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Kapitel 5 Edinburgh, Mai 2018

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Es war Mai geworden. Die unzähligen rosa Kirschblüten, die die ehrwürdigen Gemäuer lebendig gemacht hatten, waren längst einem satten Grün gewichen. Die Temperaturen stiegen und mit ihnen die Anzahl der Touristen. Das gefiel Ally. Je mehr Touristen kamen, desto oberflächlicher und gleichgültiger wurde die Stadt.

Sonst hatte sich nichts verändert. Und egal wie ausdauernd Lau­rel auch nervte, Ally gab sich alle Mühe, dass das auch so blieb. Vogelstraußtaktik nannte ihre Betreuerin das. Ally verstand aber beim besten Willen die ganze Aufregung nicht. Ok, es waren nur noch drei Wochen bis zu den Abschlussprüfungen. Na und? Ally würde schon durchkommen und das musste bei einem Blick auf ihre letzten Zeugnisse auch Laurel klar sein.

Ally war stets eine gute Schülerin gewesen und das hatte zwei Gründe. Zum einen war ihr das Lernen von Anfang an leichtgefallen. Sie wusste selbst nicht so recht, warum das so war, aber wenn das Leben es schon einmal gut mit einem meinte, sollte man ja bekanntlich nicht zu viel nachfragen. Zum anderen hatte sie schnell erkannt, dass die Lehrer einen in Ruhe ließen, wenn man nicht aus der Reihe tanzte. Also erledigte sie die Hausaufgaben, erschien morgens pünktlich und antwortete, wenn sie gefragt wurde. Letzteres kostete sie dabei die größte Überwindung, was dazu führte, dass sich Ally tatsächlich nur dann am Unterricht beteiligte, wenn sie ausdrücklich gefragt wurde. Ausgezeichnete schriftliche Leistungen trafen somit auf geradeso ausreichende mündliche und sicherten Ally im Klassenschnitt regelmäßig einen Platz im guten Mittelfeld. Und das führte wiederum dazu, dass auch ihre Klassenkameraden sie in Ruhe ließen. Nur Streber und Loser fielen auf.

Ally war sich sicher, dass sich dieses Muster auch bei den anstehenden Prüfungen fortsetzen würde. Und mehr als einen befriedigenden Abschluss wollte sie auch gar nicht. Wozu auch?

„Hey, Swirrel, wie weit is‘ es noch?“, riss Josh sie aus ihren Gedanken und sie war ganz froh darüber. Vielleicht hätte sich sonst doch noch ein winziger, aber hartnäckiger Gedanke an die Zukunft in ihren Kopf verirrt.

„Dauert noch. Du weißt doch, wie weit es nach Leith ist!“, entgegnete Ally und beschleunigte ihre Schritte. Crispy neben ihr fing unmittelbar an zu schnaufen wie eine historische Dampflock. Er mochte zwar spurtstark sein, aber Kondition hatte der Typ eindeutig keine!

Sie war nicht gerne mit dem Kastenbrot und der kleinen Farm unterwegs. Die beiden schafften es immer wieder, von allen Seiten schräg angeguckt zu werden. Ally konnte das nachvollziehen, sie mochte die beiden eigentlich ja auch nicht.

„Warum rennen wir nochmal mitten in der Nacht in den Hafen?“, fragte Josh jetzt und blieb stehen.

„Weil Swirrel da ein schlecht gesichertes Büro aufgetrieben hat. Wieder nicht zugehört, oder was?“, entgegnete Crispy entnervt, blieb aber auch stehen, erleichtert über die kurze Pause.

Und weil ihr euch nicht in der Lage gefühlt habt, da alleine hin zu finden. Noch nicht mal mit Navi, fügte Ally in Gedanken hinzu. Sie standen in einer Wohnstraße auf halbem Weg zum Hafen Leith. Ally wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als Crispy sie am Arm zurückhielt und nach vorne deutete.

„Ja, und?“, flüsterte sie. Vielleicht fünfzig Meter vor ihnen war ein Pärchen in ihre Straße gebogen und wurde gerade vom Schein einer Straßenlampe erfasst. Er war groß, extrem hager und ging leicht gebeugt. Zusammen mit den weißen, dünnen Haaren erweckte das den Eindruck eines greisen Storchs. Die Frau trug einen eleganten, langen Mantel, Pumps und erschien auf Grund einer dicken Schicht Make-Up und dunkelrotem Lippenstift alterslos. Langsam entfernten sich die beiden von Ally und ihren Begleitern.

„Guck‘ doch mal die Tasche. Auf so eine ist meine Alte schon lange scharf“, raunte Crispy zurück, „dafür lass‘ ich heute glatt den Elektrokram in diesem Büro sausen.“

Ally wurde mulmig. Das war gar keine gute Idee! Sie wusste nichts über diese Herrschaften, was das Risiko der Aktion zu einer unbekannten Variablen machte. Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, startete sie einen verzweifelten Versuch, das Kastenbrot umzustimmen: „Ne, lass‘ weiter gehen. Wenn du den Elektrokram verscherbelst, kannst du deiner Süßen zehn Taschen kaufen.“

„So süß is‘ sie auch wieder nicht.“ Crispy kratzte sich am Kopf. Die Verarbeitung verschiedener Argumente überforderte seinen Verstand sichtlich. „Nein, ich sage jetzt, was wir machen. Wir gehen da jetzt hin und holen uns die Tasche. Dann hauen wir ab.“

Was für ein grandioser Plan! Ally war total verzweifelt. Das konnte ja nur schief gehen!

„Na gut, mach‘, wie du denkst. Aber ich hau‘ ab“, wisperte sie zögernd und wollte sich umdrehen.

„Nein, du. Du bleibst schön hier und wartest!“, mischte sich jetzt Josh ein wie die Stimme aus dem Off. Das machte überhaupt keinen Sinn! Und egal, wie häufig Ally die Szene später im Kopf durchspielte, sie fand keine vernünftige Erklärung für das, was da in Joshs Schafskopf gerade abgegangen war. Sie wusste, dass es keinen Grund gab, zu bleiben. Sie wusste, dass sie nicht bleiben durfte. Sie wusste, was für Idioten Josh und Crispy waren. Aber Ally schaffte es nicht, genau das zu sagen. Genauso wenig schaffte sie es, sich umzudrehen und diesen verdammten ersten Schritt zu machen. Dafür hätte sie Selbstbewusstsein gebraucht und als ihr in diesem Augenblick wieder einmal deutlich wurde, dass sie genau das nicht hatte, wich auch das letzte bisschen Widerstand aus ihrem Körper und ließ sie zurück wie einen schlaffen Luftballon. Sie konnte nur noch die Schultern zucken, sich in den Schatten drücken und hilflos zusehen, wie Josh und Crispy mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen auf das Ehepaar zustürmten.

Sonderlich vorsichtig waren sie bei ihrer Aktion nicht. Da die Straße aber sonst menschenleer war, hätte die Sache tatsächlich gutgehen können. Wäre da nicht dieser Storch gewesen. Als Crispy sich die Tasche geschnappt hatte und die beiden in die Dunkelheit davon rannte, setzte der Mann ihnen in einem Tempo nach, das ihm auf den ersten Blick niemand zugetraut hätte.

„Mist!“, hörte Ally Crispy fluchen, der nochmal einen Zahn zulegte und hinter der nächsten Ecke verschwand. Obwohl die Handtasche mit diesem verschwunden war, nahm der Storch jetzt Josh aufs Korn. Dieser schlug einen Haken und Ally musste vor Schreck einen Aufschrei unterdrücken. Er rannte direkt auf sie zu, den Mann im Schlepptau! Jetzt war Josh schon auf einer Höhe mit ihr und rannte unbeirrt weiter.

Lauf schon, befahl Ally sich selbst, aber sie zögerte einen Moment zu lange. Der Storch griff nach vorne und erwischte einen Zipfel ihrer Jacke. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich die beiden in die Augen. Hätte ich ihn vorher beobachtet, hätte ich sofort gemerkt, dass der nicht altersschwach ist, ging Ally durch den Kopf. Dann löste sich endlich der Schockzustand und sie konzentrierte sich auf das Wesentliche und riss sich los. Zu ihrer Linken tauchte eine flache Gartenmauer auf, die sie mühelos überwand. Auch wenn ihr Verfolger gut in Form war, dieses unerwartete Hindernis war zu viel für ihn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als einem rostroten Zopf hinterher zu sehen, der im Dunkeln des Gartens verschwand.

Als Ally hinter sich keinen zweiten Aufprall auf dem Rasen hörte, wusste sie, dass sie den Storch abgeschüttelt hatte. Aber sie rannte immer weiter und ignorierte ihre brennenden Beine und den stechenden Schmerz in der Lunge. Das lenkte sie wenigstens von ihren wild kreisenden Gedanken ab. Er hatte sie gesehen! Und nicht nur das: Er hatte sie registriert! Das war noch nie passiert. Warum hatte sie sich bloß auf diese Schnapsidee eingelassen? Warum, warum?

Erst als sie in die Straße ihrer Wohngruppe einbog, blieb sie das erste Mal stehen. Die Hände auf die Oberschenkel gestützt, versuchte sie wieder zu Atem zu kommen. Ihr war, als hätte die Nacht plötzlich Augen bekommen, die sie aus jeder Mülltonne und jedem Blumentopf heraus anstarrten. Du warst es, Allison Christie, wir haben dich genau gesehen, schienen auf einmal die Geräusche der schlafenden Stadt im Chor zu flüstern. Sei nicht albern, schalt Ally sich und schlüpfte ins Haus. Ohne sich auszuziehen, legte sie sich ins Bett und zog die Bettdecke bis zum Kinn.

~

Am nächsten Tag, zum Glück einem Samstag, stand Ally später auf als gewöhnlich. Trotzdem war sie völlig gerädert. So musste sich ein schlimmer Kater anfühlen! Es hatte bestimmt noch eine Stunde gedauert, bis ihr Puls sich in der Nacht soweit beruhigt hatte, dass sie einschlafen konnte. Dann hatten die Alpträume angefangen. Im Traum war Ally wieder gerannt, aber sie hatte nicht gewusst, wohin. Hinter ihr hatte sich eine Armee von Störchen genähert, die mit ihren langen Schnäbeln nach ihr hackten. Und jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte, ihnen entkommen zu können, war Josh mit seinem rattenhaften Grinsen vor ihr aufgetaucht wie eine undurchdringliche Felswand und hatte ihr den Weg versperrt. Im Endeffekt war Ally froh gewesen, als sie endlich vom Geräusch des Staubsaugers geweckt worden war. Das Schwindelgefühl, das sie beim Aufstehen überrascht hatte, war jetzt einem drückenden Kopfschmerz gewichen und ihr Mund fühlte sich so trocken an, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert.

Sie raffte ein paar Kleidungsstücke zusammen und huschte über den Flur ins Bad. Hastig trank sie zwei Zahnputzbecher voll kaltem Wasser. Es schmeckte nach alter Zahnpaste, aber das war ihr gerade egal. Als sie aus der Dusche trat, hörte sie ein Stimmengewirr aus dem Flur, vermischt mit einem Klappern, das wahrscheinlich aus der Küche kam. Es war Samstagmorgen, was zum Teufel war hier los? Die einzigen Frühaufsteher waren Laurel und Susan, das da draußen klang aber, als wäre schon das ganze Haus auf den Beinen.

Sie zog gerade hastig die linke Socke über ihre noch feuchte Haut, als es ihr einfiel. Heute war der 14. Mai. Das bedeute, dass heute dieser Parlamentsabgeordnete, der sich ständig für irgendwelche sozialen Projekte engagierte, die Wohngruppe besuchen würde. Laurel hatte davon erzählt. Maxwell Goulding, jetzt fiel ihr sogar wieder der Name ein. Auch die Presse wurde erwartet, ein Abgeordneter zusammen mit einer Schar hilfsbedürftiger Kinder, das ging schließlich immer. Ally musste eindeutig schleunigst hier weg!

Ihre Haare waren noch nass und hinterließen eine dunkle Spur auf ihrem Pullover, als sie Richtung Haustür schlich. Alle waren so beschäftigt, dass wie gewohnt niemand Notiz von ihr nahm. Zumindest fast niemand.

„Ally, wo willst du denn jetzt hin? Du weißt doch, was heute hier los ist“, hörte sie plötzlich Laurel hinter sich. „Los, mach‘ dich irgendwo nützlich. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen!“

Ally wollte das bestimmt nicht. „Ich brauch‘ mal frische Luft, ich hab‘ irgendwie Kopfschmerzen“, entgegnete sie und machte einen weiteren Schritt Richtung Tür, aber Laurel verstellte ihr den Weg. Wie konnte sie nur!

„Dann geh‘ doch hinten in den Garten, da ist die Luft bestimmt besser“, schlug diese jetzt mit einem angestrengten Lächeln vor, „und nimm vorsichtshalber eine Tablette. Du weißt, wie sehr sich Mr. Goulding freut, alle zwölf Mitglieder der Wohngruppe persönlich kennen zu lernen.“ Das war eindeutig. Ally hatte keine Chance.

Pünktlich um 14:00 Uhr waren dann tatsächlich alle zwölf Jugendlichen sowie Laurel und Susan in der Küche versammelt. Es roch nach frisch gebackenen Scones und den langen Tisch zierte ein Blumenstrauß. Der Fotograf von der Zeitung machte einige Testaufnahmen, wofür er unter Allys Mitbewohnerinnen ausreichend Freiwillige fand. Sie selbst lehnte in einer Ecke und hoffte, dass der Zirkus einfach schnell vorbeigehen würde. Ein paar Minuten später wedelte Susan aufgeregt mit den Armen in der Luft, als wollte sie abheben, und rief: „Jetzt kommt er! Er kommt!“ Auf dem Flur waren Schritte zu hören, dann betrat ein elegant gekleideter Herr den Raum. Mit seiner hageren, leicht gebeugten Statur und den weißen Haaren sah er aus wie… ein Storch.

Ally schnappte nach Luft. Das konnte nicht wahr sein! Edinburgh hatte fast eine halbe Millionen Einwohner, dazu kamen Tausende Touristen. Wie konnte der Zufall so grausam sein und gerade den einzigen Menschen, der sie jemals bei einer ihrer Touren erkannt hatte, zu Maxwell Goulding machen, Abgeordneter des schottischen Parlaments?

Vielleicht war es zu dunkel gewesen und er hatte ihr Gesicht nicht richtig sehen können. Oder er hatte unter Schock gestanden. Oder seine Brille nicht aufgehabt. Ally versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und einfach weiter zu atmen, denn immerhin bestand ja noch die Möglichkeit, dass sie heil aus der Nummer herauskäme. Obwohl das eigentlich unwahrscheinlich war, denn es ging hier schließlich um sie, Allison Christie, auf der Warteliste der Glücksfee auf Platz 1.000.038.

Dass sie Recht behalten sollte, wurde schon wenig später klar, als Laurel mit dem Storch auf sie zukam. „Und das, Mr. Goulding, ist unsere Allison, genannt Ally, Christie. Nicht zu verwechseln mit Kristie Alley.“ Laurel kicherte übertrieben. „Sie lebt jetzt schon seit zwei Jahren hier bei uns und macht in ein paar Wochen ihren ersten Schulabschluss.“

„Ich freue mich dich kennen zu lernen, Ms. Allison Christie“, sagte Goulding und reichte Ally seine dünne, aristokratische Hand. Er lächelte, aber Ally sah deutlich das Aufflackern des Erkennens in seinen Augen. „Du hast sehr schöne Haare. Mir ist, als hätte ich sie schon einmal irgendwo gesehen.“ Als Ally schwieg, wurde er etwas deutlicher: „Das kann noch nicht lange her sein. Gestern Nacht vielleicht?“ Sie wollte alles abstreiten, aber in ihrem Kopf wirbelten die Worte nur wild durcheinander und sie bekam sie nicht zu fassen. Also schwieg sie weiter, was Goulding als Antwort ausreichend erschien. Immer noch lächelnd wandte er sich an Laurel: „Ms. Todd, können wir uns irgendwo ungestört mit Allison unterhalten?“

„Ja, natürlich. Kommen Sie, wir gehen gleich hier nebenan ins Büro“, strahlte Laurel ihn an. Was dachte sie sich bloß? Dass Goulding Ally ein Stipendium oder einen Orden verleihen wollte?

Ally wusste nicht, wie sie ins Nachbarzimmer gekommen war, so weich wie sich ihre Beine anfühlten, aber jetzt saß sie neben Laurel auf dem kleinen orangefarbenen Sofa. Goulding hatte ungefragt auf Laurels Schreibtischstuhl Platz genommen. „Ms. Todd, ich denke, Allison möchte Ihnen ein kleines Geheimnis verraten“, eröffnete er das Gespräch und sah Ally herausfordernd an. Beim Blick in seine grauen Augen bemerkte sie überrascht, dass diese sie keineswegs unfreundlich musterten. „Gut, wie ich sehe, möchte Ms. Allison mir den Vorzug geben. Vielleicht ist sie noch etwas müde von der letzten Nacht“, fügte er nach einer längeren Pause hinzu und fuhr dabei seelenruhig mit einem langen Finger die Konturen der Schreibtischlampe nach.

„Also ich verstehe überhaupt nichts mehr“, platzte es jetzt aus Laurel heraus, „Ally war in der Nacht natürlich in ihrem Bett. Sie ist schließlich erst sechzehn Jahre alt. Mr. Goulding, ich muss doch sehr bitten, aber was wollen sie uns hier unterstellen?“ Ally fand, dass das eigentlich sehr lieb von Laurel war. Trotzdem nützte es natürlich nichts. Der Storch schüttelte nur ruhig den Kopf, dann fasste er schnörkellos zusammen, was sich des Nachts in der Straße auf halbem Weg zum Hafen Leith zugetragen hatte. Ally beobachtete fasziniert, wie Laurels Gesicht erst blass, dann so orange wie das Sofa wurde.

„Mr. Goulding, hören Sie. Wie ich eben bereits gesagt habe, Ally ist sechzehn Jahre alt und hat es nicht leicht gehabt bisher. Wir bemühen uns hier natürlich alle nach Kräften um die Jugendlichen, aber spurlos geht so eine Kindheit trotzdem an keinem vorbei. Und gerade in diesem Alter probieren sich Jugendliche eben aus. Ich bin sicher…“

Goulding hob die Hand, um Laurels Redefluss zu unterbrechen. „Allison, was hast du denn zu der Sache vorzubringen?“ Sein Blick ruhte unverwandt auf ihrem Gesicht, sodass es sich anfühlte, als müsse es jeden Moment Feuer fangen.

Goulding wartete. Laurel wartete. Sogar Ally wartete. Wahrscheinlich darauf, dass sich der Boden auftun würde. Als das aber nicht passierte, öffnete sie den Mund und sagte nur, den Blick auf den herzlosen Boden gerichtet: „Ich stehle nicht.“

„Das stimmt. Ally ist ein gutes Mädchen. Gute Noten. Sie ist einfach in die falschen Kreise geraten, sie selbst würde nie…“, Laurel ließ sich nicht unterkriegen, aber Goulding unterbrach sie ein zweites Mal.

„Das glaube ich Ihnen, Ms. Todd“, sagte er schlicht, was Laurel so verblüffte, dass sie erstmal aus dem Konzept kam. Auch Ally war verwirrt. Er glaubte ihr? Warum saßen sie dann noch hier? „Ich glaube Allison, dass sie keine Verbrecherin ist. Ich glaube aber auch Ihnen, Ms. Todd, dass Allison in die falschen Kreise geraten ist. Und das kann ich natürlich nicht gutheißen. Es wäre doch eine große Verschwendung, wenn die junge Dame hier doch noch auf die schiefe Bahn gerät.“ Goulding zwinkerte Ally zu. „Die Frage ist nur, was können wir dagegen tun, Ms. Allison?“

Irgendetwas an der Art, wie er sie „Ms. Allison“ nannte, führte dazu, dass Ally sich wichtig und ernst genommen fühlte. Während sie diesem ungewohnten Gefühl noch nachspürte, hatte Laurel schon wieder das Wort ergriffen: „Diese Frage habe ich mir natürlich auch schon gestellt. Ideal wäre wohl ein längerer Auslandsaufenthalt. Andere Kulturen erleben, eine Fremdsprache vertiefen, endlich auf eigenen Beinen stehen. Internationalität ist heutzutage so wichtig für junge Menschen.“

„Eine Luftveränderung! Ja, das ist doch eine formidable Idee!“ Der Storch war vor Begeisterung aufgesprungen.

„Leider sind unsere Mittel in dieser Hinsicht sehr begrenzt“, schränkte Laurel ein, „wenn Sie sich allerdings dafür einsetzen würden, dass wir ein Budget für Schüleraustausche bekämen…“

„Nein, nein, das würde viel zu lange dauern“, winkte Goulding ab, „nein, wir müssen eine andere Lösung finden.“ Er schritt jetzt vor dem orangefarbenen Sofa auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Ein Praktikum. Das wäre doch die ideale Lösung! Ms. Allison, welche Fremdsprache sprichst du?“

„Deutsch“, erwiderte Ally abwesend. In ihrer wachsenden Begeisterung hatten weder Laurel noch der Storch mitbekommen, dass Allys sowieso schon blasses Gesicht die Farbe des Putzes an der Wand angenommen hatte. In ihrem Kopf war nur noch Platz für dieses eine Wort. Luftveränderung. Eine andere Stadt. Ein anderes Land. Fremde Menschen. Das würde sie nicht überleben! Das konnten sie ihr doch nicht antun! Flehend sah sie zu Laurel hinüber. Diese bemerkte Allys Blick, interpretierte in aber genau falsch: „Sie haben Recht, lieber Mr. Goulding, ein Praktikum ist perfekt. Da kann Ally gleich erste Berufserfahrung sammeln. In drei Wochen könnte es sogar schon losgehen, dann haben wir den Schulabschluss in der Tasche.“ Ally war so schockiert, dass sie sich noch nicht mal über dieses kindische Wir, das Laurel gerne benutzt, aufregen konnte.

Der Storch hatte aber sowieso nicht mehr zugehört. Immer noch auf und ab staksend murmelte er vor sich hin: „Deutsch, das ist sehr gut… Ich hatte doch da diese Bekanntschaft gemacht… Das würde schon passen… Ja, ich denke, das ist die Lösung.“ Nach diesen rätselhaften Ausführungen verabschiedete er sich auf seine außergewöhnlich höfliche Art, die Ally inzwischen kaum mehr verwunderte, und verließ umgehend das Haus. Goulding war in seinem Element. Er liebte es, wenn er seine zahllosen Kontakte spielen lassen konnte, um etwas Gutes zu tun! Auf dem orangefarbenen Sofa blieben sowohl Ally als auch Laurel reichlich verblüfft zurück.

Genauso perplex war der Fotograf, als er nach dem dritten von Susans vorzüglichen Scones feststellte, dass Maxwell Goulding bereits gegangen war. Hatte der Abgeordnete ihn etwa vergessen?

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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