Читать книгу Bei Ebbe geht das Meer nach Hause - Marie Wendland - Страница 5
Prolog Wangerooge, Oktober 1981
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Damit war es heraus und das Wort schien bedrohlich in der eingetretenen Stille nachzuhallen. Aber Klara hatte keine Zeit, sich vor sich selbst zu erschrecken. Das war nur der erste Schritt gewesen, jetzt musste es irgendwie weitergehen. Darüber hatte sie sich nur leider vorher keine Gedanken gemacht. Klara wusste nur, dass sie das hier nicht mehr wollte, dass sie nie mehr hinterherlaufen wollte, wenn sie es doch besser wusste. Also drehte sie sich langsam um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie zögerte nicht und sie rannte nicht, auch wenn sie den Impuls dazu unterdrücken musste. Nein, Klara ging einfach, ein Schritt nach dem anderen, die Straße hinunter, aus dem Dorf heraus, sie ging immer weiter. Dabei liefen die letzten zwei Tage, die in der vergangenen halben Stunde ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatten, wie ein Film in ihrem Kopf ab.
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Gestern waren sie in Hamburg zu dieser Klassenreise auf die kleine Nordseeinsel aufgebrochen. Radfahren, Volleyball und eine Wattwanderung standen auf dem Programm. Dumm nur, dass einige der achtundzwanzig Siebtklässler schon viel zu erwachsen für diesen Kinderkram waren. Oder gerade noch nicht erwachsen genug, wie Klara sich im Stillen dachte. Gesagt hätte sie so etwas natürlich nie.
Das mulmige Gefühl im Magen, das sie schon Monate vor der Abreise begleitet hatte, bestätigte sich schon während der dreistündigen Busfahrt. Vorne neben dem Fahrer stand gerade Frau Blum, ihre Lehrerin für Deutsch und Kunst, mit einem Mikrofon in der Hand wie ein Reiseleiter und berichtete über ihr Ziel: Wangerooge, die östlichste der sieben bewohnten ostfriesischen Inseln, flächenmäßig das zweitkleinste dieser Eilande, 1804 zum Seebad ernannt. Klara hatte die meisten dieser Informationen bereits zu Hause in der Bibliothek nachgelesen. Zum einen wusste sie gerne, bevor sie einen Bus bestieg, wo sie ankommen würde, zum anderen war sie lieber vorbereitet, sollte sie im Unterricht danach gefragt werden. Ja, so war Klara nun einmal.
Trotzdem hörte sie Frau Blum geduldig zu, als jemand in der Sitzreihe neben ihr ihren Namen zischte. Unwillig drehte sie den Kopf: Bettina Waldschleger. Bettina gehörte zu diesen selbst ernannten Erwachsenen in der Klasse, die den erbärmlichen Zustand der Kindheit wie ein aus der Mode geratenes Shirt abgestreift hatten und somit den Übrigen natürlich haushoch überlegen waren. Zumindest in Bezug auf ihre schon sehr beachtliche Oberweite mochte das richtig sein. Klara dagegen war noch platt wie ein Brett, dafür einige Zentimeter größer als die meisten anderen Mädchen. Wie auch immer, Bettina hatte der gesamten Klasse klargemacht, wie schrecklich klug und schrecklich hübsch sie war. Dabei fand Klara sie insgeheim einfach nur schrecklich.
Jetzt säuselte Bettina süßlich lächelnd, aber mit einem teuflischen Funkeln in den Augen: „Selbst du bist eingeladen, Klara Strebermeier. Du wirst mich doch nicht enttäuschen und ablehnen, nicht wahr?“ Dabei drehte sie ein zusammengefaltetes Stück Papier zwischen den Fingern. Spelmeier, Strebermeier. Klara fiel zum gefühlt eintausendsten Mal auf, wie schlecht dieses Wortspiel mit ihrem Nachnamen doch war. Trotzdem versetzte es ihr, auch wie jedes Mal, einen Stich. Sie wollte nach dem Zettel greifen, doch Bettina zog ihn so weit auf ihre Seite zurück, dass Klara sich mit dem ganzen Oberkörper über den Gang beugen musste, um ihn zu erreichen. Natürlich bemerkte sie dabei den missbilligenden Blick von Frau Blum und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ja, so war Klara nun einmal.
Heute Abend in unserem Zimmer. Nach der Bettenkontrolle. Wer etwas Essbares hat, bringt es mit. Mehr stand da nicht auf dem unschuldig weißen Zettel, trotzdem reichte es, um bei Klara Übelkeit und Magenkrämpfe auszulösen. Warum sollte sie mitten in der Nacht in einem fremden Zimmer hocken? Sie wollte gar nicht wissen, was Bettina und ihr Gefolge da vorhatten. Außerdem wollte sie am nächsten Morgen nicht völlig übernächtigt sein. Außerdem… außerdem war das ganz einfach gegen die Regeln und damit tat man in Klaras Welt so etwas nicht. Bestimmt würden sie schon erwischt, wenn sie in ihren Nachthemden über die Flure huschten, wie peinlich.
Diese letzte Befürchtung würde sich allerdings nicht bewahrheiten, wie Klara in der Jugendherberge angekommen feststellte. Ob das eine Erleichterung war, wusste sie jedoch nicht, denn der nächtliche Weg in ein fremdes Zimmer blieb ihr nur deswegen erspart, da das hinterhältige Los sie in ein Zimmer mit Bettina und Co verfrachtet hatte. Da konnten die fünf Tage Klassenfahrt lang werden.
Im Endeffekt überstand Klara die nächtliche Zusammenkunft einschließlich Flaschendrehen genauso wie das Frühstück am darauffolgenden Morgen. Ja, auch das muss erwähnt werden, denn bei einer Bettina in der Klasse wurde selbst das Frühstück zum Spießrutenlauf. Zumindest wenn man wie Klara zwar noch keine Brüste, dafür aber die gleiche Menge Fettgewebe an anderen Stellen verteilt hatte. Danach brach die ganze Gesellschaft unter der Leitung von Frau Blum ins Inseldorf auf. Von der Jugendherberge aus, die im alten Westturm in den Dünen untergebracht war, bedeutete das eine kleine Wanderung. Dort angekommen folgte ein Besuch im Leuchtturmmuseum, bevor Frau Blum ihre Schäfchen in kleine Gruppen aufteilte, die das Dorf auf eigene Faust erkunden durften. Pünktlich um 15:00 Uhr würden alle wieder zum gemeinsamen Kuchenessen in der Jugendherberge erwartet.
Es versteht sich schon fast von selbst, dass Klara sich erneut in einer Gruppe mit Bettina wiederfand. Zum Glück war wenigstens auch Gaby mit von der Partie, die zu Hause in der gleichen Straße wohnte und somit seit der ersten Klasse Klaras Schulwegfreundin war. Mit drei weiteren Mädchen trabten sie daraufhin einer gelangweilten Bettina hinterher, die dem verträumten Inseldorf erwartungsgemäß wenig abgewinnen konnte. Wenn sie doch bloß die neueste Bravo hätten, um sich abzulenken… Leider hatte der Kiosk, den sie in der kleinen Einkaufsstraße schnell gefunden hatte, inzwischen Mittagspause. Bis 15:00 Uhr. Vollkommen logisch also, dass sie nicht um 15:00 Uhr im Westturm Kuchen essen würden, wenn sie jetzt warteten, bis der Laden wieder öffnete. Für Bettina war das jedoch weniger logisch oder besser gesagt war es ihr völlig egal. Wen interessierte schon die Anweisung der Lehrerin? Klara interessierte sich dafür, sehr sogar. Es würde fürchterlichen Ärger geben, wenn sie nicht pünktlich zurück wären. Außerdem, und das war vielleicht sogar noch schlimmer, würde Frau Blum sich sorgen, dass ihnen etwas passiert war.
„Wir sollten lieber zurückgehen“, begann Klara zaghaft, doch Bettina brachte sie mit einem verächtlichen Schnauben zum Schweigen.
„Gaby, überleg doch mal. Lass uns einfach gehen“, wandte sie sich noch einmal leise an die Freundin. Gaby schwankte sichtlich zwischen ihrer Freundin und dem, was sie insgeheim auch für richtig hielt, und Bettina und ihrem Gefolge, das endlich bereit schien, sie aufzunehmen.
„Bitte, Gaby!“ Klaras strahlend blaue Augen hatten einen flehenden Ausdruck angenommen und schimmerten bereits feucht. Aber Gaby schüttelte nur entschuldigend den Kopf und ließ sich neben die anderen auf den Kantstein sinken.
Klara fühlte sich plötzlich, als würde sie im stürmischen Meer ertrinken. In ihrem Kopf hämmerte es und ihre Beine waren wie gelähmt. So viel zum Thema Freundschaft!
„Siehst du“, triumphierte Bettina hämisch, „niemand interessiert sich für den ollen Kuchen und die olle Blum. Wir hängen hier lieber noch ab.“
Und dann auf einmal war es heraus: „Nein!“ Klara würde hier nicht noch weiter abhängen! Plötzlich funktionierten auch ihre Beine wieder und sie drehte sich um und ging.
~
Sie hatte noch nicht ganz realisiert, was sie da eben getan hatte (sich Bettina Waldschleger widersetzt!), als sie merkte, wie weit sie schon gegangen war. Hinter ihr lagen das Dorf und ein kleines Wäldchen, vor ihr erstreckte sich die Heidelandschaft. Zu ihrer Linken konnte sie den Deich erkennen, auf dem sie vorhin ins Dorf gelaufen waren, aber direkt vor ihr erhob sich der Westturm zwischen den Dünen. Sie konnte also genauso gut diesen Weg weitergehen, um dorthin zurückzukommen. Rechts von sich hörte sie ein rhythmisches Rauschen und wusste, dass dort hinter der hohen Dünenkette das offene Meer liegen musste. Unglaublich, dass sie schon seit fast vierundzwanzig Stunden hier war, ohne den Strand gesehen zu haben. Ein Weg aus Holzplanken führte wenige Meter vor ihr über die Düne und nach einem prüfenden Blick auf die Uhr folgte sie diesem.
Oben angekommen eröffnete sich ihr ein atemberaubender Blick auf den breiten Strand, der durch eine Reihe weißer Schaumkronen vom tiefblauen Meer getrennt war. Bis zum Horizont war da nichts außer diesem Blau und darüber der ebenfalls strahlend blaue Himmel. Überwältigt von dieser Weite hockte Klara sich auf die Planken, die von der Sonne ganz warm waren. Sie musste den Kopf nur ein kleines Stück drehen, dann konnte sie das Meer, die Insel und das Watt auf der anderen Seite des Deichs mit einem Blick erfassen.
Klara versuchte die Gedanken, die in ihrem Kopf verrücktspielten, zu ordnen, aber es wollte nicht gelingen. Hier oben schien alles ganz klar und einfach. Hier das Wasser, dort das Land, klar voneinander abgegrenzt. Wenn doch alles so einfach wäre. Sie richtete den Blick wieder auf den Horizont und atmete tief die salzige Luft ein. Der frische Wind kühlte ihr erhitztes Gesicht und wirbelte ihre honigblonden Haare herum. Mit einem Mal löste sich der zähe Nebel in ihrem Kopf, der es ihr unmöglich gemacht hatte zu denken, und sie wurde ganz ruhig. Es war so einfach. Hier das Wasser, dort das Land, hier richtig, dort falsch. Sie wusste, was für sie richtig war und sie hatte es schon immer gewusst. Also würde sie ab jetzt auch danach handeln. Aber was würden die anderen sagen? Wie würden sie sie behandeln? In diesem Moment machte ihr das keine Angst mehr. Jahrelang hatte sie versucht, sich anzupassen, nicht aufzufallen, und was hatte es ihr genützt? Gar nichts. Sie war trotzdem nur Klara Strebermeier und eine echte Freundin hatte es ihr auch nicht eingebracht. Der Gedanke an Gaby, wie sie sich in Bettinas Gefolge einreihte, tat immer noch weh. Also Schluss mit all dem. Ab heute gab es nur noch Klara Spelmeier und die stand zu sich selbst.