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Und wir?

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In diesem Sinne wird die Krise als Nährboden der Aufklärung nicht nur zu einer umfassenden, weite Bereiche des Lebens erfassenden, sondern auch zu einer sich selbst fortpflanzenden Krise. Die Kritik, also das Unterscheiden, Prüfen, Entgegnen, lässt sich schwer wieder einhegen, sobald in relevanten Öffentlichkeiten – von den Salons über die Universitäten bis zu periodischen Zeitschriften – sich eigene Kulturen der Kritik einrichten. Was als Antwort auf die Erfahrungen interpretiert werden kann, dass fast nichts mehr selbstverständlich ist, kann sich ebenfalls nicht von selbst verstehen. Heute sieht man: Wenn wir etwas von der Aufklärung geerbt haben, dann sind es immer auch Probleme, also hier: Fragen, die sich nicht mehr zurücknehmen lassen und die keiner alternativlosen Beantwortung mehr zugänglich sind. Die Akteure der Aufklärung waren keine verschworene Kampfgemeinschaft, sondern in vielem uneins. Auch gingen sie nicht arbeitsteilig an einem gemeinsamen Projekt vor, sondern verfolgten mitunter einander ausschließende Anliegen und konkurrierten um Ansehen und Einfluss. Das Zeitalter der Aufklärung bleibt in dieser Hinsicht undeutlich und eignet sich kaum als autoritative Pauschalreferenz für heutige politische Argumente, ohne dass genau ausgeführt würde, woran genau man sich orientieren soll und vor allem: warum.

Eine zusätzliche Erschwernis für uns Nachgeborene, die Aufklärung als unvermittelt relevant für zeitgenössische Debatten anzusehen, besteht schlicht darin, dass die kulturellen Bedingungen heute in relevanten Hinsichten andere oder verschärft sind. Enzyklopädien werden nicht mehr in jahrelanger Zusammenstellung von Leitintellektuellen erstellt, sondern in nahezu Echtzeit von losen, anonymen Kollektiven erarbeitet. Nachschlagewerke umfassen auch nicht mehr achtundzwanzig Bände, sondern Informationen in allen erdenklichen Sprachen, die man mit dem besten Willen in zehn Leben nicht studieren könnte. Europäer benötigen heute auch nicht sechs Monate nach Australien, sondern dank moderner Luftfahrt nur einen Tag. Wir haben bis auf die Tiefsee nahezu jeden Winkel dieses Planeten erkundet und uns ins benachbarte Weltall hin ausgestreckt. Wir leben nicht mehr in einer weitgehend dünnbesiedelten Welt mit einer Milliarde Menschen, sondern in der ›vollen Welt‹ und das bedeutet auch: in einer unumkehrbar menschlich markierten (gerodeten, verschmutzten, an tierischen und pflanzlichen Arten ärmer werdenden) Welt. Wir leben, und bald zu großer Mehrheit, in Städten, die die Metropolen des Aufklärungszeitalters aussehen lassen wie Dörfer. Die damals größte Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika, Philadelphia, hatte Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr als 50 000 Einwohner. Jeder, der damals gelebt hat, würde durch eine Megacity wie Shanghai oder São Paolo mit ihren über zwanzig bzw. zwölf Millionen Einwohnern irren wie durch eine (Alb-)Traumwelt. Wir haben neue Theorien über die Natur, ihre Elementarteilchen und -kräfte sowie ihre sozial-biologische Evolution und mühen uns gehörig ab, sie alle zusammenzudenken. Und die Datenmengen, die wir jede Stunde produzieren, nicht zuletzt dadurch, dass wir mit ihnen soziale Netzwerkdienste bezahlen, hätte Pioniere der statistikbasierten Staatsverwaltung wie Gottfried Achenwall und Nicolas de Condorcet vermutlich um den Verstand gebracht. Nicht die immer wieder angeführte Scheidelinie zwischen Moderne und Postmoderne trennt uns von den Aufklärer*innen. Das »post« der fortgeschrittenen Moderne ist besser zu verstehen als ein Schwinden der Euphorie, die viele, bei weitem nicht alle, Akteure der Aufklärung angesichts des offenen Horizonts menschlicher Freiheit empfunden haben. Der Mensch der fortgeschrittenen Moderne steht nicht mehr am Ufer eines verlockend weiten Meeres, sondern er ist, um eine Metapher Friedrich Nietzsches zu bemühen, bereits auf hoher See – und bange.4 Es fällt ihm schwer, sich nicht zurückzusehnen nach den scheinbaren Gewissheiten alter Ordnungen, und er erträgt seine Freiheit auch deshalb manchmal so schlecht, weil ihre Uneindeutigkeit und ihre Ambivalenz sich inzwischen zu oft erwiesen hat.

Dem Wissen und der systematischen Suche danach wohnt, anders als viele im Zeitalter der Aufklärung erhofften, keine inhärente Tendenz zur Weltverbesserung inne, sondern es entscheiden konkrete soziale, politische Rahmungen, in welche Richtung das doppelschneidige Schwert des menschlichen Geistes sich senkt. Auch politisch sind wir heute ›aufgeklärter‹: In der demokratischen Prämisse der Volkssouveränität steckt immer schon der Stachel des ›demokratischen Totalitarismus‹, wie uns spätestens seit den Auswüchsen der Französischen Revolution bewusst sein muss. Von Nation, Nationalstaat zu aggressiven Formen des Nationalismus führt nicht notwendigerweise ein direkter Weg, jedoch eben ein möglicher, den wir angesichts des bis heute vorliegenden Anschauungsmaterials von Ausrottungsgewalt nicht ignorieren können. Und schließlich weiß der Mensch des Atomzeitalters, dass er selbst ›Herr der Apokalypse‹ ist.

Was immer man meint, das Akteure der Aufklärung uns zu sagen haben – man wird es auswählen und ausdeuten und gerade auch an den Hintergründen fortgeschritten-moderner Bedingungen wie Schattenbilder beweglich halten müssen.

In den folgenden Abschnitten versuche ich die Bedeutung von Ideen der Aufklärung für gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen und politische Debatten herauszuschürfen. Dabei werden diese Ideen vorrangig systematisch analysiert, aber auch in konkrete ideengeschichtliche Kontexte eingebettet. Einzelne historische Momente und Akteure werden unter Scheinwerferlicht betrachtet, um Aufklärung zu konkretisieren und zu vermenschlichen. Eine solche Konkretisierung und Vermenschlichung ist wichtig, weil wir über etwas sprechen, das einmal lebendig war – in Schicksalen, Freund- und Feindschaften, in Landschaften und Kulturen – und weil wir Aufklärung nie als erstarrte Abstraktion wirklich befriedigend begreifen, sondern lediglich beschwören können. Eine solche Abstraktion kann man auch nicht ernsthaft, also fundiert und fair, kritisieren. Denn erst dann, wenn wir Akteure der Aufklärung, bekannte wie randständige, als Menschen sehen, die als Kinder ihrer Zeit die Probleme ihrer Zeit mit den Mitteln ihrer Zeit zu lösen versuchten, werden wir vorsichtiger sein, sie mit Maßstäben unserer Zeit zu messen.

Denn auch wenn sie diesen Maßstäben nicht in allem genügen und wir glauben, heute noch aufgeklärter zu sein, noch fortschrittlicher: Denker*innen der Aufklärung haben uns, so die These dieses Buches, viel zu sagen. In der »Energie ihres Denkens« liegt, wie Ernst Cassirer es formuliert, der bleibende Wert der Aufklärungsphilosophie.5 Wir können diese Energie nutzbar machen und müssen doch jeweils für uns selbst herausfinden, wie und wozu:

 Wenn wir glauben, den Höhepunkt der Aufklärung überschritten zu haben und dunklen Zeiten zugehen, oder auch, wenn wir im Gegenteil davon ausgehen, dass alles immer besser wird.

 Wenn wir fragen, was der Mensch für ein komisches, so widersprüchliches, bewundernswertes und zugleich armseliges Wesen ist, oder wenn wir uns fragen, ob das, was für einen richtig ist, auch für alle anderen gelten soll.

 Wenn wir glauben, dass Gott zu den Menschen spricht, oder wenn wir diesen Glauben für monströs halten.

 Wenn wir streiten, wer das ›wahre‹ Volk ist, und über die Gefahren oder Verdienste von Nationalismus.

 Wenn wir uneins sind über die Zulässigkeit der Anwendung von Gewalt gegen Unterdrückung oder darüber, was ein gerechtes Strafrecht ausmacht.

 Wenn wir Menschenwürde oder Freiheit ausbuchstabieren und Menschenrechte abwägen.

 Wenn wir Grenzen der Toleranz hochziehen und uns fragen, ob sie an der richtigen Stelle stehen.

 Wenn wir die instrumentelle Rolle der Frau für den Mann in patriarchalen Strukturen kritisieren.

 Wenn wir die Integrationsfähigkeit von religiösen Minderheiten innerhalb säkularer Staaten bezweifeln.

 Wenn wir die Dysfunktionalität der UNO beklagen und fragen, ob es jemals überall auf der Welt Frieden geben kann.

Für solches Nachdenken soll dieses Buch Inspiration liefern.

Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess

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