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Aufklärung im Plural: neue Probleme

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Die Theorien der Toleranz und in weiterer Folge der weltlichen Endziele des Staates als Reaktion auf die Krise multikonfessioneller politischer Gemeinschaften, die Idee eines starken Staates als Reaktion auf die religiösen Bürgerkriege, Grundrechte als Reaktion auf die Krise absoluter Herrschaft: Diese und viele weitere Beispiele unterstreichen die Sichtweise auf Aufklärung als eine reaktive Bewegung und als Abwehr von krisenhaften Erschütterungen, die in Summe in Frage stellen, was der Mensch kann und ist, was er soll, wem er gehört und was er darf.

Nicht nur bilden sich in der Aufklärung rivalisierende Bewältigungen der multiplen Legitimationskrise heraus, es entstehen auch neuartige, ja verzwickte Problemfelder. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt um die Zuerkennung gleicher Rechte. Alle Menschen mögen in metaphysischer Sicht auf irgendeine Weise gleich sein – als Gotteskinder, vernunftbegabte, zu Höherem berufene Wesen –, aber wie gleich sind sie als konkrete physische Wesen – als Mann und Frau, als Schwarze und Weiße – und insbesondere als konkrete (aspirierende) politische Subjekte – als christliche und jüdische Preußen, als katholische und anglikanische Engländer, als ökonomisch Unabhängige und ökonomisch Abhängige? Ein anderes Beispiel ist die Frage religiöser Toleranz, die durch die Säkularisierung des Staates mehrdimensional zu werden beginnt: Wenn Toleranz nicht mehr allein von den Fürsten eingefordert werden muss, sondern von den gegeneinander unduldsamen Bürger*innen, wo muss deren eigene Religionsfreiheit dann ihre Grenzen finden?

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert die revolutionäre Prämisse, wonach die Souveränität beim Volk liegt, zunehmend mit Anfragen konfrontiert sieht, wer denn nun aber zum Volk gehört und mit welchen Gründen man etwa die weibliche Hälfte der Menschheit vom Bürgerstatus auszuschließen sich erlaubt? Oder im Fall revolutionär errichteter oder umgestalteter politischer Gemeinwesen, welche Verfassungsordnung nun die beste wäre: eine zentralistische oder föderale (Vereinigte Staaten von Amerika), eine konstitutionell-monarchische oder republikanische (Frankreich und England)? Neuartige Probleme stellten sich auch für das Strafrechtssystem, sobald als Auftrag des Staates der Schutz der natürlichen Rechte des Menschen bestimmt wird: Wie kann Strafe gerechtfertigt werden, ohne diese Rechte zu missachten? Verwirkt der Verbrecher seine Rechte, weil er immer schon einwilligt in die für seine Tat vorgeschriebene Strafe, wenn er den »Gesellschaftsvertrag« schließt? Oder behält er seine Rechte in Teilen und falls ja, in welchen?

Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess

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