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Selbstdenken für Alle?

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Wie auch Spinoza, ist Bayle für seine Widersacher der Inbegriff anmaßenden Selbstdenkens, das die bestehende Ordnung gefährdet. Selbstdenken, das Leitmotiv der Aufklärungsphilosophie von René Descartes bis Immanuel Kant, ist dort, wo epistemische Autoritäten Gefolgschaft einfordern, ein subversiver Akt. Nicht erst das Ergebnis mündiger Denkarbeit – in Spinozas Fall ein dünner ›Vernunftglaube‹ – ist anstößig, sondern schon die bloße Entscheidung, sich selbst ein Urteil zu bilden. Selbstdenken ist niemals einfach nur ein kognitives Unterfangen, sondern wesentlich Selbstbehauptung (»Ich will das für mich klären«). Der Selbstdenker, schreibt Arthur Schopenhauer, gleicht einem Monarchen, der niemanden über sich anerkennt.10 Wo daher Personen, Gruppen oder Institutionen beanspruchen, Herrscher über wahres Wissen zu sein, wird der Selbstdenker zum Königsmörder.

Dort, wo Menschen mündig sein wollen, mit Kant gesprochen, wo sie sich trauen, sich ihres Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen, setzen sie epistemische Autoritäten unter Druck und untergraben ihre Macht. Es wäre zu kurz gegriffen, die Bedrohlichkeit des Selbstdenkens allein historisch zu kontextualisieren und damit in gewisser Weise dorthin zu verbannen, wo es uns nicht mehr beunruhigt. Wir verkennen nämlich das Gebot, mündig zu sein, wenn wir es nur als Gefahr für alte Ordnungen, überkommene Denkweisen und grotesken Aberglauben ansehen. Wenn Selbstdenken epistemische Autoritäten herausfordern kann, wäre es erst dann harmlos, wenn es niemanden gibt, der beansprucht, etwas eher zu wissen als andere, und sie daher anzuleiten berechtigt ist. Das ist aber in keiner Gesellschaft von Menschen der Fall, auch nicht in den offenen Gesellschaften innerhalb demokratischer Ordnungen. Denn auch sie »ordnen« ihre Diskurse, wie Michel Foucault ausführte, mit institutionell verankerten »Ausschließungssystemen« und unterhalten Instanzen zur »Gedankenkontrolle«, wie Noam Chomsky zeigte.

Für offene, demokratisch verfasste Gesellschaften stellt sich in besonderer Weise die Herausforderung, Selbstdenken mit Stabilitätsinteressen oder auch Idealen der Expertise in Einklang zu bringen. Das wussten auch die Aufklärer*innen. So hat Kant in seiner Schrift »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung« (1784) die Sorge, wenn alle mündig sein wollten, wäre dies das Ende allen Gehorsams, dadurch abzufedern versucht, dass er streng zwischen privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch unterschied. Ein Beamter mag als Staatsbürger öffentlich selbstdenken, so viel er will, in seiner Amtsfunktion aber »ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren; sondern man muss gehorchen«.11

Während der Wahlspruch der Aufklärung, das Sapere aude!, in erster Linie von Gelehrten eingefordert wurde, die unter Bedingungen der Zensur arbeiteten und um sich herum nur lähmende Unmündigkeit in meist monarchisch regierten Systemen erblickten, stehen gegenwärtige westliche Gesellschaften unter anderen Bedingungen – und vor anderen Herausforderungen. In demokratischen Gemeinwesen ist die Erlaubnis zum Selbstdenken grundsätzlich bzw. der Theorie nach universalisiert: Jeder darf sich selbst ein Urteil bilden, und zusammengenommen sind die Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens souverän. Zugleich sind die Möglichkeiten, selbst zu denken, dank der globalen Verbreitung und Zugänglichmachung von Informationen und Meinungen unermesslich gewachsen. Doch gerade die Komplexität der fortgeschrittenen Moderne überwältigt viele Menschen, selbst die »Gebildeten« unter ihnen.

Epistemische Autoritäten haben dadurch weiterhin eine entscheidende Orientierungsfunktion, allen voran die modernen Wissenschaften. Hervorgegangen aus der Kritik der Tradition bzw. der deduktiven Methode in der frühen Neuzeit, haben sie die Religion in westlichen Ländern als Wissens-Autoritäten weitgehend abgelöst. Wer heute etwas über den Kosmos erfahren möchte, schlägt nicht in der Bibel nach, sondern konsultiert Rutherford, Einstein oder Schrödinger. Auch ist nicht mehr das Buch Genesis die Quelle unseres Wissens von den Ursprüngen der Menschheit, sondern die Paläogenetik. Und wer die Annehmlichkeiten der modernen Medizin genießt, ist keinen Psalmen zu Dank verpflichtet, sondern Forschern wie Röntgen, Landsteiner oder Fleming.

Die Ersetzung einer epistemischen Autorität durch eine andere ändert jedoch grundsätzlich nichts am tendentiell subversiven Charakter des Selbstdenkens. Auch dann nicht, wenn dieses, wie im Fall der modernen Wissenschaften, den neuen epistemischen Autoritäten methodisch selbst eingeschrieben ist. Epistemische Autoritäten, seien sie religiös oder säkular, sind untrennbar verknüpft mit Idealen der Expertise, das heißt der Unterscheidung zwischen kompetenten und nicht-kompetenten Urteilen. Man frage sich nur selbst: Will man von einem eher kompetenten Zahnarzt behandelt werden oder von einem weniger kompetenten? Wenn Ersteres, dann wären epistemische Autoritäten, die diese Differenz garantieren, vor universalisiertem oder exzessivem Selbstdenken zu schützen. Das zumindest wird nahegelegt in Klagen über gesellschaftliche Tendenzen, wissenschaftliche Ergebnisse zu ignorieren und auf ›alternative Fakten‹ zurückzugreifen oder etablierten Medien das Vertrauen zu entziehen – weil man »kritisch« denkt. Manche sprechen angesichts scheinbar außer Kontrolle geratener Begierden, sich sein jeweils eigenes Bild der Welt zu zimmern, vom »Tod der Expertise« oder gar von einem »Nach-der-Wahrheit«-Zeitalter (post-truth).12 Einem Exzess des Selbstdenkens auf Kosten des gemeinschaftlichen Erörterns und Diskutierens wird zudem heute eine Mitschuld am Auseinanderdriften von Weltbild-Gemeinschaften (sogenannten »Blasen«, die abgeschottet nur noch ihnen genehme Informationen zur Kenntnis nehmen) zugeschrieben. Nicht Fremddenken, sondern exzessives Selbstdenken sei das Problem unserer Zeit, so die Einschätzung des Juristen Markus Kotzur: Heute sei die Mehrheit »rebellisch und aufsässig gesinnt, notorisch misstrauisch gegenüber allem, was sie vorgesetzt bekommt«.13

Damit stehen wir vor einem Paradox, das erst dann so richtig sichtbar wird, wenn wir Selbstdenken nicht nur in seiner produktiven Dimension (es werden neue Erkenntnisse generiert und Irrtümer benannt), sondern zugleich in seiner destruktiven Dimension (es werden Erkenntnisse ignoriert und Irrtümer verbreitet) ernst nehmen: Selbstdenken ist Segen und Fluch zugleich. Wir brauchen selbstdenkende Menschen, um den Prozess der Aufklärung weiterzuführen – und offenzuhalten. Denn keine Generation, das betonte auch Kant, darf einer nachfolgenden Generation verbieten, »in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur«.14 Aber wir können auch nicht den Stachel, der immer schon im Selbstdenken sitzt, ausblenden, denn auch (eher) aufgeklärte Gesellschaften benötigen Kategorien der Kompetenz und Kennerschaft, die mit dem Ideal universalen Selbstdenkens in einem Spannungsverhältnis stehen.

Diese Ambivalenz spiegelt sich in zahlreichen gegenwärtigen Diskursen: Sollen Menschen nicht alles glauben, was in der Zeitung steht, oder Medien bitte doch vertrauen? Sollen Menschen auf die Wissenschaft hören oder dürfen sie zweifeln? Sie sollen kritisch sein, aber bitte den ›Richtigen‹ gegenüber. Sie sollen denken, aber bitte nicht alles. Sie sollen … ja, was eigentlich?

Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess

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