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Kapitel 6 Hamburg, Mai 2018

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Ralph Klassen schob seinen ledernen Bürosessel zurück und drehte sich zur bodentiefen Fensterfront. Direkt vor ihm legte gerade ein Kreuzfahrtschiff am Cruise Center an, dahinter hoben sich in Blau und Rot die Kräne des Containerhafens vom Grau des Himmels ab. Dieser Ausblick hatte jedes Mal etwas Majestätisches. In Gedanken ging er noch einmal die E-Mail durch, die er gerade gelesen hatte und merkte, wie dabei eine Idee in seinem Kopf erschreckend schnell Gestalt annahm.

Dass er diese E-Mail überhaupt geöffnet hatte, war reiner Zufall gewesen. Ralph war gerade sein Postfach auf der Suche nach den neuesten Zahlen für seine Projektpräsentation durchgegangen, als ihm der Betreff „Hilferuf“ ins Auge fiel. Normalerweise löschte er solche Nachrichten sofort, konnte es sich doch nur um zwielichtige Hilfsorganisationen handeln, die auf sein Geld aus waren. Während er sich gerade vornahm, die IT mal wieder zu bitten, die Spam-Kriterien zu verschärfen, musste er wohl einen Moment zu lange mit dem Cursor auf der Nachricht gestanden haben, sodass sie sich im Vorschaufenster öffnete. Auch so eine Voreinstellung, die er schon lange geändert haben wollte! Als Nächstes war sein Blick auf den Absender gefallen. Maxwell Goulding. Irgendetwas sagte ihm der Name. Vielleicht also doch kein Spam, das hieß aber noch lange nicht, dass es sich lohnen würde diese E-Mail zu lesen. Ralph bekam schließlich täglich Dutzende Nachrichten von Leuten, die er mal irgendwo getroffen hatte und die sich jetzt was auch immer von ihm erhofften. Jeder schien der Meinung zu sein, dass es sich in jedem Fall lohnte, einen Unternehmensberater auf der Kontaktliste zu haben.

Dieser Goulding war Schotte! Jetzt fiel es Ralph wieder ein. Er hatte ihn kurz vor Weihnachten auf einer Spendengala getroffen, die er vertretungsweise für seinen Chef besucht hatte. Leider hatte sich Klara einen Infekt eingefangen gehabt und hatte ihn nicht begleiten können. Wirklich schade, an der anwesenden Masse an aufgetakelten Tussis hätte sie ihre Freude gehabt! Stattdessen hatte er sich an diesem Abend gut mit Goulding unterhalten und dabei einiges über schottischen Whisky gelernt. Der Mann hatte ihm gefallen, denn im Gegensatz zur Mehrheit der Teilnehmer (zu der auch Ralph gehörte), deren Engagement sich auf die jährliche Teilnahme an solchen Galas beschränkte, schien er tatsächlich für seine sozialen Projekte zu brennen. Nach drei gemeinsamen Whiskys hatten sich ihre Wege dann aber wieder getrennt, wie es bei einem schottischen Abgeordneten und einem Hamburger Unternehmensberater zu erwarten gewesen war.

Und jetzt schrieb dieser Goulding ausgerechnet ihm und bat um Hilfe: Er wäre auf ein junges Mädchen aufmerksam geworden, das ohne den Halt einer Familie aufwachsen musste und nun Gefahr lief, vom rechten Weg abzukommen. An dem Mann war doch wirklich ein Pastor verloren gegangen, dachte Ralph schmunzelnd. Für dieses Mädchen suchte Goulding jetzt einen Praktikumsplatz, um sie ihrer gewohnten Umgebung für einige Monate zu entziehen. Dabei hatte er sich daran erinnert, dass Ralph ihm vom Hotel seiner Frau auf einer kleinen Nordseeinsel erzählt hatte. Welche das war, war ihm leider entfallen, auf jeden Fall hielt er eine solche Umgebung für ideal geeignet.

Er hatte nicht Unrecht, dachte Ralph, und stellte dabei fest, dass er immer noch auf den Hafen blickte. Was sollte ein Teenager auf Wangerooge schon groß anstellen? Er drehte sich wieder zu seinem Laptop und warf einen zweiten Blick auf die recht dürftigen Fakten, die Goulding mitgeliefert hatte: Sechzehn Jahre. Gute Schulbildung. Gute Deutschkenntnisse. Ralph wusste genau, dass Klara bei der Auswahl ihrer Aushilfen sehr genau darauf achtete, dass diese bereits volljährig waren. Alles andere war schon in Bezug auf Arbeitszeiten und Jugendschutz viel zu anstrengend. Auch würde es im Umgang mit den Gästen nicht gerade hilfreich sein, wenn man kein deutscher Muttersprachler war. „Gute Kenntnisse“, das konnte ja alles und nichts heißen…

Trotzdem kam er nicht von der Vorstellung los, diesem Mädchen in Idas Haus eine Chance zu geben. Vielleicht würde es sogar auch Klara helfen? Sie gab es zwar nicht zu, aber Ralph wusste, dass diese alte Geschichte sie immer noch belastete.

Seine Entscheidung war zumindest gefallen, jetzt musste er die Sache nur richtig anpacken. Er war es gewohnt, verschiedene Stakeholder von unbequemen Schritten zu überzeugen, aber seine Frau war schon ein besonderer Fall. Ralph gab seinem Sessel noch einmal Schwung, sodass er sich um 360° drehte, dann griff er nach seinem Tablet und öffnete eine neue Notiz. Projekt Whisky. Er schmunzelte.

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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