumindest Teile davon.

In meiner letzten Verzweiflung hocke ich mich hin und drücke mich an das Weinregal, versuche zu verdrängen wie viele Spinnen in der dunklen Ecke nisten (Arachnophobie) und ziehe dieses rollladenartige Teil runter, das die Flaschen normalerweise verbergen soll. Klaustrophobie: Angst vor engen Räumen. Methyphobie: Angst vor Alkohol.

Ich glaube, zum ersten Mal in meinem Leben ist mir mein relativ kleiner Wuchs und mein schmächtiges Gerippe nicht zum Nachteil.

Sagen wir mal so, Dad ist viel größer wie Mum, obwohl sie – für eine Frau – recht groß gewachsen ist. Dennoch bin ich um einiges kleiner als Mum.

Man stelle sich vor, wie ich im direkten Vergleich zu meinem Dad oder meinem Bruder wirke, der – wie kann es auch anders sein – an unseren Dad heranreicht.

Ich passe nicht mal rein optisch in diese Familie.

Durch die klitzekleinen Schlitze, in die das Küchenlicht hereindringt, erkenne ich die Beine meiner Mum, die im nächsten Moment auftauchen und direkt vor der gegenüberliegenden Spüle stoppen. Bin ich froh, dass sie es ist und nicht mein Dad, denn mit ihren Kräften hat sie hoffentlich auch ihren magischen Spürsinn eingebüßt, der mich in meinem Versteck entdecken könnte.

Sofern das überhaupt möglich ist.

Ich weiß nichts übers Zaubern. Zaubern geht gar nicht. Zaubern ist böse.

Charakteristische Spülgeräusche bestätigen dann meinen ersten Verdacht: Sie macht den Abwasch.

Per Hand.

Sie kann nicht ganz bei Trost sein. Wir haben eine Spülmaschine. Ganz sicher. Weiß sie denn nicht, wie viele Pilzsporen da zurückbleiben können?

Glücklicherweise bekomme ich nur original abgepackte Astronautennahrung. Alles andere wird meinen strengen Qualitätskriterien nicht gerecht.

Cibophobie: Angst vor Nahrung.

Bei Astronauten habe ich absolute Gewissheit. Niemand würde wollen, dass sie im All Durchfallbeschwerden bekommen.

Oh, oh, du spülst“, ertönt die Stimme meines Dads. Ich halte sogar den Atem an, damit er mich nicht mit seinen Superkräften orten kann.

Jämmerlich, ich weiß.

Natürlich rechne ich jederzeit damit, dass er stutzig wird und mich zwischen den Weinflaschen hervor angelt. Ich kneife sogar die Augen zu, obwohl das natürlich absolut nichts bringt.

Zu meiner Überraschung tut sich nichts dergleichen.

Die Beine meines Dads tauchen hinter meiner Mum auf, als ich die Augen wieder öffne. Er scheint sie in den Arm zu nehmen.

„Ist es wegen Mary?“, mutmaßt er. Jetzt reden sie bereits hinter meinem Rücken über mich. Bin mal gespannt, was das ist.

„Ich bin mit diesem Kind vollkommen überfordert“, gibt sie zu.

Ich mit meiner Mum auch.

Hey, erste Gemeinsamkeit entdeckt.

„Gibt es denn irgendetwas, nur irgendetwas, das ihr nicht Angst macht? Das wäre zumindest ein Anfang.“ Bis vor dieser Nacht hätte ich das noch mit einem klaren ‚Möglicherweise‘ beantwortet, aber heute weiß ich es genau. Es gibt etwas, das mir keine Angst macht: Anderen Angst zu machen.

„Sie ist ein bisschen …“, mein Dad macht eine Pause, scheint nach den richtigen Worten zu suchen, „… speziell, aber du bist eine gute Mutter.“ Na ja, das üben wir aber noch. „Gut, von deinen Launen könnten manchmal drei Teenager zwölf Jahre lang pubertieren, aber lass dich nicht entmutigen.“

Meine Mum schnaubt laut auf. „Deinen Optimismus möchte ich haben. Der Inhalator wirkt auch nicht mehr so effizient wie früher. Immerhin sind die Inhaltsstoffe nur für den Gebrauch an Affen zugelassen.“ Affen? Na toll. Wusst ichs doch. „Haben wir denn wirklich schon alles andere versucht?“

„Etwas gäbs da noch“, flüstert Dad geheimniskrämerisch.

„Was?“

„Wir könnten sie mit Ritalin vollpumpen, die Super Nanny einschalten und sie zu Tode pädagogisieren lassen.“

„Das ist ein ernsthaftes Gespräch, Fynn.“ Scheint so, als würde sie Dad auch nicht richtig kennen. Denn dann würde sie wissen, dass man mit ihm kein ernsthaftes Gespräch führen kann. „Könntest du nicht doch noch mal versuchen, deine Kräfte einzusetzen.“

„Hab ich schon versucht. Zwecklos“, erklärt mein Dad. Was? Er hat versucht, mich zu verzaubern?

Das fühlt sich wie Verrat an.

Ist er deshalb nicht imstande, mich aufzuspüren? Weil er mich nicht nach seinen Vorstellungen umhexen kann?

Warte. Wie kann er dann spüren, wenn ich in Gefahr bin, wenn er nicht mal rafft, dass ich hinter ihnen im Weinregal kauere und sie belausche?

Toller Versuch übrigens, mich mit diesem Humbug zu „beruhigen“. Stattdessen lügt er mir ins Gesicht.

„Wann hast du es zuletzt versucht?“, will Mum wissen.

„Vor ein paar Jahren, als sie schlief“, antwortet Dad.

Wunderbar! Jetzt lauern sie mir schon im Schlaf auf. Sofort habe ich das Bild von Dad und Charly im Kopf – der bestimmt ihr Verbündeter ist – wie sie im Dunkeln an meinem Bett kauern und mir den Teufel austreiben wollen.

Das katapultiert mich beinahe in einen Strudel der Angst, doch meine Neugierde ist größer und lässt mich auf das Gespräch meiner Eltern fokussieren.

„Ich spreche nochmal mit Junus. Vielleicht zieht er ein stärkeres Narkotikum an Land.“ Es handelt sich also um ein Narkosemittel. Mit so etwas ist doch nicht zu spaßen. Es könnte irreparablen Schaden an mir verursachen.

Das Risiko gehen sie also ein, um mich ruhigzustellen.

Das wird ja immer besser.

Und Onkel Junus steckt mit ihnen unter einer Decke. Eigentlich ist er nicht mein richtiger Onkel. Eher der beste Freund meines Dads. Von ihm sind auch die Inhalatoren.

Ich bin ihm nie begegnet. Er ist ein Fremder.

Fremde gehen gar nicht. Fremde sind böse. Verwandte auch – Syngenesophobie. Die Angst kennt auch jeder, möchte ich wetten.

„Und was ist mit ihren Kräften?“, will Mum wissen.

„Was soll damit sein? Die schwarzen Hexenkräfte bekommt sie bei ihrer Taufe.“

„Und die anderen?“, flüstert Mum verschwörerisch.

Sie meint die weißen Kräfte. Dad ist nämlich ein weißer Hexer. Mum trägt – welch Überraschung – schwarze Magie in sich.

Ich weiß, dass es schwarze und weiße Magie gibt. Es gab eine Zeit, da herrschte Krieg zwischen den Hexen unterschiedlicher Magiefarbe, aber dieses dunkle Zeitalter ist glücklicherweise Geschichte. Es ist jetzt sozusagen gesellschaftlich anerkannt, wenn schwarze und weiße Hexen zusammen sind.

„Die sind versteckt. An einem absolut sicheren Ort. Ich verwahre sie noch …“, entgegnet Dad ebenfalls mit gedämpfter Stimme. „… und zwar solange … sie noch nicht bereit dafür ist.“ Heißt dann wohl ich krieg sie nie. „Das wäre sowieso ein bisschen viel auf einmal, beide Kraftarten in ihr zu entfesseln. Bei Charly war das bedeutend leichter, den richtigen Zeitpunkt zu finden, als er bereit dazu war“, entgegnet Dad. Das muntert mich ja total auf.

Warte. Was heißt hier den richtigen Zeitpunkt finden? Erst mit sechzehn können doch bei Hexen die Kräfte geweckt werden. Ich kann mich an den sechzehnten Geburtstag meines Bruders gar nicht mehr erinnern. Wir feiern keine Geburtstage, weil sie mich zu sehr aufwühlen würden. Geburtstage sind böse.

Allein dieser Moment, wenn alle „Happy Birthday“ für dich singen und du das irgendwie erdulden musst, würde mich in eine Krise stürzen.

Bei genauerer Überlegung hab ich Charlys Hexentaufe gar nicht mitbekommen. Das haben sie wohl im Verborgenen über die Bühne gebracht, worüber ich ganz froh bin.

„Wie alt war Charly nochmal?“, will Mum wissen. Das würd mich aber auch brennend interessieren.

Die Zahl „Zehn“ aus dem Munde meines Dads zu hören, reißt mir den Kinnladen erbarmungslos runter. Heißt das im Klartext, es bestünde die Möglichkeit, die Kräfte schon vor dem sechzehnten Geburtstag zu wecken?

Ich glaub das einfach nicht. Also hätten sie es jederzeit in der Hand gehabt, mich von meinem Leid zu erlösen – vorausgesetzt die Kräfte wirken so, wie sie sich das erhoffen, wovon ich noch nicht überzeugt bin – und warten vorsätzlich die gesamte Zeitspanne ab. Ferner noch, überlegen sogar, ob sie mir die weißen Kräfte vorenthalten.

Und mein Bruder kriegt sie mit zehn. Mit zehn!

In diesem Haus läuft so einiges gewaltig schief.

„Bei Mary bin ich schon froh, wenn sie mir nicht die Zahnbürsten aus der Einkaufstüte klaut, um sie zu ruinieren, bevor ich sie überhaupt aus der Packung nehmen konnte“, fährt Mum fort. Hey, die Dinger sind einfach nicht für das Bad in unserem Wasserkocher konzipiert. Aber nur so wird alles im Keim erstickt, was noch produktionsbedingt daran abgelagert war. Das ist mein Beitrag zu ihrer Gesundheit.

Das würde sie wissen, hätte sie meine Hygienerichtlinien gelesen, die überall im Haus aufliegen. Gut, es sind dreihundert Seiten geworden, aber das ist kein Grund, sich nicht mit dem allgegenwärtigen Thema zu befassen.

Hätten sie – wie ich – eine Holzzahnbürste, die einem täglichen Austausch unterliegt, wär das alles kein Problem.

War klar, dass sie das schon wieder in den falschen Hals kriegt.

„Vielleicht setzen wir die Maßstäbe zu hoch an“, argumentiert Dad. Na, vielen Dank aber auch. „Sie ist ein Individuum und entwickelt sich einfach in kleineren Schritten.“ Da fühl ich mich doch gleich viel besser.

„Aber wir haben nicht alle Zeit der Welt, Fynn.“ Sie hat mich also schon entwicklungstechnisch abgeschrieben.

„Das habe ich auch nicht gesagt. Ich meine nur, dass wir nichts erzwingen sollten.“ Seh ich genauso.

„Siehst du, da bin ich absolut anderer Meinung. Hast du schon mal daran gedacht, dass wir zu nachsichtig mit ihr sind und sie deshalb keine Fortschritte macht?“, wirft Mum ein.

„Natürlich“, gesteht sich Dad ein. Was? Ich dachte, Dad wär auf meiner Seite. „Ich denke an nichts anderes, jetzt, wo ihr sechzehnter Geburtstag naht. Aber wir sollten nicht überstürzt handeln. Immerhin wissen wir nicht, was die Kräfte in ihr auslösen.“

„Glaubst du, sie wird so wie Charly?“ Jetzt vergleicht sie mich schon wieder mit ihm. Hat sie nicht zugehört, was Dad gesagt hat.

Ich bin ein Individuum.

„Meine Erfahrung sagt mir, dass das nicht der Fall sein wird.“ Oh, nun auch vom zweiten Elternteil abgeschrieben.

Klar, dass sie den Maßstab an meinem Bruder ansetzt.

Zum Kotzen ist das.

„Das ist wie bei einer Raupe. Da weiß man vorher auch nicht, welche Farbe der Schmetterling bekommt, wenn er sich entpuppt“, zieht Dad den Vergleich. Oh, wie geistreich.

„Hast du schon mal in Erwägung gezogen, ihr die anderen Kräfte zu verwehren?“ Gute Idee.

Mein Dad braucht deutlich länger, um diese Frage zu beantworten: „Das wäre nicht richtig.“

„Aber du hast es in der Hand, also solltest du dir wirklich sicher sein, welchen Schmetterling zu da weckst.“ Also entscheidet Dad allein, wann ich die weißen Kräfte bekomme.

Gut zu wissen. Und ich bearbeite immer nur Mum. Wer rechnet denn bitteschön damit, dass Dad in ihrer Beziehung auch mal was zu melden hat?

Dads „Es liegt allein an Mary. Wenn ich das Gefühl habe, sie ist den Kräften gewachsen, wird sie sie bekommen. Bis dahin werden wir sehen“ klang etwas unbehaglich.

„Bin ich wirklich zu streng?“, hinterfragt Mum ihr Verhalten mir gegenüber.

SIR, NEIN, SIR!“, brüllt Dad wie beim Militär und jagt mir den Schrecken meines Lebens ein.

Scheinbar hängen beide ihren Gedanken nach oder – was viel schlimmer wär – machen rum, denn mein Dad hat meine Mum zu sich umgedreht.

„Raven?“, flüstert mein Dad nach ein paar Minuten, die durch charakteristische Schmatzlaute, die mich würgen lassen, untermalt waren. Philemaphobie: Angst vor Austausch von Körperflüssigkeiten.

„Hm“, brummt meine Mum.

„Lass uns noch ein Baby machen.“

Was?“, nimmt sie mir die unausgesprochenen Worte mit derselben Intensität aus dem Mund.

Ihr „NEIN“ kam mehr als energisch rüber.

Da sind wir zur Abwechslung mal einer Meinung.

„Wieso nicht? Das Haus wär viel lebendiger mit Füßchengetrappel. Ich würd auch meinen Job an den Nagel hängen.“

„Ich bin viel zu alt, Fynn.“

„Das ist nicht der wahre Grund“, deckt er sie auf.

„Nein, ist es nicht. Weißt du, Mary ist … schwierig und verlangt mir als Mutter alles ab. Ich schaffe es nicht mehr, nochmal so ein Kind großzuziehen.“

„Schreikinder sind durchsetzungsstärker als andere, hab ich gelesen“, argumentiert Dad, bestimmt ganz zum Leidwesen meiner Mum. Ich war also ein Schreikind. Ist mir neu – war aber zu erwarten. „Gut, die Hausgeburt war ein absolutes Desaster.“ Sie hat mich zuhause auf die Welt gebracht? Ich fass es nicht.

Erinnere mich daran, dass ich mit keinem Möbelstück mehr in Berührung komme. Und auch nicht mit dem Boden. „Gut, immer wenn du sie stillen wolltest, hat sie nach Leibeskräften geschrien und dich weggestoßen.“ In der Muttermilch reichern sich auch Pestizide an. Das weiß doch jeder. Da sieht man mal wieder, welch visionärer Geist ich war – und das bereits im Windelalter. „Gut, in den ersten zwei Jahren hat sie uns nie direkt in die Augen gesehen. Dann hat sie begonnen, sich mit allem zu bedecken, was sie in die Finger bekommen hat. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, ob sie uns heute in die Augen sehen kann, wenn sie mit uns spricht.“ Tu ich. Aber nur kurz. Ist ja kaum auszuhalten, so viel Nähe.

„Ich bin müde, Fynn. Außerdem läuft die Tanzschule gerade wirklich gut.“ Gott sei Dank. Ihr Kinderwunsch ist durch mich verflogen.

Und toll, dass von Charly wiedermal keine Rede ist.

„Aber es muss doch nicht sein, dass das nächste … besondere Bedürfnisse hat.“ Na, vielen Dank aber auch.

„Ich habe das Kapitel abgeschlossen.“ Das ist wohl Mums letztes Wort in dieser Sache. Das weiß Dad auch, darum sagt er auch nichts mehr.

Das ist zur Abwechslung mal eine gute Entscheidung, denn noch einen Bazillenausscheider verträgt dieses Haus nicht.

„Fynn?“

„Ja, Raven.“

Das „Wann sagen wir ihr, wer du wirklich bist?“ meiner Mum, was nun deutlich leiser von ihren Lippen kam, lässt mein Herz stolpern.

Was soll das heißen? Was …

„Ich weiß es nicht. Vor heute Nacht hätte ich noch ‚mit ihrer Hexentaufe‘ geantwortet, aber jetzt habe ich Zweifel, ob sie das alles auf einmal verkraftet.“ Was denn verkraften? Ich dreh gleich durch.

„Sollen wir es ihr verschweigen?“, will meine Mum doch tatsächlich wissen. Sie kämpft deutlich mit ihren eigenen Worten.

Ich schlucke den Frosch runter, der mir im Hals steckt und spitze die Ohren, um nichts zu verpassen.

„Vorerst halte ich das für das Beste“, rät ihr mein Vater. Was?

„Aber für wie lange?“, haucht meine Mutter.

„Solange wir es für richtig halten.“

„Was, wenn sie es herausfindet?“, mutmaßt meine Mum.

„Niemand weiß davon.“ Niemand weiß wovon?

„Ich habe kein gutes Gefühl dabei, es ihr zu verschweigen. Es ist ein Teil ihrer Identität“, flüstert Mum. Was? „Was, wenn sie es bereits ahnt?“

„Sie ahnt nichts.“

„Und was machen wir mit Charly?“, wirft meine Mum ein. Was? Mein Bruder weiß davon?

„Charly ist nicht sehr gesprächig.“

Wie lange es her ist, dass meine Eltern den Raum verlassen haben und mich wie versteinert zurückgelassen haben, kann ich nicht sagen.

Ich vermag keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen, zwinge meine wie ferngesteuerten Glieder, sich in Bewegung zu setzen. Aber sie führen mich nicht zurück in mein Zimmer. Ich muss es mit eigenen Augen sehen.

Vor der Tür zur Waschküche zögere ich einen Moment, stoße sie aber dennoch beherzt auf. Die handelsübliche Waschmaschine von der Stange hat nichts mit dem hygienegeprüften Spezialgerät zu tun, mit dem eigentlich ausschließlich meine Wäsche behandelt werden sollte.

Im Wäschekorb, der auf dem Boden davor steht, lugt ein Ärmel eines meiner hypoallergenen Strampelanzüge heraus. Darüber türmen sich die verschwitzten Sportsachen meines Dads in direktem Kontakt.

Was sagt mir das? Sie wäscht meine Sachen mit den aller anderen, die unter diesem Dach leben. In dieser Bakterienschleuder.

Das handelsübliche Flüssigwaschmittel ist auch nicht das, was ich ihr aufgetragen habe. Bei näherer Betrachtung des Etiketts wird mir übel.

Tenside. Wasserenthärter. Bleichmittel. Enzyme. Optische Aufheller. Konservierungsstoffe. Ein Mix aus hoch allergieauslösenden und potenziell erbgutschädigenden, chemischen Inhaltsstoffen. Zumindest ist es parfümfrei. Wahrscheinlich auch nur, damit ich ihre Heimtücke nicht gleich durchschaue.

Bei mir hat schon Schnappatmung eingesetzt, da hab ich die benutzte Unterhose unbekanntem Ursprungs noch gar nicht in der Ecke liegen gesehen.

Mum hat sich nicht mal die Mühe gemacht, den Raum abzuschließen. Immerhin war es höchst unwahrscheinlich, dass ich ihn je betreten würde. Gilt der Besuchszwang doch nur für die Küche, die ich laut Mum – neben meinem Zimmer – zu regelmäßigen Zeiten betreten muss. Den Flur mit eingeschlossen, der ist unausweichlich. Die anderen Räume dieses Hauses meide ich seit Jahren.

Und dazu gehört auch dieser.

Wie von Sinnen sprinte ich zurück in mein Refugium, schnappe mir unter blinder Raserei den Holzstuhl, den ich auf meinem Bett platziere und unter Höllenängsten draufsteige, nur um die Luftauslässe meiner Lüftungsanlage kontrollieren zu können.

Gut, dass ich keine Matratze habe, sondern wie es die Natur seit Jahrmillionen vorgesehen hat, auf einem harten Untergrund schlafe.

Ich versuche, mich in Balance zu halten, obwohl meine Beine zittern, doch meine unermessliche Wut ist über jede, noch schwach betäubte Angst erhaben.

Ich halte inne, will den reinen Luftzug spüren, doch ich fühle ... nichts. Meine Hand krallt sich das Plastikteil und macht sich daran zu schaffen. Es löst sich ohne große Fremdeinwirkung und segelt auf den Boden.

Mir klappt die Kinnlade runter. Darunter befindet sich nichts. Rein gar nichts.

An der Decke prangt kein Loch, das ein Rohr führen würde, um auf dem Dach Luft anzusaugen, mehrere Filter zu durchlaufen und lupenrein aus den kleinen, runden Tellerventilen zu strömen.

Sie haben das nutzlose Plastikteil nur an der Decke direkt über meinem Bett angeklebt, um mich zu täuschen.

Das gleicht Hochverrat.

Ein Gefühl der Ohnmacht steigt in mir hoch und lässt meinen Körper bedrohlich wanken. Bevor ich mich abfangen kann, sackt das instabile Konstrukt, das mir in meinem Körper als Skelett dienen sollte, im Zeitlupentempo in sich zusammen und lässt mich zuerst mit dem Hintern auf der Stuhlkante landen, die mich wie ein Bulle aus dem Sattel wirft, bevor ich polternd auf allen Vieren auf dem harten Bett auftreffe, auf dem ich mich sofort bäuchlings fallenlasse.

Einige Sekunden liege ich einfach im Schock da und horche auf den Schmerz in mir, der wie eine rasch gespielte Sinfonie in Höhen und Tiefen durch meinen Körper rast.

Dann bleibt mein Blick an den Schatten der Rinnsale, des an meiner Scheibe zu Regen gewordenen Schnees, hängen.

Ich bin so unendlich wütend, dass ich mich – selbst auf den Verdacht auf innere Verletzungen und diversen Knorpelschäden hin – aufrapple, zum Fenster stürme und auf die Ausnehmung starre, wo einst der Griff befestigt war.

Ich stelle mir vor, wie meine Mum beim Frühstück, unter dem Vorwand die Zeitung zu holen, in mein Zimmer kommt – den Fenstergriff in der Tasche – um es hinter meinem Rücken zu öffnen und diesen Raum zu vergiften, der schon vorher durch meine ausgestoßene Atemluft verunreinigt war, die ich wieder und wieder durch meine Lungen gewälzt habe, bis der Kohlenmonoxidgehalt in der Luft lebensbedrohliche Ausmaße annehmen konnte.

Ich schließe die Augen – so unerträglich sind mir die Bilder in meinem Kopf. Im Hintergrund sehe ich den Puppenspieler, wie er sich den Bauch hält, so laut muss er über das dumme Püppchen lachen, das so leicht zu täuschen war.

Lügen. Alles Lügen.

Ein gewaltiger Angstschub ist im Anmarsch. Er baut sich in meinem Inneren auf und droht, mich in die Tiefe zu ziehen.

Voller Verzweiflung laufe ich rüber in mein Badezimmer, drehe den Wasserhahn der Badewanne bis auf Anschlag auf, reiße mir die Klamotten und die Gasmaske vom Leib und steige in das brennend heiße Wasser.

Ein gequälter Zischlaut entweicht mir, doch der Schmerz ist auszuhalten. Er ist nichts, verglichen mit dem Verrat, den meine Eltern an mir begangen haben.

Meine panisch gehetzten Atemzüge treten in viel zu schneller Frequenz heraus. Bevor mir mein Herz aus der Brust springen kann, tauche ich mit dem Kopf unter. Die plötzliche Stille ist beinahe gespenstisch.

Bis auf die Worte meiner Mum, die unaufhörlich in meinem Kopf nachhallen: ‚Wann sagen wir ihr, wer du wirklich bist?‘.

Eigentlich ist klar, was das zu bedeuten hat – auch ohne, dass sie es aussprechen. Mein Kopf hat es verstanden, aber mein Herz setzt sich dagegen zur Wehr, klammert sich an das letzte bisschen Hoffnung wie ein Floh, der an einem fliegenden Pusteblumensamen hängt: Mein Vater ist nicht mein leiblicher Vater und mein Bruder wusste es.

Die ganze Zeit über.

Und dann bricht alles aus mir heraus. Ich schreie aus Leibeskräften, bis ich in einem Meer von Blubberblasen zu versinken drohe.

Schneekugelsturm: Band 1

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