Читать книгу Bei Ebbe geht das Meer nach Hause - Marie Wendland - Страница 8
Kapitel 3 Edinburgh, April 2018
Оглавление22:30 Uhr. Wie jedes Mal war Ally wach, bevor der Wecker ihres Handys klingelte. Sie stellte den Alarm aus, stand leise auf und zog sich im Dunkeln zügig an. Über ihren inzwischen wieder trockenen Hoodie zog sie ihre dicke Winterjacke. Die Nacht würde nicht nur empfindlich kalt, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch genauso nass werden wie der Nachmittag. Sie verstaute Handy und Schlüssel in den Jackentaschen, dann öffnete sie vorsichtig die Tür und schlich durch den Flur Richtung Haustür. Bei jedem ihrer nächtlichen Ausflüge war dieses erste Stück des Weges das heikelste. Heute hatte zu allem Überfluss Laurel die Nachtschicht und verbrachte die Nacht in der Wohngruppe. Und diese lauschte garantiert auf jedes kleinste Geräusch, aus Angst jemand könnte sich wegschleichen. Wie kam sie bloß auf so eine abwegige Idee? Ally grinste still vor sich hin. Als sie an Laurels Zimmertür vorbeikam, hörte sie aber von Drinnen nur monotones Schnarchen und hätte am liebsten laut losgelacht. Sie riss sich aber zusammen und ging vorsichtig weiter. Eine weitere Begegnung mit Laurel wollte sie heute um jeden Preis vermeiden!
Als sie endlich auf dem Bürgersteig stand, atmete sie auf. Geschafft. Wieder einmal. Ally blickte sich kurz prüfend um, dann schlug sie zielstrebig den Weg Richtung Festival Theatre ein. Die aufziehende Nacht hatte die Stadt verändert. Der stete Strom aus Touristen mit Kameras um den Hals war versiegt. Stattdessen teilten sich dahineilende Pärchen auf dem Weg zurück ins Hotelzimmer, aufgebrezelte Partygänger und dunkle Gestalten, die stets eine Straßenseite für sich alleine hatten, die Straßen. Von allen unbeachtet kam Ally schnell voran und erreichte pünktlich die vereinbarte Bushaltestelle. Sie lehnte sich scheinbar unbeteiligt an eine Mauer und zog das Smartphone aus der Tasche, als würde sie auf den Bus warten. Es musste auf die Minute genau 23:00 Uhr sein, als ein großer Schatten neben ihr auftauchte. Crispy war da. Obwohl das bestimmt nicht sein richtiger Name war, hatte Ally auch ihn mit einem Spitznamen bedacht. „Kastenbrot“. Damit waren sowohl sein Äußeres als auch sein Charakter vollumfänglich beschrieben. Wenigstens war er pünktlicher als sein Kumpel mit dem Rattengesicht und bewegte sich trotz seiner Statur überraschend schnell und gewandt.
Nachdem die beiden einige belanglose Worte gewechselt hatten, schlenderten sie wie ziellos auf das Theater zu. Wie geplant war die Vorstellung gerade zu Ende und das Foyer und der Platz davor füllten sich mit Menschen. Crispy blieb im Schatten einiger Müllcontainer stehen und nickte Ally zu: „Los geht’s, Swirrel, dein Auftritt!“ Oh ja, ihr großer Auftritt… Diesen Teil ihrer Verabredungen hasste Ally. Aber es half ja nichts, genau dafür war sie hier. Also strich sie sich die Haare ordentlich aus dem Gesicht, steckte den roten Zopf in den Kragen und ging auf das hell erleuchtete Foyer zu. Als Crispy das nächste Mal hinsah, war Ally bereits in der Menge verschwunden. Vor allen Augen und doch irgendwie unsichtbar schlängelte sie sich durch die Leute. Sie war doch einfach nur ein Mädchen, das gerade aus dem Theater kam und nach ihrer Begleitung Ausschau hielt. Wer würde beim Blick in ihr unschuldiges Puppengesicht schon etwas anderes vermuten. Die meisten Theaterbesucher nahmen aber ihre Umwelt ohnehin nicht wahr, sie waren noch zu gefangen in der fantastischen Welt, in die die Aufführung sie entführt hatte. Auf jeden Fall würde sich morgen niemand mehr an das Mädchen erinnern, das ihnen auf dem Weg nach draußen begegnet war.
Ally aber nahm jedes Detail in sich auf. Systematisch scannte ihr Blick jeden, der ihr entgegenkam. Dieses Pärchen hier war zu alt, dieser Herr hatte die falsche Nase. Also weitergehen. Sie musste nicht lange suchen, dann hatte sie die gefunden, wegen derer sie heute hier waren. Das Pärchen war Anfang dreißig und gut gekleidet. Er war hochgewachsen, hatte einen Seitenscheitel und trug eine schwarze Brille. Sie war mindestens zwei Köpfe kleiner als ihr Freund, blond und heute Abend auffallend hübsch zurechtgemacht. Kein Wunder, dachte Ally, dass der Typ verrückt nach ihr war.
~
Deswegen waren ihr die beiden gestern auch aufgefallen, als sie sich wild knutschend in den Princes Gardens herumgedrückt hatten. Als der Typ seine Freundin wenig später in einer Eisdiele zurückgelassen und sich nach einer umständlichen Entschuldigung eilig entfernt hatte, war Ally ihm gefolgt. Zu gerne hätte sie entdeckt, dass die Blondine nur die heiße Affäre war und auf einem Spielplatz die Ehefrau und zwei kleine Kinder warteten. Dieser Ehefrau einen kleinen, anonymen Tipp zukommen zu lassen, hätte ihr gefallen. Dazu war es jedoch nicht gekommen, denn der Typ war in einem exklusiven Juweliergeschäft verschwunden und kurz darauf mit einer kleinen, schwarzen Samtschatulle wieder herausgekommen. Ein Verlobungsring! Das war nicht schwer zu erraten gewesen, besonders da der Typ angefangen hatte, nervös mit der Schatulle zu spielen, bevor er sie tief in der Manteltasche versenkt hatte. Ally war ihm zurück zu der Blondine gefolgt, die er dann mit den Theaterkarten überrascht hatte. „Hier, Schatz, die habe ich gerade gekauft. Für heute Abend gab es noch günstige Restplätze.“ Was für ein Lügner, hatte Ally gedacht, die Karten hatte er doch schon länger. Und günstige Restkarten waren das somit bestimmt nicht. Er hatte das Ganze also von langer Hand geplant, woraus Ally gefolgert hatte, dass der Ring an diesem Abend den Besitzer wechseln sollte. Zudem hatte sie an der Farbe der Karten das Theater erkannt, das er ausgesucht hatte (nach allem, was Ally so zu Ohren kam, sehr gute Wahl). Sie kannte also den Ort, die Zeit und das Objekt. Bei so vielen Details, die ihr quasi auf dem Silbertablett geliefert wurden, konnte sie einfach nicht widerstehen. Daran änderte auch das aufkommende Mitleid nichts, das sie mit dem potentiellen Bräutigam empfand.
~
Ally beobachtete, wie das Pärchen jetzt auf den Taxistand zuging, an dem noch ein Fahrzeug wartete. Scheinbar zufällig verstellte sie den beiden den Weg, als sie sich bückte, um den Schnürsenkel neu zu binden. Als sich ihre Zielpersonen an diesem Hindernis vorbeigedrängelt hatten, war bereits eine fünfköpfige Familie dabei, sich in das Taxi zu quetschen. Jetzt müsst ihr warten, ihr Turteltäubchen, Pech gehabt! Äußerlich wirkte Ally vollkommen unbeteiligt, innerlich jubelte sie aber über den gelungenen Schachzug. Die beiden schienen aber auch nicht allzu traurig über die Verzögerung, sie waren einfach viel zu verliebt und viel zu selig über den schönen Abend. Genau das würde sie unaufmerksam machen. Zufriedene Theaterbesucher und/oder Verliebte waren einfach die idealen Opfer. Jetzt musste Ally aber schnell sein, bevor das nächste Taxi eintraf. Sie huschte zurück zu den Müllcontainern, wo Crispy wartete.
„Auf zwei Uhr, das Pärchen am Taxistand, die Schatulle ist in seiner rechten Manteltasche“, informierte sie Crispy, während sie ihre Jacke in eine dunkle Ecke stopfte und die Kapuze tief ins Gesicht zog. Dann eilten beide los, sie von links, er von rechts auf den Taxistand zu. Ally rempelte die Blondine scheinbar aus Versehen an, murmelte eine Entschuldigung und verschwand hinter der nächsten Ecke. Der Typ bemühte sich erwartungsgemäß sofort um seine strauchelnde Freundin und bemerkte Crispy nicht, der ihm von hinten blitzschnell in die Tasche griff, um daraufhin ebenfalls in der Dunkelheit zu verschwinden.
Wenig später traf Ally Crispy hinter den Müllcontainern wieder, als sie gerade ihre Jacke wieder anzog. Er lachte euphorisch und ließ den Ring im Schein der Straßenlaterne funkeln. Der Diamant in der schlichten Fassung war wirklich beeindruckend groß!
„Ey, sei vorsichtig, du Depp. Ich will nicht in die Sache mit reingezogen werden!“, herrschte Ally ihn an.
„Nicht mit reingezogen werden? Was redest du da, Swirrel, das Schätzchen hier verdanke ich nur dir.“ Er tätschelte den Ring wie ein kleines Kätzchen. „Was willst du dafür?“
„Gar nichts, weißt du doch“, erwiderte Ally ungerührt, schloss den letzten Kopf ihrer Jacke und wandte sich zum Gehen. „Mach’s gut, Crispy!“
Tatsächlich verdiente Ally mit ihren Informationen keinen Penny. Sich zu bereichern würde sich für sie anfühlen, als wäre sie Teil des Verbrechens. Aber Crispy oder Josh waren ja die Langfinger, nicht sie. Sie konnte ja eigentlich gar nichts dafür, dass das Kastenbrot zufällig dem Typ einen Ring klaute, dessen Freundin sie aus Versehen angerempelt hatte. Ally spielte dieses Spiel schon so lange, dass sie diese Logik inzwischen uneingeschränkt glaubte. Und vor allem war sie gut darin. Verdammt gut. Das war auch der einzige Grund, warum sie sich immer wieder den Risiken solcher Aktionen aussetzte, egal wie groß ihre Angst vor Aufmerksamkeit auch war. Jeder brauchte schließlich irgendetwas, worin er gut war. Andere zogen ihr Selbstbewusstsein vielleicht aus guten Noten, sportlichen Erfolgen oder einem großen Freundeskreis. Bei Ally war es eben der Kick, den sie verspürte, wenn eine unscheinbare Samtschatulle von einer Manteltasche zur anderen wanderte.
Zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Nacht schlenderte Ally durch die Straßen. Jetzt eine Zigarette! Leider waren ihre Jackentasche bis auf Handy und Schlüssel leer. Dabei hatte sie doch erst gestern eine Schachtel gekauft (gekauft wohlgemerkt!). Wenn da nicht mal wieder Laurel dahintersteckte! Zum Glück wusste Ally, bei wem sie zu dieser Tageszeit eine Zigarette schnorren konnte. Sie bog in eine dunkle Gasse ab und verschwand durch einen versteckten Zugang in der Mary King’s Close. Die ehemalige Gasse war seit einer mittelalterlichen Pestepidemie zugemauert und hatte sich mit dem angrenzenden Labyrinth aus Gängen und Kammern zu einer „Stadt unter der Stadt“ entwickelt. Ally umging geschickt eine Gruppe Touristen, die viel Geld gezahlt hatten, um sich geführt von kostümierten Schauspielern in Edinburghs Unterwelt so richtig schön zu gruseln. Es gefiel ihr gar nicht, dass diese Gruseltouren immer beliebter wurden. Diesen Ansturm auf eines ihrer Lieblingsverstecke fand sie viel furchteinflößender als die Geister irgendwelcher Pestopfer, die hier unten spuken sollten.
In der Dunkelheit eines Seitenganges sah sie ein Feuerzeug aufflackern und wusste, dass sie Daphne gefunden hatte.
„Hey, Kleines“, grüßte diese und lächelte breit, sodass ihre gelblichen Zähne im Schein des Feuerzeugs blitzten. Ungefragt reichte sie Ally eine Zigarette, wobei ihre unzähligen Strassarmreifen klimperten. Daphne war für Ally eine schöne Frau: Mit ihrem glänzenden schwarzen Haar, den langen Beinen in schimmernden Strumpfhosen, dem perfekten Make-up und den paillettenbesetzten Kleidern drehte sich wohl jeder nach ihr um. Ally bewunderte Daphne dafür, dass sie diese Aufmerksamkeit so genoss. Ihr Blick fiel auf den kurzen fransenbesetzten Lederrock, den diese heute trug. „Neu?“
„Oh ja!“ Daphne drehte sich kokett. „Man verdient ja kein Geld, wenn man immer dieselben Fummel anhat.“
Ally wollte nicht weiter darüber nachdenken, wie genau Daphne ihr Geld verdiente. Also nickte sie nur, als wüsste sie genau, wovon diese sprach, und konzentrierte sich auf ihre Zigarette. Rauchend lehnten die beiden nebeneinander an der kalten Wand, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Ein bisschen Gesellschaft, mehr wollte keine von ihnen. Irgendwann trat Daphne ihren Zigarettenstummel mit dem Absatz aus, winkte zum Abschied und verschwand. Auch Ally machte sich wieder auf den Weg.
Sie hatte es aber nicht eilig, zurück in ihr Bett zu kommen. Aufgeputscht von Adrenalin war sie nicht im Geringsten müde. Sie schlenderte durch die Straßen und nahm dabei gierig jedes kleinste Detail wahr. Wer wusste schon, wofür es nützlich sein konnte. In einer ruhigen Wohnstraße war trotz der späten Stunde ein Fenster im Erdgeschoss erleuchtet. Ally spähte hinein und sah ein Kind mit seiner Mutter am Küchentisch sitzen. Die Augen des kleinen Jungen waren vom Weinen noch gerötet, jetzt umklammerte er aber zufrieden eine dampfende Tasse mit Kakao oder heißer Milch, wie Ally vermutete. Bestimmt hatte er schlecht geträumt und die Mutter tröstete ihn. Ally betrachtete die Szene wie einen Nachrichtenbeitrag über ein verheerendes Erdbeben in Südostasien. Sie wusste, was das Geschehen für die Beteiligten bedeuten musste, aber nachempfinden konnte sie es nicht. Es war einfach viel zu weit weg.
Ohne so recht zu wissen, wohin sie ging, fand sie sich irgendwann auf dem noch menschenleeren Platz vor dem Edinburgh Castle wieder. Von hier konnte sie fast die ganze Stadt überblicken. Über den Dächern im Osten wurde bereits ein schmaler Streifen Rosa sichtbar. Ally kletterte auf eine Mauer, kuschelte sich in ihre Jacke und sah zu, wie die Sonne immer weiter aufstieg und die gelblichen Fassaden, die für die Stadt typisch waren, zum Leuchten brachte. Ganz langsam erwachte die Stadt unter ihr zum Leben. Was konnte es schon Schöneres geben als so einen Moment?