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Kapitel 1 Edinburgh, April 2018

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„Vielen Dank, hier Ihre Tickets. Möchten Sie noch einen Audio-Guide dazu buchen?“, fragte die Dame hinter der Glasscheibe des Schalters möglichst freundlich und in möglichst akzentfreiem Englisch. Tagesformabhängig fiel ihr das eine oder das andere schwerer.

Heute drängelten sich mal wieder besonders viele Touristen aus aller Welt auf dem Vorplatz des Edinburgh Castles. Alle waren vorwiegend kurz angebunden und gehetzt, um möglichst schnell dem kalten Nieselregen zu entkommen, der heute die ganze Stadt einhüllte. Da war eine Schlossbesichtigung doch die ideale Beschäftigung, um diesen Regentag sinnvoll zu nutzen. Besonders wenn man Athlet im touristischen Triathlon war und eine Stadt in kultureller, kulinarischer und architektonischer Sicht in unter einem Wochenende zu bezwingen versuchte. Eigentlich eine Verschwendung der 17 Pfund pro Ticket, dachte die Dame hinter der Glasscheibe, während sie kurz dem amerikanischen Pärchen nachblickte, das sich eilig in das erstbeste Gebäude des Schlosskomplexes schob. War doch die Aussicht vom Edinburgh Castle, das auf seinem Felsen über der Stadt thronte, mindestens ebenso viel wert, wie einen kurzen Blick auf die hier lagernden schottischen Kronjuwelen zu erhaschen. Heute war diese Aussicht aber leider nur zu erahnen. Hinter dem Nebelschleier hätte sich ebenso gut der brasilianische Dschungel, die sibirische Tundra oder ein galaktisches Portal in ein anderes Sonnensystem verbergen können. Das wäre doch mal eine echte Attraktion, überlegte unsere freundliche Ticketverkäuferin und wandte sich den nächsten Kunden zu, Koreaner ihrem geschulten Blick nach.

Im Hintergrund strömten ebenso viele Menschen schon wieder aus dem Schloss heraus, wie immer noch in einer kompliziert gewundenen Schlange auf Einlass warteten. Wie Wasser in einem Kanal strömten sie die Royal Mile, die touristische Schlagader der Old Town hinab, die von verrußten, mittelalterlichen Häusern eng umschlossen wurde. Wer den Besuch im Castle schon abgehakt hatte, konnte jetzt in Souvenirshops mit einer schier endlosen Auswahl an Schals mit Schottenkaro oder bei Bier und Burger in einem gemütlichen Pub typisch schottische Lebensart tanken. Manche wagten sich aber auch aus dem Schutz der Vordächer heraus und durch die Princes Gardens, die in dem natürlichen Graben, der die Old von der New Town trennte, angelegt waren. Auf der anderen Seite angekommen wurden sie dafür von der breiten Princes Street belohnt, an der namhafte Markenstores mit schicken Glasfronten wie aufgereiht nebeneinander lagen.

Hatte das trübe Wetter, das zu allem Überfluss schon in die zweite Woche ging, also durchaus das Potential hart arbeitenden Edinburghern die Laune zu verderben, tat es dem touristischen Erlebnis kaum einen Abbruch. Viele Besucher schienen den stetigen Nieselregen sogar als festen Bestandteil ihres Wochenendprogramms zu betrachten - typisch schottisch eben.

Einige besonders Hartgesottene spazierten sogar auf dem Calton Hill, der die Royal Mile und die parallellaufende Princes Street am östlichen Ende begrenzte und quasi auf Augenhöhe mit dem Edinburgh Castle lag. Gut in grellbunte Wetterjacken verpackt fotografierten sie in zügiger Abfolge den schmalen Turm des Nelson Monuments, das National Monument, das dem griechischen Pantheon nachempfunden war, und dieses dritte Monument, das auf jeder zweiten Postkarte der Stadt zu sehen war. Dieses runde mit den Säulen, dessen Namen sich irgendwie keiner merken konnte. Dann versuchten sie noch, durch die grauen Schwaden den Firth of Forth am Horizont auszumachen, und bewunderten pflichtschuldig den fantastischen Blick auf die Stadt. Danach konnten sie sich endlich auf den Rückweg machen, um zum nächsten Programmpunkt überzugehen. Am besten dem mit Bier und Burger.

~

Hätte jedoch einer von ihnen das National Monument etwas eingehender betrachtet, das sich in seiner tonnenschweren Nutzlosigkeit (man konnte es tatsächlich noch nicht einmal betreten) düster vom grauen Himmel abhob, wäre ihm jemand aufgefallen, der es irritierenderweise nicht so eilig hatte, dem Wetter zu entkommen: Zwischen den Säulen und durch den Querträger mehr schlecht als recht von der durchdringenden Nässe geschützt saß ein Mädchen.

Zuerst fielen ihre rostroten Haare auf, die ihr lockig über den Rücken fielen. Der Rest des Mädchens verschwand fast in einem dunkelblauen Hoodie mit der Aufschrift „University of Edinburgh“. Dabei erschien ihr jeder Gedanke an ein Studium an dieser Universität genauso unrealistisch, wie den feuchten Sweatstoff auszufüllen. Beides war ihr mindestens drei Nummern zu groß. Aber eigentlich hatte sie solche Gedanken auch nie. Sie hatte mal gehört, die Zukunft sei ein Buch, dessen Seiten ein jeder selbst beschreiben konnte. Nur leider hatte sie immer das Gefühl, dass jemand in ihrem Buch schon herumgekritzelt hatte. Und das auch noch auf Chinesisch, sodass sie keine Ahnung hatte, was der Witzbold sich dabei gedacht hatte. Aber auch darüber machte sie sich eigentlich keine Gedanken. Ihr Leben war eben so, wie es war. Meistens funktionierte dieser Ansatz ganz gut. Klar, manchmal war das Leben auch einfach scheiße, aber das hatte ja wohl schließlich jeder mal, oder? Also nicht irritieren lassen und einfach weitermachen, schließlich lässt sich ja alles trainieren: Wenig Hoffnungen, keine Träume, keine großen Pläne. Dann war das Leben ok, nicht mehr und nicht weniger. Und so machte dieses rothaarige Mädchen eben das, was sie so machte. Wie zum Beispiel an einem kühlen Aprilsonntag auf dem National Monument zu sitzen und zu warten.

Heute wartete sie für ihren Geschmack aber schon entschieden zu lange. Sie war ja schließlich nicht zum Spaß hier und außerdem wurde ihr langsam kalt. Entnervt kickte sie mit ihrem Turnschuh eine gebrauchte Spritze beiseite. Ja, diese Souvenirs übersahen die Touristen immer, dabei war doch bekannt, was auf dem Calton Hill nachts so abging. Sie hatte dieses nächtliche Treiben schon des Öfteren miterlebt, trotzdem würde sie selbst nie etwas nehmen. Nur falls das jetzt jemand denken sollte.

Das Mädchen zog die Kapuze über den Kopf und duckte sich, als eine Familie mit zwei nörgelnden Kindern ziemlich dicht an ihrem Platz vorbeiging. Auf diese Leute wartete sie bestimmt nicht. Sie atmete auf, als alle vier an ihr vorbei waren, ohne sie zu bemerken. Vielleicht hatten sie sie auch gesehen, nahmen aber einfach keine Notiz von ihr. Nicht aufzufallen war fast wie unsichtbar zu sein, hatte sie festgestellt. Und das war eine Gabe.

Jetzt näherte sich ihr wieder eine Gestalt, aber dieses Mal erkannte sie schon von weitem ihre Kontaktperson. Na endlich!

„Hey, Swirrel!“, tönte der junge Mann schon, bevor er auf fünf Meter herangekommen war.

„Schrei noch lauter, Josh“, entgegnete die Angeredete mit gedämpfter Stimme und blickte dabei möglichst unbeteiligt in die andere Richtung. Man nannte sie Swirrel, Eichhörnchen, wegen ihrer roten Haare, die sie wie auch heute meist zu einem dicken Zopf band. Sie hasste diesen Spitznamen, denn er erinnerte sie ständig daran, dass ihre Haare rot waren wie eine Signalflagge. Außerdem waren die roten Eichhörnchen in Großbritannien vom Aussterben bedroht, na herzlichen Dank auch! Trotzdem war Swirrel ihr immer noch lieber als ihr richtiger Name, irgendwie anonymer.

„Stell dich nicht so an, hier is‘ doch kein Schwein.“ Josh steckte sich eine Zigarette an und blies bläuliche Kringel in den Regen.

„Jetzt sag‘ schon, was du zu sagen hast“, versetzte Swirrel entnervt, „ich hab‘ schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Oh, die Dame hat noch Verpflichtungen“, sagte Josh gedehnt und lachte, wobei er ein grunzendes Geräusch von sich gab. Der Typ ist wie ein ganzer Bauernhof, dachte Swirrel wieder einmal, lacht wie ein Schwein, hat ein Gesicht wie eine Ratte und ist doof wie ein Schaf. Wobei das jedem Schaf gegenüber eine Beleidigung war. Sie nannte ihn insgeheim deswegen auch „Unsere kleine Farm“. Das war einer ihrer Tricks sich Dinge einzuprägen, sie dachte sich passende Spitznamen dafür aus. Vielleicht wäre sie sogar auf die Sache mit Swirrel selbst gekommen. Zum Glück brauchte sie aber noch keine Eselsbrücke um sich zu merken, wer sie selbst war.

Als Josh aufgehört hatte zu lachen, baute er sich wichtig vor ihr auf: „Heute Abend steigt das Ding. 23:00 Uhr. Bushaltestelle am Theater. Crispy wird da sein. Kannst du dir das merken?“

Swirrel schnaubte. Natürlich konnte sie sich das merken. Sie war nur ehrlich überrascht, dass Josh das auch hinbekommen hatte. Sichtlich zufrieden mit dieser Leistung, blies er jetzt weitere Kringel in die Luft. Als er sich wieder umdrehte, war der Platz auf dem National Monument leer. Das Mädchen war verschwunden.

~

Swirrel grinste, als sie die Stufen vom Calton Hill hinuntereilte und unten angekommen über einen alten Friedhof huschte. Wie einfach war es doch, Josh unbemerkt stehen zu lassen. Jetzt musste sie nur noch schnell zurück in die Wohngruppe, sonst verpasste sie das Abendessen. Und das würde auffallen und Auffallen war das letzte, was sie wollte. Aber auch der Rückweg war einfach. Es war Sonntag, die Stadt war voll, da konnte sie einfach so in der Menge verschwinden. Außerdem war es ja schließlich nicht verboten, sonntagabends durch die Innenstadt zu spazieren. Sie nahm hier und da eine Abkürzung durch einen Hinterhof, dann hatte sie schon Tollcross erreicht. Dieser Stadtteil war bei weitem nicht so historisch wie die Old Town, so pompös wie die New Town oder so idyllisch wie das beschauliche Stockbridge. Dafür galt Tollcross inzwischen als in.

Swirrel bog um die letzte Ecke, dann verlangsamte sie ihre Schritte, strich sich die losen Strähnen aus dem Gesicht und ging gelassen weiter, als wäre sie nur mal kurz beim Kiosk gewesen. Das Haus, in dem ihre Wohngruppe untergebracht war, war ein schmuckloses, zweigeschossiges Gebäude, das niemandem auffiel und das von außen nicht preisgab, was sich drinnen befand. Das gefiel Swirrel irgendwie. Sie schloss lautlos die Tür auf und wollte schnell in ihrem Zimmer verschwinden, um den nassen Pulli loszuwerden. Sie hatte die Tür im ersten Stock schon fast erreicht, da hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich: Laurel Todd, 32 Jahre alt, Sozialarbeiterin und ihre Betreuerin hier in der Wohngruppe.

„Ally?“ Sie hasste es, wenn jemand sie beim Namen rief. Das war, als würde plötzlich ein Scheinwerfer auf sie gerichtet werden. Sie ignorierte die Stimme und ging weiter, aber Laurel ließ sich nicht abschütteln. „Allison Christie, ich rede mit dir!“ Das waren jetzt mindestens zwei fette Scheinwerfer.

Unwillig drehte sie sich um und setzte ein möglichst unschuldiges Lächeln auf. „Hallo Laurel, hab‘ dich gar nicht gehört.“

Laurel überging höflich, dass das äußert unglaubwürdig war und fuhr unbeirrt fort: „Bin ich froh, dass ich dich gefunden habe, ich suche dich schon den ganzen Nachmittag. Wo warst du denn?“

„In der Stadt“, antwortete Ally ausweichend und wollte weitergehen, aber Laurel ließ nicht locker.

„Und wo hast du so abgehangen? Los, sag‘ mal, vielleicht kannst du mir ja noch ein paar coole Spots verraten“, fragte sie aufgesetzt lässig.

Ally verdrehte die Augen. „Hier und da, war nur ein bisschen an der frischen Luft.“

Laurel änderte blitzschnell die Strategie, setzte ihr strenges Erwachsenengesicht auf und versuchte es noch einmal: „Allison Christie, du bist noch nicht volljährig und ich habe die Verantwortung für dich. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo du heute warst!“ Ally schwieg, was zeigte, wie wenig respekteinflößend Laurel war. Bei niemandem sonst hätte Ally sich das getraut.

„Du hast doch nicht wieder gestohlen?“, flüsterte Laurel jetzt übertrieben leise dafür, dass die beiden nach wie vor alleine im Flur waren.

„Ich habe noch nie gestohlen“, entgegnete Ally und das war die Wahrheit.

Ja, Ally schlich sich häufig fort und stromerte durch die Stadt, auch an Orte, die für ein junges Mädchen gemeinhin wenig typisch und auch wenig geeignet waren. Ja, Ally verkehrte mit Leuten, die man gut und gerne kleinkriminell nennen konnte. Neben ihrer Gabe, nicht aufzufallen, war sie klein und flink, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Zudem kannte sie die Stadt inzwischen besser als ihre Westentasche. All das machte Ally zum perfekten Spitzel. Und so erfuhr so manche zwielichtige Gestalt regelmäßig von ihr, wer mit offenem Fenster schlief, unter welchem Blumentopf der Haustürschlüssel versteckt war oder welcher Hotelgast die neueste Fotoausstattung im Gepäck hatte. Dass diese Betätigung auch nicht gerade ehrenhaft war, war Ally dabei egal. Sie stahl ja nie selbst. Und außerdem achtete sie penibel darauf, dass niemand auf Grund ihrer Informationen verletzt wurde, dann passte das schon. Naja, jeder zog seine moralischen Grenzen eben anders.

Laurel zuckte die Schultern. Ally war sich nicht sicher, inwieweit sie ihr glaubte. Dass Laurel ihre Streifzüge durch die Stadt so oder so nicht guthieß, war aber ohnehin klar. Ihre Betreuerin wollte, dass Ally das tat, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise taten: Mit ihren Mitbewohnern in der Küche sitzen und quatschen, mit den Klassenkameraden beim Imbiss abhängen, mit der besten Freundin shoppen gehen. Blöd nur, dass Ally eigentlich keine Freunde hatte. Was hätten die auch mit jemandem anfangen sollen, der kaum einen zusammenhängenden Satz herausbrachte, wenn mehr als zwei Leute dabeistanden. Aber sie fühlte sich in Gesellschaft einfach unwohl, denn Gesellschaft hieß, dass sie unweigerlich beachtet wurde. Allein die Vorstellung, in einer Boutique eine Jeans zu probieren und sich den Ratschlägen der Verkäuferin erwehren zu müssen oder auf die plumpen Flirtversuche ihrer Mitschüler einzugehen, war ihr ein Graus. Nicht dass sie all das nicht ausprobiert hätte, es führte aber leider nur zu dem Ergebnis, dass Ally regelmäßig im Boden versinken wollte. Laurel das klar zu machen, hatte sie bereits mehrfach versucht und inzwischen aufgegeben. Trotzdem ließ die Nervensäge sie einfach nicht in Ruhe.

Deswegen wunderte es Ally auch nicht, dass Laurel sie, jetzt wieder auf die kumpelhafte Tour, fragte, ob sie nicht zusammen zu Abend essen wollten, „um mal wieder zu quatschen“. Ally wollte das natürlich keinesfalls, denn quatschen hieß bei Laurel verhören, sie nickte aber schicksalsergeben.

Dabei war es auch nicht so, dass sie Laurel nicht ausstehen konnte. Sie traute ihr sogar und das war mehr, als Ally über jeden anderen Menschen sagen konnte. Aber Laurel war trotzdem eine nervige Klette. Was Ally daran besonders störte, war, dass die Sozialarbeiterin es dabei zwar ehrlich gut meinte, das aber vornehmlich aus beruflichem Ehrgeiz und weltanschaulichen Idealen. Allison Christie war eines ihrer Projekte, deswegen begegnete Ally ihr ebenso „auf Arbeitsebene“. Irgendwann würde sie nicht mehr hier wohnen und dann würde Laurel neue Projekte haben, deswegen lohnte es einfach nicht, irgendwelche Gefühle zu investieren. Das gehörte auch zu Allys Regeln, damit das Leben irgendwie ok war und es auch bleiben würde.

Dabei musste sie zugeben, dass Laurel ihren Job gut machte, besser als alle anderen Betreuer, die sie im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Ihr Beruf war ganz klar ihre Berufung und fügte sich nahtlos in ihre sonstige Lebenseinstellung ein: Laurel kämpfte für eine bessere Welt! Wenn sie nicht in der Wohngruppe arbeitete, war sie Vorstandsmitglied eines interkulturellen Vereins und schrieb Petitionen gegen die Verschmutzung der Meere durch Plastikabfälle. Sie selbst benutzte natürlich keinerlei derartige Verpackungen, sondern trug stets einen abbaubaren Jutebeutel bei sich. Gleiches galt für ihren Becher aus Bambus, aus dem sie ihren Bio-Tee schlürfte. Laurel ernährte sich ausschließlich vegan und verzichtete auch bei ihrer Kleidung auf jegliche tierische Materialien. Dagegen hatte Ally auch überhaupt nichts einzuwenden, aber warum mussten ihre Klamotten denn auch sonst so „öko“ aussehen? Wahrscheinlich weil genau das Laurel gefiel und so vervollständigte diese ihr Selbst mit einer lila Haarsträhne im kurzen Pixicut, unzähligen Festival-Bändern ums Handgelenk und einer kleinen afrikanischen Gottheit aus Holz, die stets in ihrem linken Ohrläppchen baumelte. Es war also nicht schwer zu erraten, warum Ally ihr den Spitznamen „die Engagierte“ gegeben hatte. „Mutter Theresa“ hatte auch zur Auswahl gestanden, aber die war in Allys Vorstellung nicht auf so eine verbissene Weise heilig.

~

Wenig später war Ally, endlich in einem trockenen Shirt, auf dem Weg in die große Gemeinschaftsküche, die sich in einem Anbau hinter dem Haus befand. Der Raum war dank mehrerer bodentiefer Fenster hell und in freundlichem Gelb gestrichen. Ein langer Holztisch mit verschiedenen Stühlen dominierte die Küche. Einige der zwölf Jugendlichen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, die hier in der Wohngruppe lebten, waren bereits versammelt. Manche halfen Susan, der zweiten Sozialarbeiterin in Vollzeit, beim Kochen, andere waren in ihre Smartphones vertieft.

Keiner von ihnen sah auf, als Ally eintrat. Schnell ließ sie sich auf den Stuhl gegenüber von Laurel sinken, die ihr völlig überflüssigerweise zugewinkt hatte. Als ob man sich hier in dieser Küche verfehlen könnte. Tapfer machte sie mit Laurel Smalltalk, bis das Essen auf dem Tisch stand. Kaum hatte sie aber den ersten Bissen auf der Gabel, stellte Laurel die Frage, die sie scheinbar schon den ganzen Tag auf der Zunge hatte: „Und? Jetzt erzähl‘ doch mal. Wie soll es jetzt bei dir weitergehen?“

Ich esse jetzt, dann gehe ich schlafen und um 23:00 Uhr treffe ich Crispy am Theater, dachte Ally, aber das wollte und durfte Laurel natürlich nicht wissen. Also antwortete sie nur vage: „Mal schauen.“

„Jetzt komm‘, Ally, das kann doch nicht dein Ernst sein“, ereiferte Laurel sich, „du bist sechzehn Jahre alt, da kann man doch erwarten, dass du dir wenigstens ein paar Gedanken für die Zukunft machst!“ Ally seufzte schwer. Nein, darüber wollte sie doch nicht nachdenken, geschweige denn mit Laurel darüber diskutieren. Brachte doch sowieso nichts.

Laurel seufzte ebenfalls. Wenn sie sich Ally so ansah, war es aber auch wirklich schwer zu glauben, dass das Mädchen bereits sechszehn war: Ally klein und elfenhaft zierlich, dazu kam das blasse Puppengesicht mit den Sommersprossen und den großen braunen Augen. Der ernsthafte Blick in diesen Augen war das einzige, was Laurel stets aufs Neue dazu brachte, dieses Mädchen nicht abzuschreiben. „Gut, dann überlegen wir jetzt mal gemeinsam. Im Sommer machst du deinen ersten Schulabschluss, du könntest danach weiter zur Schule gehen.“

Diese Möglichkeit war Ally natürlich bekannt, aber wollte sie das? Das bedeutete eine neue Klasse und eine neue Klasse bedeutete zum einen neue Mitschüler. Einige davon würden sie vielleicht einfach nur kennen lernen wollen, andere waren aber bestimmt nur darauf aus, ein neues Opfer für ihre Hänseleien zu finden. Und eine Rothaarige, die wie dreizehn aussah, im Heim lebte und den Mund nicht aufbekam, war doch die Idealbesetzung für diese Rolle, nicht wahr? Zum anderen bedeutete eine neue Klasse neue Lehrer. Mindestens die Hälfte von denen würde beim Verlesen der Namensliste bei ihr hängen bleiben: „Ally Christie? Du heißt ja wie diese Schauspielerin!“ Nein, das war Kristie Alley, so viel hatte Ally nach zahlreichen Vorfällen dieser Art schon herausgefunden, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, jemals einen Film mit dieser Dame gesehen zu haben. Aber allein die Ähnlichkeit der Namen führte dazu, dass Ally mehr Aufmerksamkeit zu Teil wurde, als ihr lieb war. Weiter zur Schule zu gehen, erschien ihr also nicht die beste Idee zu sein.

Laurel schien ihr Schweigen auch so zu deuten und fuhr fort: „Die andere Möglichkeit ist natürlich eine Ausbildung. Da gibt es ja diverse Möglichkeiten. Was meinst du, was dir liegen könnte?“ Das war die falsche Frage, dachte Ally und stocherte lustlos in ihren Nudeln herum. Egal, was ihr vielleicht lag (wobei sie im Moment keine Idee hatte, was das sein mochte), entscheidend war doch, ob sie es auch konnte. Allein die Vorstellung ein Bewerbungsgespräch durchzustehen verursachte ihr Bauchschmerzen. Und sollte sie dann wider Erwarten doch jemand einstellen, würde sie sogar mit Kunden sprechen müssen und zusätzlich zur Schule gehen. Also auch keine gute Idee.

Da war es doch besser, sie würde sich irgendeinen Job suchen, bei dem sie nur in irgendeinem Lager Pakete packen musste und niemanden interessierte. Ally konnte sich Laurels Reaktion auf einen solchen Vorschlag aber nur zu gut vorstellen, also sagte sie nur: „Ich überleg‘ mal, ok?“ Dann entschuldigte sie sich unter einem Vorwand und verschwand auf ihr Zimmer. Der Nudelteller auf ihrem Platz war noch fast voll.

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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