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Kapitel 2 Wangerooge, April 2018

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Klara Klassen, geborene Spelmeier, war immer noch eine schöne Frau. Das hielt sogar ihrem kritischen Blick in den Spiegel und der gnadenlosen Badezimmerbeleuchtung stand. Vielleicht war sie jetzt mit 49 Jahren sogar noch schöner als mit Anfang zwanzig. Ihr honigblondes Haar fiel seidig und ohne eine einzige graue Strähne über ihre Schultern. Ihre Augen strahlten immer noch in unzähligen Blauschattierungen, als hätten sie das ganze Meer in sich aufgesogen. Trotz der frühen Jahreszeit war ihr Gesicht durch die viele Zeit an der frischen Nordseeluft schon leicht gebräunt und auf der Nase zeichneten sich zarte Sommersprossen ab. Diese fielen aber kaum jemandem auf, denn außer ihrem Mann kamen nur wenige Klara jemals nah genug. Ihr stolzer Blick hielt andere auf Distanz. Mit den Jahren war aus dem Stolz, den sie sich als Teenager mühsam antrainiert hatte, echter Stolz auf das Erreichte geworden und genau dieses Selbstbewusstsein machte Klara heute so anziehend.

Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann zog sie eine praktische Fleecejacke über ihre schlanken Arme und eilte aus dem Bad. Als sie im Wohnzimmer des hellen Apartments, das in schlichtem, aber hochwertigem skandinavischen Stil eingerichtet war, nach ihrem Handy suchte, fiel ihr Blick auf das gerahmte Foto, das dort auf der Anrichte stand:

Sie selbst in einem luftigen, geblümten Sommerkleid, aus vollem Herzen lachend. Neben ihr stand ein braun gebrannter Mann mit einem spitzbübischen Grinsen, in dessen dunkles Haar sich bereits größere Mengen Grau mischten. Ralph. Niemand sonst konnte sie so zum Lachen bringen wie er, bei niemanden sonst konnte sie sich so fallen lassen. An dem Abend im letzten Sommer, an dem dieses Bild aufgenommen worden war, war er ganz spontan mit ihr zum Jahrmarkt ans Festland gefahren, in dem kleinen offenen Motorboot eines Freundes. Bei jeder Welle, die das Boot nahm, war Wasser aufgespritzt und Klara hatte jedes Mal gequietscht. In Harlesiel angekommen waren sie komplett nass und hatten an einem der Marktstände ihr Sommerkleid mit den pinken Blümchen und ein Shirt mit Sesamstraßen-Aufdruck für Ralph kaufen müssen. Klara hatte sich kaputtgelacht, als sie ihn damit gesehen hatte. Sie waren sogar mit dem Riesenrad gefahren, hatten sich dabei einen Liebesapfel geteilt und Klara hatte sich gefühlt wie ein verliebter Teenager. Dabei war sie eigentlich froh, dass sie dieses Alter hinter sich hatte. Damals hatte es Ralph noch nicht in ihrem Leben gegeben und wer weiß, wo sie heute ohne ihn wäre. In den vergangenen Jahren hatte sich alles zum Guten gewendet. Alles, außer dieser einen Sache, die nie wieder gut werden konnte. Klara erinnerte sich selbst daran, dass sie mit ihrem Leben, so wie es heute war, sehr zufrieden sein konnte.

Als sie das Apartment verließ und durch die noch menschenleeren Gänge und vorbei an der Rezeption Richtung Terrasse ging, fiel ihr dieser Gedanke leicht. Alles war nicht nur blitzsauber, sondern auch geschmackvoll und mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Klara hatte Stunden auf Märkten und in kleinen Boutiquen verbracht, um die Lampenschirme, Spiegel, Kerzenhalter und Zuckerdosen zusammenzutragen. Jetzt bildeten alle Teile zusammen mit den schlichten Holzmöbeln und hellen Stoffen ein harmonisches Ganzes. Ja, hier konnten die Gäste sich wohlfühlen.

Die Liebe zu Hotels begleitete Klara bereits seit ihrer Kindheit. Deswegen hatte sie nach dem Abitur zum großen Entsetzen ihrer Familie und Lehrer eine Ausbildung im Hotelgewerbe begonnen. Wie konnte sie nur? Bei ihren Abschlussnoten hätte sie Medizin oder Jura studieren können. Aber das Gefühl, sich in frisch gestärkte Bettwäsche fallen zu lassen, oder der Anblick eines liebevoll arrangierten Frühstücksbuffets, konnten ihr ein Lächeln ins Gesicht zaubern, egal wie mies der Tag auch gewesen sein mochte. Dieses Lächeln auch anderen zu entlocken, empfand sie als fast ebenso edle und sinnvolle Aufgabe, wie Kranke zu heilen oder Angeklagte zu verteidigen. Diese Leidenschaft, ihr Ehrgeiz und ihr Intellekt hatten dazu geführt, dass sie schnell in der Branche fußfasste. Sie verstand ein Hotel als das komplexe und empfindliche System, das es eben war und das nur funktionierte, wenn alle Rädchen abgestimmt ineinandergriffen. Das bedurfte einem perfekten Plan und dessen disziplinierter Umsetzung und dafür war Klara genau die Richtige. Zudem waren die Gäste schon seit ihrem ersten Arbeitstag an regelmäßig dem Charme ihrer blauen Augen, ihres Lächelns und ihrer fein gedrechselten Sätze erlegen.

Aber so höflich und charmant sie den Gästen gegenüber war, so unnachgiebig und herrisch konnte sie ihre Kollegen und später ihre Mitarbeiter behandeln. Wenn Klara wusste, wie etwas funktionieren musste (und sie wusste es in den allermeisten Fällen tatsächlich), dann sagte sie es auch. Das hatte sie sich schließlich geschworen und sie hielt sich daran. Auch wenn es ihr anfangs so schwergefallen war, dass sie sich manche Stunde weinend auf dem Schulklo verstecken musste, war es ihr irgendwann wirklich vollkommen gleichgültig geworden, was andere über sie dachten. Ja, wer nicht angreifbar sein will, wird eben hart. Dass diese Einstellung sie irgendwann in die Selbstständigkeit führen würde, hatte Ralph ihr schon prophezeit, lange bevor Klara selbst diese Idee gehabt hatte. Heute wusste sie, dass es der richtige Schritt gewesen war. Als Chefin war sie zwar gefürchtet, aber geachtet, als Angestellte aber war sie mit wachsender Erfahrung immer häufiger angeeckt.

Auch war es die richtige Entscheidung gewesen, auf diese Insel, die ihr an jenem schicksalhaften Nachmittag damals im Oktober quasi das Leben gerettet hatte, zurückzukehren. Dass es dazu gekommen war, kam Klara manchmal wie ein kleines Wunder vor. Dabei wusste sie natürlich, dass es so etwas wie Wunder rational betrachtet überhaupt nicht gab. Trotzdem erinnerte sie sich immer gerne an den Tag vor inzwischen elf Jahren zurück, an dem sie dieses Haus, das heute ihr Hotel war, entdeckt hatte. Der weniger rationale Teil von ihr, der klein, aber hartnäckig war, hatte sofort gewusst, dass das vernachlässigte Gebäude einmal ihr Hotel werden würde.

~

Es war damals eine besonders stressige Zeit gewesen, was für Klara immer bedeutete, dass sie früher oder später Meerweh bekam. Unzählige Orte an der Nord- und Ostsee hatte sie mit Ralph in den Jahren zuvor bereits erkundet: Egal ob Rügen, Sylt, Büsum oder Norderney, Hauptsache der Wind wehte und der Horizont war endlos. Aus irgendeinem Grund war Klara aber ausgerechnet in diesem Jahr Wangerooge wieder eingefallen.

Ein paar Wochen später hatten die Klassens dann an einem windigen Freitag im November auf dem Oberdeck der Fähre gestanden. Als Klara die eckige Kontur des Westturms, die schemenhaft aus dem herbstgrauen Dunst auftauchte, nach fünfundzwanzig Jahren wiedersah, verspürte sie ein merkwürdiges Kribbeln in der Magengegend. Sie musste wirklich total überspannt sein! Gut, dass jetzt ein herrlich faules, verlängertes Wochenende vor den beiden lag. Am nächsten Tag schlenderten sie nach einem ausgiebigen Frühstück zunächst durch die kleine Einkaufsstraße, bevor sie zu einem ausgedehnten Streifzug über die Insel aufbrachen. Der Himmel war immer noch grau, die Heide vertrocknet und die Möwen schrien klagend, aber Klara merkte schon nach wenigen Metern, wie die Weite der Nordsee mit ihrer rauen Schönheit ihre Kraftreserven auffüllte. Sie folgten den rot gepflasterten Fußwegen immer weiter, bis sie das westliche Ende der Insel erreicht hatten. Hier war die Dünenkette zur Seeseite hin mit Beton, Asphalt und Schutt befestigt, um die Nordsee daran zu hindern, sich die Insel bei Sturmfluten Stück für Stück zurückzuholen. Stand man auf dieser Befestigung, die die Insulaner Deckwerk nannten, konnte man bei klarer Sicht westlich die Nachbarinsel Spiekeroog ausmachen, drehte man sich um 180°, hatte man einen guten Überblick über die Insel selbst. Neben dem Westturm aus dunklem Backstein und dem rot-weiß geringelten neuen Leuchtturm gab es im Inselwesten nur wenige Gebäude. Keine weiß getünchten Villen, die an Wangerooges Vergangenheit als mondänes Seebad erinnerten, oder schnuckelige Einfamilienhäuser standen hier, sondern praktische Bauten, die gemacht waren, um dem rauen Klima zu trotzen.

Klaras Blick wanderte langsam weiter Richtung Anleger, da sah sie es zum ersten Mal: Etwas abseits der anderen Gebäude, duckte sich ein Haus aus rotem Backstein in die Dünen. Ohne dass sie es hätte benennen können, hatte dieses Haus etwas an sich, dass sie wie magisch anzog. „Komm‘, Schatz, das schauen wir uns mal an!“ Sie gingen auf dem Deckwerk weiter, bis sie einen verschlungenen Dünenpfad erreichten, der direkt auf das Haus zuführte. Klara zögerte.

„Was ist denn?“, fragte Ralph. „Du wolltest es dir ansehen, also gehen wir hin.“

„Vielleicht ist das Privatgelände“, überlegte die brave Klara und sah sich so unbehaglich um, als würde sie einen Banküberfall planen.

„Steht hier ein Schild? Nö! Dann also los.“ Damit zog Ralph sie am Ärmel und schon nach wenigen Minuten hatten sie das Haus erreicht. Der Bau war länglich und schlicht und das Dach weit nach unten gezogen. Das Besondere aber waren die Fenster, die in einem leuchtenden Meerblau gestrichen waren. Hier und da blätterte die Farbe ab.

„Ich denke, hier wohnt keiner mehr“, meinte da auch Ralph und ging ungeniert um das Haus herum. Klara folgte ihm und sah, dass sich nach hinten heraus ein rechtwinkliger Anbau an das Haupthaus anschloss. Dieser wiederum reichte bis zu einem großen Holzschuppen heran, den sie für eine Scheune gehalten hätte, würde sie nicht wissen, dass es auf der Insel keine Landwirtschaft gab. Alles wirkte alt und vernachlässigt, man spürte aber noch deutlich die liebevolle Hand, die dieses Fleckchen Erde einst geschaffen haben musste. Sie gingen noch ein Stück weiter und entdeckten an der Hausseite, die zur Straße gerichtet war, ein rotes Schild mit weißer Schrift: Zu verkaufen. Ralph deutete darauf und zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

„Quatsch!“ Klara schüttelte energisch den Kopf, ging aber noch einmal zum Haus zurück. Durch eine verstaubte Scheibe sah sie drinnen etwas, das nach einem Verkaufstresen aussah, sowie ein Gewirr aus Stühlen und einigen Tischen. „Du, ich glaube, das war mal ein Café“, überlegte sie und konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme aufgeregt klang. Ralph hatte bereits sein Handy gezückt und begann zu tippen. „Was machst du?“, fragte Klara skeptisch.

Ralph grinste. „Ich ruf‘ den Makler an.“ Er deutete auf die Telefonnummer auf dem roten Schild.

„Das ist verrückt!“

„Warum?“ Ralph zuckte die Schultern. „Nur mal gucken kostet ja nichts.“ Dachte Klara später an dieses Moment zurück, beschlich sie jedoch der Verdacht, dass Ralph von Anfang an die Chance gewittert hatte, sie endlich in die Selbstständigkeit zu schubsen.

Der Makler wohnte nicht weit von Harlesiel entfernt und wollte sich tatsächlich schon am nächsten Tag mit ihnen für eine Hausbesichtigung treffen. „Hab‘ ich noch nicht lange im Angebot“, erklärte er, als er umständlich die von der Feuchtigkeit verzogene Tür aufschloss, „stand aber lange leer, bevor sich die Erben jetzt zum Verkauf entschlossen haben.“

Fast ehrfürchtig betrat Klara das Haus und sah sich um. „Leider ist der Zustand nicht mehr der beste“, murmelte der Makler in ihrem Rücken, der das Haus heute anscheinend zum ersten Mal sah. „Dafür ist der Preis aber auch fair, obwohl das Grundstück allein schon ein Vermögen wert wäre.“ Mit seiner ersten Aussage hatte er dabei zweifellos Recht: Das wenige Mobiliar war alt und abgenutzt, die Wände fleckig und die Fenster zugig. Jedoch waren die Zimmer schön geschnitten und das Haus war von innen geräumiger, als es von draußen erschien.

Klaras Fantasie lief auf Hochtouren und in ihrem Kopf explodierten die Bilder. „Hier unten müsste wieder ein Café rein und draußen hat man dann eine herrliche Sonnenterrasse in den Dünen. Und in den Anbau kommen Gästezimmer.“ Der Makler führte sie jetzt durch einen Flur ins erste Obergeschoss und Klara erstarrte. „Und hier würden wir wohnen“, flüsterte sie und griff nach Ralphs Hand. In der Tat war das Zimmer, in dem sie gerade standen, außergewöhnlich: Mehrere Dachfenster ließen den Raum selbst an diesem trüben Novembertag hell erscheinen. In die Dachschräge war Richtung Westen ein großer Giebel mit einem halbrunden Fenster eingelassen, das den Blick auf die Dünen freigab. Vor allem aber konnte man von hier aus das Meer sehen, das in diesem Moment ruhig und einladend da lag, als würde es auf sie warten.

Als die beiden am Ende des Tages in einem gemütlichen Insellokal aufs Abendessen warteten, sprudelte Klara immer noch vor Ideen. Alles rein hypothetisch versteht sich.

„Soso, wollen Sie hier also ein Haus kaufen“, fragte der Wirt, als der die Getränke brachte, ohne anstandshalber wenigstens so zu tun, als hätte er nicht mitgehört.

„Das war nur so ein Gedanke, wahrscheinlich eher nicht“, schränkte Klara gleich ein, aber Ralph nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich, ob der Mann etwas über das leerstehende Haus am Westturm wusste.

„Soso, ihr meint Idas Haus“, erwiderte dieser, als würde das alles erklären.

„Wer ist Ida?“, fragte jetzt auch Klara neugierig nach.

„Wer war Ida, ist wohl eher die Frage. Ida Paulsen, sie hat viele Jahre in dem Haus gewohnt und hatte auch lange so’n kleinen Kiosk da.“ Klara fiel ein, dass sie während der Klassenfahrt damals dort Erdbeermilch gekauft hatten. Es hatte aber auch Spülmittel, Dosentomaten und Zahnpasta dort gegeben. „Anfang der Achtziger ist ihr der Laden dann zu viel geworden“, fuhr der Wirt fort, „da war sie aber schon weit über siebzig. Ist dann aber noch bis zu ihrem Tod in dem Haus geblieben. 2000 war das, da erinner‘ ich mich noch genau dran.“

Idas Haus. Ein freudiger Schauer lief Klara über den Rücken. Das Haus hatte also wirklich eine Seele.

„Es gab auch ein kleines Café in Idas Haus, oder?“, erkundigte sie sich, als der Wirt wenig später die gebratenen Schollen (die wirklich vorzüglich waren) servierte.

„Joa, kann schon sein, dass die alte Ida da mal Kaffee verkauft hat“, brummte er. „Heute ist sowas dann ja immer gleich ein Café und es gibt Cappuccino und so’n Gedöns.“ Er verschwand, um einen anderen Tisch zu bedienen, tauchte aber wenig später wieder auf.

„Soso, Hamburger seid ihr also und wollt Idas Haus kaufen“, stellte er noch einmal fest und sah sie argwöhnisch an. „Wollt ihr dann bestimmt abreißen und so schicke Apartments bauen lassen.“

„Nein!“, rief Klara aus tiefstem Herzen. „Das Haus muss stehen bleiben. Ich würde gerne ein kleines Hotel daraus machen. Mit einem Café natürlich“, fügte sie fast schüchtern hinzu.

„Soso, ein kleines Hotel willst du daraus machen“, echote der Wirt und rieb sich den Schnurrbart. „Stell‘ dir dat man nicht so einfach vor, Deern. Da brauchst du mehr als so’n bisschen schaumige Milch. Die Touris müssen da erst mal hinkommen, in den Westen. Und wir Insulaner sind schon so’n spezielles Völkchen. Und im Winter kann‘s schon mal ungemütlich und einsam werden. Und wenn ich erst an das Haus denke…oh, oh.“ Er schüttelte sorgenvoll den Kopf und brachte ihnen unaufgefordert zwei Schnaps. „Hier, könnt ihr wohl brauchen. Aber Respekt, wenn ihr’s wirklich versuchen wollt.“

Zuerst musste Klara sich ein Schmunzeln verkneifen. Der Mann war anscheinend nicht nur reichlich konservativ, sondern hielt sie augenscheinlich auch für ein unbedarftes, kleines Blondchen aus der Großstadt, obwohl er kaum zehn Jahre älter war als sie. Dann sickerte aber langsam die Erkenntnis durch, dass er mit allem Recht hatte, und ihre Begeisterung verpuffte.

„Lass‘ uns darauf trinken“, sagte Ralph da aber und hob das kleine Glas.

„Worauf?“, erwiderte Klara gereizt.

„Darauf, dass wir ernsthaft darüber nachdenken werden.“

~

Ja, sie dachten darüber nach und nicht nur das: Konten wurden geprüft und Banken konsultiert, während Klara einen ersten Businessplan ausarbeitete. Ohne wäre das ganze Unterfangen natürlich ein Himmelfahrtskommando geworden, was sie um jeden Preis vermeiden wollte. Nicht nur, dass sie existenzielle Angst vor einer Pleite hatte, ihr war es auch schlichtweg ein Graus mit diesen naiven Aussteigern in einen Topf geworfen zu werfen, die ohne Geld, ohne Plan und ohne Sprachkenntnisse in irgendein exotisches Land auswanderten und dann später in einer Reality Show wieder auftauchten.

Wenige Tage vor Ende des Jahres 2007 war dann tatsächlich der Kaufvertrag unterzeichnet, ohne dass die Klassens es schon richtig begreifen konnten. Neben dem durchdachten Businessplan hatte dabei vor allem Klaras seltsames Gefühl, dass Idas Haus sie brauchte, den Ausschlag gegeben. Was sie aber selbstverständlich niemals zugegeben hätte. Dann war aber alles ganz schnell gegangen: Die Eigentumswohnung in Hamburg wurde verkauft und stattdessen mieteten sie ein kleines Apartment, in dem Ralph unter der Woche wohnen würde. Dass er nämlich weiterhin mit seinem gut bezahlten Job als Unternehmensberater von Hamburg aus für einen gefüllten Kühlschrank sorgen würde, war wesentlicher Bestandteil ihrer Finanzierung. Klara war somit die meiste Zeit auf sich allein gestellt, als sie im März auf die Insel zogen.

Idas Haus hatte ihr einen im wahrsten Sinne des Wortes frostigen Empfang bereitet und es hatte Tage und etliche Diskussionen mit der veralteten Heizung gekostet, die klamme, abgestandene Luft aus dem Haus zu vertreiben. Schnell war klar, dass Klara ihre Ansprüche an die Renovierung würde zurückschrauben müssen, um überhaupt erst einmal die notwendigen Sanierungsarbeiten bezahlen zu können. Das aus der Not heraus geborene Weniger-ist-mehr-Konzept, wie Ralph es getauft hatte, zog sich bis heute durchs ganze Hotel. Warum neue Café-Bestuhlung kaufen, wenn man die alte doch mit etwas Beize und Zeit (ok, viel Zeit!) aufbereiten konnte? Warum in einheitliche Dekoartikel investieren, wenn gebrauchte Einzelstücke doch viel mehr Charme hatten? Warum meterweise Wände mit schweren Stofftapeten beziehen, wenn schlichtes Weiß die Einrichtung doch viel besser zur Geltung brachte? Dieser Ansatz hätte wohl leicht in einer Geschmacksverirrung à la Dauerbaustelle trifft Tante Ernas Wohnzimmer enden können, aber glücklicherweise hatte Klara auch hier gewusst, was sie tat. Vielleicht, dachte sie manches Mal, wäre es Ida so auch viel lieber gewesen. Durch die vielen Stunden, die sie allein mit dem Haus verbrachte, hatte sie inzwischen das Gefühl, die ehemalige Besitzerin zu kennen, auch wenn sie von ihr noch nicht einmal ein Foto gesehen hatte.

Was neben Klaras Händchen für Inneneinrichtung einen weiteren Segen für Idas Haus bedeutete, war die Beliebtheit, die die alte Frau auf der Insel genossen hatte. Vielen Insulanern nötigte das eine gewisse Anerkennung dafür ab, dass diese Hamburger ihr Haus erhalten wollten (Ralph vermutete ihren brummigen Wirt hinter der rasanten Verbreitung dieser Nachricht). Ohne die großzügige Hilfe der ansässigen Handwerker wäre das Hotel niemals bis zur geplanten Eröffnung im Mai fertig geworden.

Dann war da aber noch die Sache mit dem Namen gewesen. Eigentlich war das typische Vorgehen dabei kinderleicht, wie Klara schnell festgestellt hatte. Zuerst wählte man eine passende Bezeichnung für das Gebäude, wie Villa (auf der Insel gerade sehr beliebt), Schlösschen, Haus oder Residenz. Im nächsten Schritt entschied man sich für einen möglichst maritimen Begriff, der idealerweise auch noch mit Lage des Objekts harmonierte. Hoch im Kurs standen hierbei Düne, Strand, Heckenrose, Watt oder Leuchtturm. Dann musste man nur doch beide Begriffe kombinieren und schon waren idyllische Domizile wie das „Gästehaus Dünenblick“, die „Strandresidenz“ oder die „Villa am alten Leuchtturm“ geboren, die allesamt einen perfekten Urlaub am Meer versprachen. Klara experimentierte hin und her und kreierte etliche Namen, die sowohl passend als auch klangvoll waren. Leider waren sie aber auch allesamt leer und oberflächlich. Einfach seelenlos. Die beste und gleichzeitig einfachste Idee kam ihr erst wenige Tage vor der Eröffnung, sodass sie bereits Albträume gehabt hatte, ein namenloses Hotel anbieten zu müssen. Sie stand gerade im kleinen Inselsupermarkt und versuchte der Verkäuferin zu erklären, wohin ihre umfangreichen Einkäufe geliefert werden sollten: „Straße zum Westen 40, bitte.“

„Hm? Welches Haus soll das denn sein?“

„Das kleine Backsteinhaus mit den blauen Fenstern“, versuchte Klara zu erklären.

„Hm?“

„Idas Haus!“ Damit war alles klar gewesen und ihr war es wie Schuppen von den Augen gefallen: Idas Haus würde immer Idas Haus sein, genauso wie sie immer Klara sein würde und keine Heike, Marion oder Petra. Aber hätte Ida das auch so gesehen? Wieder einmal merkte Klara, wie wenig sie über diese Frau wusste, egal wie nah sie sich ihr manchmal fühlte. In ihrer Unschlüssigkeit war sie über die Insel spaziert und wie zufällig auf dem kleinen Inselfriedhof gelandet, auf dem sie zuvor ein mit Heide bedecktes Grab entdeckt hatte: In dankbarer Erinnerung an Ida Paulsen. 6. September 1904 - 17. Februar 2000. Nur wer vergessen wird, ist tot, du aber wirst leben. Gerade als Klara die Inschrift las, fiel ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und brachte die weißen Lettern zum Leuchten. Ach, zum Teufel mit allen Pro-und-Contra-Listen! Es würde ihr, Klara Klassen, eine Ehre sein, dass die Erinnerung in Idas Haus weiterleben konnte.

~

Klara war so in ihre Gedanken versunken, dass sie fast über die ältere Dame stolperte, die gerade aus Zimmer 8 kam. „Guten Morgen, Frau Meister! Haben Sie gut geschlafen?“

„Vorzüglich, Frau Klassen, vorzüglich“, entgegnete diese, „die Stille hier ist einfach einmalig! Und in dieser herrlich duftenden Bettwäsche zu schlafen, da fühlt man sich ja fast wie eine Prinzessin.“ Frau Meister kicherte leise vor sich hin und Klara beglückwünschte sich innerlich kurz selbst. Ja, genauso sollten sich ihre Gäste fühlen!

„Jetzt muss ich aber weiter, meine liebe Frau Klassen. Mein Helmut wartet auf seine Zeitung.“ Sie schickte sich an, den Gang hinunter zu trippeln, als Klara sie freundlich zurückhielt:

„Da werden Sie jetzt noch kein Glück haben. Heute ist noch kein Schiff gekommen, wir haben Niedrigwasser.“

„Ja, wir sind ja auf einer Insel …“, Frau Meister kicherte erneut, dieses Mal jedoch etwas hilflos. Ihre Morgenroutine war aus dem Takt geraten!

„Bei uns laufen die Uhren etwas anders, da haben Sie Recht. Aber machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte Klara sie, „sobald die Zeitungen angekommen sind, bringe ich Ihnen eine aufs Zimmer. Genießen Sie doch in der Zwischenzeit den Sonnenaufgang. Es ist doch ein herrlicher Morgen!“

Frau Meister wirkte ehrlich überrascht von diesem Vorschlag, einfach untätig der Sonne beim Aufgehen zuzusehen, aber nach kurzem Zögern wandte sie sich doch der Eingangstür zu. Sie war ja schließlich im Urlaub!

Zufrieden mit sich setzte Klara ihren Weg zur Hintertür fort und stand kurz darauf auf der hinteren Terrasse. Diese war auf zwei Seiten von den Gebäuden des Hotelkomplexes umschlossen, auf den anderen Seiten grenzte sie direkt an die mit Hagebutten und Strandhafer bewachsene Düne. Klara überquerte die Terrasse, die noch im morgendlichen Schatten lag, und folgte dem verschlungenen Dünenweg, der inzwischen mit Holzplanken befestigt war und durch dichtes Gebüsch fast vollständig verborgen von Idas Haus zum Strand führte. Nach wenigen Metern hatte sie den höchsten Punkt der Düne erreicht und vor ihr erstreckte sich das offene Meer. Die Brandung rollte unablässig gegen den grauen Wall des Deckwerks, was Klara heute sah, war aber vollkommen harmlos. Es war ein ruhiger Morgen. Der Wind, der ihr die Haare ins Gesicht trieb, war nur leicht und die Sonne strahlte zwischen lockeren Wolken hindurch. Noch war es kühl, aber Klara war sicher, dass ihnen ein milder Tag bevorstand, der viele Spaziergänger und Radfahrer ins Café führen würde.

Sie blieb ganz ruhig stehen und betrachtete das Zusammenspiel von Meer, Strand und Himmel. Klara kam jeden Morgen hierher und jedes Mal war sie gefangen von der Schönheit des Meeres. Egal, ob im Winter oder Sommer, bei Sturm oder strahlendem Sonnenschein, Klara liebte das Meer mit all seinen Gesichtern.

Nach wenigen Minuten wandte sie sich um, um zum Hotel zurückzukehren. Von ihrem Platz oben auf der Düne hatte sie den gesamten Gebäudekomplex im Blick, auch wenn sie jetzt blinzeln musste, um gegen die noch tief stehende Sonne etwas zu erkennen. Vieles hatte sich in den vergangenen Jahren verändert: In der ersten Saison war sie mit nur drei Gästezimmern und Cafébetrieb gestartet. Zum Glück war ihr Konzept aufgegangen und das Geschäft lief gut an. Über die Jahre konnte sie so die bestehenden Gebäude komplett ausbauen und sogar einen zweiten Flügel anbauen. Im ursprünglichen Haus befand sich heute weiterhin das Café und Bistro, das auch den Hotelgästen als Frühstücksraum diente. Im ersten Stock hatten Ralph und Klara ihre eigene Wohnung eingerichtet, genauso wie Klara es sich erträumt hatte. Der Anbau war um eine Etage aufgestockt worden und beherbergte die inzwischen zwölf Hotelzimmer. Der Holzbau war isoliert worden und diente als Saal für Feierlichkeiten. In den neu geschaffenen Zimmern darüber brachte Klara ihre Saisonkräfte unter. Der zweite Flügel war in einer Linie mit dem Haupthaus angebaut, sodass zwischen diesem und dem Hoteltrakt eine zweite Terrasse mit Grillplatz und kleinem Spielplatz entstanden war, die den Hausgästen vorbehalten war. In diesem Neubau waren sechs Ferienwohnungen eingerichtet worden, in denen Klara inzwischen viele Stammgäste begrüßen durfte. Bei allen Baumaßnahmen war Klara der ursprünglichen, schlichten Backsteinoptik treu geblieben, sodass sich das Hotel heute harmonisch in die raue Nordseelandschaft einfügte. Dieser Verzicht auf große Glasfronten, drei und mehr Stockwerke oder kastenförmige Bauwerke, die das Grundstück bis auf den letzten Zentimeter ausfüllten, hatten Klara zudem endgültig die Anerkennung der Insulaner eingebracht. Ein nicht zu vernachlässigender Fakt, wenn man auf so einer kleinen Insel heimisch werden wollte. Über das kleine Detail, das Klara stets am wichtigsten gewesen war, schüttelten aber dennoch viele den Kopf: Jedes neue Fenster musste meerblau sein.

Inzwischen waren zehn Jahre vergangen, seit sie das erste Mal mit Ralph auf dem Deckwerk gestanden hatte. In diesem Sommer würde das Hotel „Idas Haus“ Jubiläum feiern. Dieser Gedanke erfüllte Klara mit tiefer Genugtuung. Wer kämpft, konnte alles schaffen. Und was einen dabei nicht umbrachte, machte eindeutig stärker.

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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