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Kapitel 7 Wangerooge, Mai 2018

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Zur gleichen Zeit balancierte Klara gerade gekonnt zwei Stücken Schokoladentarte sowie ein Stück Stachelbeertorte zwischen Kinderkarren und Hunden hindurch zu den wartenden Gästen an Tisch 18. Seit Tagen war es sonnig und hochsommerlich warm. Das musste zwar leider als klares Zeichen für den Klimawandel gedeutet werden, führte aber dazu, dass die Terrasse hinter Idas Haus brechend voll war. Trotzdem nahm Klara sich wie immer die Zeit, ein paar Worte mit den Gästen zu wechseln, während sie die Bestellung reservierte.

„Klara, Küche!“, rief Stina, die sich gerade ebenfalls mit einem vollen Tablett in ihre Richtung schlängelte.

„Bin sofort da!“ Klara verabschiedete sich mit einem Lächeln von der Familie an Tisch 18. „Das Paar an Tisch 4 möchte zahlen“, informierte sie Stina im Vorbeigehen leise, dann senkte sie die Stimme noch weiter und fragte: „Wo zum Teufel steckt Patrick schon wieder?“ Stina zuckte nur mit den Schultern, was die Bierflaschen auf ihrem Tablett gefährlich ins Wanken brachte, und eilte weiter. Da eine Servicekraft fehlte, kamen sie und Klara heute kaum zum Luftholen.

Klara verdrehte möglichst unauffällig die Augen. Der unselige Glasscherbenvorfall war leider nicht das einzige Ärgernis im Fall Patrick geblieben. Nachdem dieser zunächst nur lautstark bekundet hatte, dass die Arbeitsbedingungen im Hotel kurz gesagt schlicht menschenunwürdig waren, war er inzwischen augenscheinlich dazu übergegangen das Problem eigenmächtig zu lösen: Wenn die Frühschicht seinem Biorhythmus wiedersprach, kam Patrick eben erst eine halbe Stunde später nach unten geschlurft. Wenn es klar unter seinem Niveau war, Betten zu beziehen, legte Patrick den Stapel Bettwäsche eben nur auf dem Kopfkissen ab und ging wieder. Wenn das ältere Ehepaar am Ecktisch ihm zu geschwätzig war, wartete Patrick eben so lange am Tresen, bis Stina oder Julia sich erbarmt hatten, die Bestellung aufzunehmen. Klara hätte diese Liste im Kopf noch um einige Punkte ergänzen können, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. An der Küchenaufgabe warteten schließlich vier Portionen Currywurst, die nicht kalt werden durften.

Sie wollte das Gebäude gerade voll beladen wieder verlassen, da sah sie im Augenwinkel die Gruppe Radfahrer winken, die sich an den Tischen vor dem Gebäude niedergelassen hatte. Sie nickte ihnen durchs Fenster zu und formte mit den Lippen ein stummes „Bin gleich bei Ihnen!“. Dann umrundete sie geschickt zwei Kleinkinder, die auf dem Boden mit ihren Sandförmchen spielten, und erreichte endlich die Familie an Tisch 11, die sie bereits mit hungrigen Blicken verfolgt hatte. „Ich wünsche guten Appetit! Ketchup und Mayo bringt die Kollegin gleich.“ Klara gab Stina ein kaum merkliches Zeichen und wandte sich den Radfahrern zu. Was Patrick in Sachen Engagement und Lernwilligkeit fehlte, glich Stina gleich doppelt aus. Ein echter Glücksgriff! Klara lächelte. Auch wenn ihr heute Abend höchstwahrscheinlich Arme und Beine wehtun würden, liebte sie dieses Chaos doch.

Die Radfahrer wollten schnell zahlen, um noch vor dem Abendessen ihr Hotel zu erreichen. Klaras Blick streifte die Rennräder und die professionell anmutende Fahrradbekleidung und sie verkniff sich ein Schmunzeln. Es war gerade 16:30 Uhr und Klara schätzte, dass die Gesellschaft die fünf Kilometer bis zum Inseldorf in zwanzig Minuten bewältigt hätte. Wenn sie sich Zeit ließen. Wangerooge mochte zwar für die Insulaner und auch für viele Touristen das Größte sein, wirklich größer war das Eiland dadurch aber noch nicht geworden! Da jeder der acht Gäste für sich zahlte, dauerte es etwas, bis jeder sein Portemonnaie aus den engen Radtrikots geschält hatte. Klara nutzte die willkommene Verschnaufpause und ließ den Blick über den neuen Leuchtturm und die Wiesen schweifen, die sich direkt vor dem Haus erstreckten. Auf dem Deich zu ihrer Rechten schlenderte gerade Hand in Hand ein junges Pärchen.

Klara stutzte und sah noch einmal genauer hin. Er war groß und extrem muskulös, sie wasserstoffblond und für diese Insel ziemlich aufgebrezelt. Patrick und Julia. Da bestand überhaupt kein Zweifel! Julia hatte heute ihren freien Tag, das ging schon in Ordnung. Aber Patrick? Und er versuchte noch nicht einmal, nicht aufzufallen, er latschte da einfach seelenruhig vor sich hin! Wie dreist war das denn? Und seit wann waren die beiden eigentlich zusammen?

In der Zwischenzeit hatten sie Idas Haus erreicht und Patrick lief zumindest rot an, als er Klara vor dem Haus stehen sah. Julia kicherte bloß, als sei das Ganze ungemein komisch. Leider verstand Klara den Witz nicht. „Wir reden, wenn die Gäste weg sind. Macht euch irgendwo nützlich!“, sagte sie möglichst ruhig. „Also natürlich nur, solltet ihr zufällig nichts Besseres vorhaben.“ Diese Spitze konnte sie sich dann doch nicht verkneifen.

~

Es war schon halb acht, als die letzten Gäste gegangen waren. Eigentlich schloss das Café um 19:00 Uhr, aber natürlich wurde niemanden der halb volle Teller unter der Gabel weggezogen. Während Klara die Tische und Stühle windsicher zusammenstellte, ging sie im Kopf ihre Optionen durch: Dass sich Patrick doch noch zu einer echten Unterstützung mausern würde, hielt sie inzwischen für ausgeschlossen. Wie bei allen Aushilfen, war sein Vertrag auf ein halbes Jahr befristet, vom dem bereits einige Wochen abgelaufen waren. Trotzdem würden die noch verbleibenden Monate zu lang werden, wenn sie Klara nur Geld, Zeit und Nerven kosteten. Zum Glück hatte sie in den Arbeitsverträgen eine Probezeit von zwei Monaten vorgesehen. Anderenfalls wäre es selbst in einem scheinbar so klaren Fall wie hier schwierig geworden, das Arbeitsverhältnis vorzeitig zu beenden. Waren ihre Kenntnisse in Sachen Arbeitsrecht zu Beginn ihrer Selbstständigkeit noch recht dünn gewesen, wusste Klara inzwischen glücklicherweise recht sicher, was ging und was nicht ging.

Schnell rechnete sie im Kopf nach, ob die zwei Monate Probezeit auch wirklich noch nicht abgelaufen waren. Als sie feststellte, dass einer Kündigung nichts im Wege stand, atmete sie erleichtert auf, musste dann aber doch schlucken. Egal, wie sehr Patrick sie nervte, sie tat so etwas nie gerne. Aber es half ja nichts! Das Hotel war ein Wirtschaftsunternehmen, das Gewinne zu erzielen hatte, und keine soziale Einrichtung. Im Endeffekt ging es immer auch um Klaras Existenz, da konnte sie sich keine Sentimentalität leisten.

Keine zwanzig Minuten später hatte sie Patrick in ihrem Büro ihre Entscheidung mitgeteilt und ihn mit sofortiger Wirkung von der Arbeit freigestellt. Diesem war es zwar sichtlich peinlich, als Klara seine Verfehlungen noch einmal aufzählte, trotzdem wirkte er auch irgendwie erleichtert. Er war bestimmt ein guter Kerl, dachte sie, nur eben nicht für diesen Job. Nachdem er gegangen war, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und holte ihr Handy hervor. Sie wollte gerade Ralph anrufen, um ihm von den Neuigkeiten zu berichten, da klopfte es an der Tür.

„Ja, bitte?“

„Darf ich kurz stören?“, fragte Julia überraschend forsch und stand schon im Zimmer, bevor Klara antworten konnte. „Du hast Patrick echt gefeuert?“ Ihre Augen blitzten angriffslustig.

„Ja, ich habe das Arbeitsverhältnis im Rahmen der Probezeit beendet.“

„Dein Ernst? Wie kommst du dazu?“

Klara versuchte ruhig zu bleiben, es gab schließlich keinen Grund sich zu rechtfertigen: „Julia, das ist vertraulich und geht nur Patrick etwas an. Frag‘ ihn bitte selber, wenn du Näheres wissen möchtest.“

„Das hab‘ ich ja!“

„Was möchtest du dann jetzt von mir?“ Klara massierte sich die Schläfe. Sie hatte inzwischen Kopfschmerzen.

„Das ist doch Müll! Du denkst echt, dass dein beschissenes kleines Hotel der Nabel der Welt ist! Schon mal was davon gehört, dass es sonst noch was gibt im Leben?“

Schon mal was davon gehört, dass man so nicht mit seiner Chefin spricht? Klara sprach den Gedanken nicht aus, denn es hätte sowieso zu nichts geführt. Ihr war inzwischen klar, dass hier zu viele Hormone im Spiel sein mussten. Also erklärte sie Julia noch einmal, was ihr zuvor selbst bezüglich der Gewinnerzielungsabsicht von Wirtschaftsbetrieben durch den Kopf gegangen war, und fügte hinzu: „Und natürlich ist die Arbeit bei Weitem nicht das Einzige im Leben. Aber wenn man sich dazu entschieden hat, einen Job anzunehmen, muss man die geforderte Leistung auch erbringen. Euer Gehalt ist doch keine gut gemeinte Spende.“

„Und was, wenn ich mich nicht mehr dazu entscheide, diesen lächerlichen Job zu machen?“

„So eine Entscheidung sollte man nie leichtfertig treffen. Aber ich kann und werde dich natürlich nicht dazu zwingen, weiter hier zu arbeiten.“ Klara war ehrlich überrascht über die Richtung, die das Gespräch eingeschlagen hatte.

„Wenn Patrick geht, gehe ich auch!“, verkündete Julia entschieden und schob die Unterlippen vor wie ein schmollendes Kleinkind.

„Das ist natürlich schade, aber ich werde meine Entscheidung bezüglich Patrick nicht zurücknehmen. Ich denke, das kannst du verstehen.“ Klaras Kopfschmerz hatte sich irgendwo hinter der linken Augenbraue festgesetzt und forderte sie eindringlich auf, diese Unterhaltung zu beenden. „Wenn du sicher bist, dass du das willst, brauche ich von dir eine schriftliche Kündigung.“

„Was muss drinstehen?“, fragte Julia ungeduldig, während sie ein Blatt Papier aus dem Drucker zupfte.

„Julia, du musst nichts überstürzen“, versuchte Klara sie doch noch zu beruhigen.

„Will ich aber. Also was soll ich schreiben?“

„Dass du das befristete Arbeitsverhältnis im Rahmen der Probezeit unter Einhaltung der Frist von zwei Wochen kündigst. Oben deine Adresse, darunter meine, dann der Text und deine Unterschrift“, erklärte Klara resigniert, „das heißt dann, du bekommst noch für die nächsten zwei Wochen dein Gehalt, ich werde dich aber wie Patrick ab sofort freistellen.“. Sie hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Julia während der zweiwöchigen Kündigungsfrist weiterarbeiten zu lassen, aber welchen Sinn hätte das noch gehabt? Die aufgedrehte und etwas oberflächliche Julia mit ihrem schwarzen Eyeliner, dem auffälligen Modeschmuck und den pinken Hotpants war nicht wirklich ihr Typ, aber sie war ein nettes Mädchen und hatte in den letzten Wochen gute Arbeit gemacht.

„Es tut mir leid, dass es jetzt so endet“, sagte sie deswegen auch, als Julia ihr die handgeschriebene Kündigung hinhielt, und meinte es auch so, „wenn du es dir anders überlegst, steht dir die Tür hier offen.“

Julia wirkte wie eine Rakete, der plötzlich der Treibstoff ausgegangen war, als sie leise antwortete: „Mir tut es auch leid. Aber ich will bei Patrick bleiben.“

„Dann bleibt mir nur, euch beiden alles Gute zu wünschen.“ Klara versuchte ein Lächeln, auch wenn ihr das in Anbetracht der Arbeit, die jetzt erstmal von vier Händen weniger erledigt werden musste, schwerfiel. „Ihr verabschiedet euch morgen noch, bevor ihr geht?“ Julia nickte, dann war sie auch schon aus der Tür heraus.

Klara blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn, dann steckte sie ihr Handy wieder in die Tasche. Heute war ihr nicht mehr nach einem Telefonat mit Ralph. Sie wollte jetzt nur noch den Hund aus ihrer Wohnung holen und sich am Strand die Kopfschmerzen wegpusten lassen. Und dann schlafen.

~

„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, platzte es aus Klara heraus, als hätte man hoch explosiven Sprengstoff gezündet. In diesem Fall handelte es sich aber um eine kontrollierte Sprengung, für die Ralph den Auslöser in der Hand hielt. Gelassen lehnte er sich zurück und beobachtete, wie Klara aufgesprungen war und jetzt in ihrem Wohnzimmer auf und ab ging. Ralph kannte diese erste Phase eines Veränderungsprozesses sowohl theoretisch als auch praktisch aus zahlreichen Beratungsprojekten. Sie war in den allermeisten Fällen genauso kurz wie heftig. Also wartete er ab und ließ den bisherigen Verlauf des Tages Revue passieren.

Nachdem er gestern Gouldings E-Mail gelesen hatte, war ihm schnell klar geworden, dass er Klara weder am Telefon von seiner Idee überzeugen, noch bis zum nächsten Wochenende damit warten konnte. Schließlich hatte die Woche gerade erst angefangen und Goulding suchte schon ab Mitte Juni einen Praktikumsplatz für seinen Schützling. Also hatte Ralph noch am Abend seine Assistentin gebeten, seine Termine für die nächsten eineinhalb Tage zu verschieben, und hatte sich früh am nächsten Morgen ins Auto Richtung Harlesiel gesetzt. Klara hatte er nicht mehr angerufen und da sie sich gestern auch nicht gemeldet hatte, hatte er sie einfach mit seiner Ankunft überraschen wollen.

Gegen 10:00 Uhr hatte er bereits beim Flugplatz geparkt und keine Viertelstunde später war die Cessna bereits in der Luft gewesen. Die Flüge zur Insel waren zwar teurer als die Fährverbindung, dafür aber auch deutlich schneller und tideunabhängig. In nur fünf Minuten überwanden die Inselflieger den schmalen Streifen Nordsee zwischen Wangerooge und dem ostfriesischen Festland. Diese fünf Minuten liebte Ralph aber, sodass er immer gerne auf das Flugzeug auswich, wenn gerade keine Fähre fuhr. Heute waren sie über ein gelb leuchtendes Rapsfeld hinweg gestartet, bevor die Maschine abdrehte und das Wattenmeer überflog. War wie heute Niedrigwasser, konnte man von oben ein erstaunliches Gemälde aus Prielen, Sandbänken und Wasserflächen bewundern. Neben Ralph waren heute vier weitere Passagiere an Bord gewesen: Zwei Touristinnen aus Bayern, die der wackligen, kleinen Cessna und dem lauten Getöse der Turbinen mehr als skeptisch gegenübergestanden hatten, ein Heizungsmonteur inklusive Ausrüstung sowie eine Styroporkiste mit frischem Fisch für eines der Inselrestaurants, die Sandra vom Flugplatz Ralph kurz vor Start auf den Schoß gedrückt hatte. Ein ganz gewöhnlicher Flug also.

Nach einem ausgiebigen Spaziergang über die Insel, um vom Flugplatz zu Idas Haus zu gelangen, hatte er sich frisch und siegessicher gefühlt und war Klara mit einem breiten Grinsen und einem langen Kuss entgegengetreten. Diese hatte erstaunlich kühl auf seine Überraschung reagiert, was Ralph erst jetzt im Nachhinein richtig bewusst wurde. Trotzdem war bisher alles glatt gelaufen. Zunächst hatte er schnell einige Tische abgeräumt (es passte so gar nicht zu Klara, schmutziges Geschirr so lange stehen zu lassen, aber auch diesen Gedanken hatte er nicht weiterverfolgt), dann hatte er sich mit seiner Frau und zwei Espressi in ihre Wohnung zurückgezogen und seine Idee präsentiert. So weit, so gut.

Er folgte Klara mit den Augen, die immer noch durchs Wohnzimmer tigerte. „Das kann wirklich nicht dein Ernst sein“, wiederholte sie jetzt noch einmal und ließ sich in einen Sessel fallen. Bevor Ralph seine sorgfältig präparierten Argumente auch nur vorbringen konnte, fuhr sie fort: „Weißt du eigentlich, was hier los ist? Patrick musste ich gestern entlassen und dann hat Julia auch gleich gekündigt! Kannst du dir das vorstellen?“

„Naja, die beiden hatten schließlich was miteinander“, erwiderte Ralph trocken und merkte zu spät, dass sie das nur noch aufgebrachter werden ließ. Anscheinend waren Klara im Gegensatz zu ihm die Blicke, mit denen Patrick seine Kollegin regelmäßig aufgefressen hatte, nicht aufgefallen. Da sollte noch mal einer sagen, Männer wären nicht sensibel!

„Ist ja auch ganz egal“, ereiferte Klara sich weiter, „auf jeden Fall haben sie heute Morgen beide die erste Fähre genommen, ich weiß gerade nicht, wie ich den Laden am Laufen halten soll, und dann tauchst du hier auf und kommst mir mit so einem Vorschlag. Wir sind doch kein Ferienlager!“ Ihre blauen Augen fixierten ihn und warteten offensichtlich auf eine Antwort. Ralph beeilte sich, seine Argumentation den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Er musste sich kurz selbst daran erinnern, dass er es gewohnt war mit unvollständigen Briefings zu arbeiten und dass gerade in solchen Situationen Spontaneität zu seinen Stärken gehörte.

„Aber das passt doch dann perfekt!“, verkündete er schließlich. Klara schnaubte nur. Das Wort „perfekt“ war wohl das letzte, mit dem sie die derzeitige Situation umschreiben würde.

„Nein, wirklich. Schatz, überleg‘ doch mal“, fuhr Ralph fort, während er sich fast verschwörerisch zu ihr vorlehnte, „dir fehlt eine Aushilfe und genau in diesem Moment bekommst du jemanden auf dem Silbertablett serviert. Das ist doch schon fast Schicksal.“ Jetzt grinste er, denn er wusste natürlich, dass seine Frau dem Konzept Schicksal sehr kritisch gegenüberstand. Auch Klara musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Wenn Ralph da war, fühlte sich alles gleich viel leichter an. Überzeugt hatte er sie trotzdem noch lange nicht!

„Du hast eine Sache vergessen.“ Sie lehnte sich ebenfalls nach vorne, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Mir fehlt nicht eine Aushilfe, mir fehlen zwei!“

„Das heißt, wenn ich dir noch eine zweite Kraft besorge, sagst du Ja?“ Ralph war durchaus bereit, sich auf den Handel einzulassen.

„Nein.“ Klara lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du das nämlich nicht schaffst, ist es zu spät, um diesem Abgeordneten wieder abzusagen. Das heißt, das gesamte Risiko würde bei mir liegen.“

„Klingt nach einem schlechten Deal“, musste Ralph zähneknirschend zugeben.

Während er noch überlegte, was er stattdessen anbieten könnte, sprach Klara schon weiter: „Kein Problem, ich habe eine bessere Idee. Du hast doch im Sommer vier Wochen Urlaub, um an deinem Buch zu schreiben. Wenn du niemanden findest, arbeitest du diese vier Wochen stattdessen im Hotel mit.“ Sie lächelte unschuldig. Langsam fing die Sache an, ihr Spaß zu machen!

Ralph fuhr sich über seine Bartstoppeln. Er hatte sich heute Morgen noch nicht mal die Zeit zum Rasieren genommen. Ihm gefiel so gar nicht, was Klara da vorschlug, aber wenn es die einzige Lösung war? Er wusste selbst nicht warum, aber er wollte inzwischen unbedingt, dass Projekt Whisky ein Erfolg wurde.

„Gut, dann schlag ein.“ Er hielt ihr die ausgestreckte Hand hin und freute sich über ihr sichtlich perplexes Gesicht. Damit hatte Klara wirklich nicht gerechnet.

„Na schön, wenn es dir so wichtig ist, nehmen wir die Praktikantin.“ Ihre Hände hatten sich schon fast berührt, da zog sie die Hand zurück und ballte sie stattdessen zur Faust.

„Was ist mir dir, Schatz?“, reagierte Ralph sofort besorgt auf ihren Stimmungsumschwung.

„Das Mädchen, von dem du erzählt hast, ist sechzehn und wenn ich das richtig verstanden habe, nicht ganz einfach. Das ist eine große Verantwortung, die wir da übernehmen würden. Wir sollten uns sicher sein, dass wir das leisten können. Nicht nur unseretwillen, auch ihr zuliebe. Wir dürfen nicht darüber entscheiden, als wäre es ein Spiel.“

„Du hast Recht, wir dürfen nicht nur an uns und das Hotel denken. Aber gerade deswegen halte ich es für eine gute Idee. Ich habe Maxwell Goulding kennen gelernt und wenn er diesem Mädchen eine Chance geben möchte, hat er gute Gründe dafür. Sie hat es bisher nicht leicht gehabt.“ Ralph nahm Klaras Hand in seine und löste vorsichtig ihre verkrampften Finger. „Mit diesem Hotel hier am Meer haben wir uns doch unser kleines Paradies geschaffen. Es wird bestimmt auch ihr guttun hier zu sein. Und es wird ihr guttun, wenn du dich ein bisschen um sie kümmerst. Ich kann mir niemand Besseres dafür vorstellen.“ Dieses Argument hatte Ralph sich absichtlich bis zum Schluss aufgespart und während er es aussprach, merkte er, wie sehr er tatsächlich davon überzeugt war.

Klara zögerte. Sie war keineswegs davon überzeugt, dass sie die Richtige für diese Aufgabe war. Vielmehr war sie sich sicher, genau die Falsche dafür zu sein. Diese Praktikantin würde keine gewöhnliche Aushilfe sein, sie war ja fast noch ein Kind. Noch dazu ein Kind, das anscheinend Hilfe brauchte. Ok, Klara, sei nicht albern, mit sechzehn Jahren ist man durchaus schon selbstständig und muss nicht mehr gefüttert werden, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Trotzdem echote dieses eine Wort wieder und wieder in ihrem Kopf. Kind. Nein, Klara konnte das nicht. Sie öffnete den Mund, um Ralph genau das zu sagen. Sie wusste, dass er sie dann nicht weiter bedrängen würde. Trotzdem sprach sie es nicht aus, sondern klappte den Mund einfach wieder zu. Denn seit Ralph ihr von seinem wahnwitzigen Plan erzählt hatte, war da dieses Gefühl. Es war ein leichtes, ein gutes Gefühl. Als würde ein Luftzug ein Windspiel zum Klingen bringen. Sobald sie sich aber umwandte, um das Windspiel zwischen den grünen Zweigen zu entdecken, war der Wind verebbt und das Klingen war nur noch eine Erinnerung.

Sie sah aus dem großen Dachfenster. Das Dünengras wiegte sich sanft im leichten Wind, dahinter lag das Meer und funkelte im Licht der grellen Mittagssonne wie ein riesiger Saphir. Von der Terrasse drang das dröhnende Lachen von Nils, ihrem Koch, sowie das Kichern einiger Mädchen nach oben. Bestimmt hatte er ihnen gerade einen seiner Witze erzählt, die nur er lustig fand. Wenn er aber anfing zu lachen, musste trotzdem jeder mitlachen... Ralph hatte Recht, sie hatten sich hier ein kleines Paradies geschaffen. Vielleicht waren sie es diesem Mädchen wirklich schuldig, etwas von ihrem Glück zurückzugeben. Vielleicht war gerade sie, Klara Klassen, es diesem Kind schuldig.

Mitte Juni bis Mitte Oktober, hatte Ralph gesagt, also vier Monate. Das war keine Ewigkeit. Stina würde da sein und könnte die junge Kollegin an die Hand nehmen. Im besten Fall hätten sie bis dahin eine weitere neue Aushilfe gefunden. Klara atmete noch einmal tief durch, dann öffnete sie den Mund erneut: „Ok.“ Während Ralph sie stürmisch küsste, wurde ihr klar, dass sie nichts über dieses Mädchen wusste. Noch nicht einmal ihren Namen. Vielleicht wollte sie das im Moment auch noch gar nicht.

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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