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Kapitel 4 Wangerooge, April 2018

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Klara hatte die Terrasse noch nicht ganz erreicht, da hörte sie schon laute Stimmen, Pfiffe und noch lauteres Gelächter aus dem Café. Sie beschleunigte ihre Schritte und als sie eintrat, verstummte das Gegröle schlagartig. Julia wischte gerade die Tische im Frühstücksbereich, Stina werkelte an der Kaffeemaschine und Patrick stand daneben und stützte mit seinem muskulösen Oberkörper die Wand ab.

Er stützte die Wand ab? War das Gebäude denn etwa einsturzgefährdet? Klara nahm sich vor, ihm umgehend eine wertschöpfendere Aufgabe zuzuteilen. Zuvor musste sie hier aber einiges klarstellen.

„Guten Morgen! Ich hoffe, ich störe nicht?“ Klara musste gar nicht laut sprechen, um Autorität auszustrahlen. Augenblicklich schienen Stina, Julia und Patrick den Atem anzuhalten. Die drei waren Anfang zwanzig und wollten hier für ein paar Monate jobben, bevor das Studium losging. Die Betonung lag hier ganz klar auf „wollten“, denn die Abbrecherquote bei solchen studentischen Aushilfen war recht hoch. Vielen wurde Wangerooge nach einigen Wochen schnell zu klein. Insel war eben nicht für jeden etwas, genauso wenig wie Klaras Anforderungen.

„Unsere Gäste kommen hier her um sich zu erholen. Egal, ob das heißt morgens auszuschlafen oder zu meditieren, Ruhe ist dabei äußerst hilfreich. Wenn jemand von euch damit ein Problem hat, empfehle ich einen Job auf dem Hamburger Kiez.“

Patrick sah kurz danach aus, als würde er diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen. Dann könnte auch er vielleicht mal wieder ausschlafen. Seit er Anfang des Monats hier angefangen hatte, war sein Biorhythmus total durcheinander!

Klara war aber noch nicht fertig: „Ich gehe davon, dass sich jeder von euch gut daran erinnert, was ich euch an eurem ersten Arbeitstag gesagt habe.“

Julia musterte eingehend die Maserung des Holztisches vor sich, als würde sie dort nach ihrer Erinnerung suchen. Das waren aber auch wirklich zu viele Informationen gewesen. Wer sollte sich denn das alles merken, was man hier beachten musste?! Sie hatte sich den Job im Café irgendwie gechillter vorgestellt!

Zum Glück fügte Klara hinzu, worauf sie hinauswollte: „Ich habe euch gesagt, die Arbeit hier soll allen Spaß machen. Das funktioniert aber nur, wenn sich jeder an die Spielregeln hält. Dazu gehört auch, vor lauter Spaß das Arbeiten nicht zu vergessen. Deswegen schlage ich vor, ihr legt jetzt einen Zahn zu, damit die Küche das Frühstück anrichten kann.“ Dass das keinesfalls als Vorschlag gemeint war, war wohl jedem klar. „Patrick, du machst schon mal die Terrasse fertig!“ Patrick löste sich von der Wand (die wie durch ein Wunder tatsächlich nicht einstürzte) und latschte nach draußen.

Stina wischte ein letztes Mal über das glänzende Chrom der großen Kaffeemaschine und schnitt dann ein goldfarbenes Paket auf, um Kaffeebohnen aufzufüllen. Sofort verdrängte der intensiv aromatische Duft jeden Hauch von Reinigungsmittel, der noch in der Luft lag. Weiter kam Stina aber leider nicht. Egal von welcher Seite sie die Maschine auch untersuchte, eine Öffnung für Kaffee fand sie nicht. Sie seufzte. Im Gegensatz zu ihren beiden Mitstreitern fand sie den Job hier ziemlich cool. Wenn es jetzt noch wärmer wurde, könnte sie sich nach ihrer Schicht an den Strand legen, einmalig! Deswegen war sie fest entschlossen, diesen Job bis zum Ende ihres Vertrags im Oktober zu behalten. Wenn nur diese Kaffeemaschine sie nicht ständig so dumm dastehen ließe!

„Klara“, begann sie zögerlich und spähte zu ihrer Chefin hinüber, die gerade die Tafel neben der Tür mit den Gerichten des Tages beschrieb, „ich glaub‘, ich brauch‘ nochmal Hilfe.“

„Klar, bin sofort bei dir!“ Stina stellte überrascht fest, dass Klaras Stimme nicht mehr im Geringsten sauer klang. Wirklich böse war diese auch gar nicht gewesen. Sie hatte inzwischen zehn Jahre Erfahrung mit studentischen Aushilfen, wusste, wie diese tickten, und hatte sogar Verständnis dafür. Trotzdem wusste sie auch, wie sie mit ihnen reden musste, damit der Laden hier lief. Gerade am Anfang der Saison war es besonders wichtig streng zu sein, sonst würde sie den Sommer über nur Ärger haben. Und war erstmal Hauptsaison hatte sie dazu weder Zeit noch Nerven.

Klara unterstrich „Zwiebelsuppe mit Käse-Croutons“ und „Schwedische Manteltorte“ jeweils mit einem schwungvollen Schnörkel, dann wischte sie sich die Kreide von den Händen und wollte Stina zur Hilfe eilen. Als sie aber den Tresen umrundete, ertönte ein lautes Klirren und Klara blieb wie angewurzelt stehen.

~

Die Stille, die daraufhin eintrat, war so bedrohlich wie die vor einem schweren Gewitter. Selbst die Möwen über den Dünen und die Spatzen auf der Terrasse schienen ihr Krächzen und Schilpen vorsorglich eingestellt zu haben. Klara machte vorsichtig einen Schritt aus den Glasscherben heraus, in die sie zuvor getreten war, und zupfte das Flaschenetikett ab, das unter ihrem grauen Sportschuh mit den neonorangen Streifen kleben geblieben war. Holunderblütenlimonade. Mehrwegflasche. Naja, das jetzt wohl nicht mehr. Klara holte mehrmals tief Luft, dann befahl sie langsam, sehr deutlich und so laut, dass auch Patrick auf der Terrasse sie hören konnte: „Herkommen. Alle.“

Hatten die drei zuvor schon vermutet, dass Klara sauer gewesen war, wussten sie in diesem Moment, dass sie falsch gelegen hatten. Jetzt war Klara sauer!

„Wer von euch war gestern zum Fegen eingeteilt?“ Alle Blicke gingen zu Boden, als wollten sie sich selbst davon überzeugen, dass dieser eindeutig nicht gefegt worden war. „Ihr wisst, ich habe den Plan gemacht, also zwingt mich nicht nachzusehen.“

„Das war wohl ich.“ Patrick stand trotz seiner Größe und Statur da wie ein Erstklässler.

„Und?“

„Es könnte wohl sein, dass ich das gestern nicht gemacht habe“, murmelte Patrick. Julia sog scharf die Luft ein, als würde sie einen Thriller verfolgen.

„Warum?“ Patrick trat von einem Bein aufs andere und versenkte die Hände in den Taschen seiner tiefsitzenden Jeans. „Ich habe dich was gefragt. Warum wurde mein Café gestern nicht gefegt?“ Klara schaffte es problemlos, einen nicht gefegten Boden auf eine Ebene mit einem versehentlich freigesetzten Virus zu heben.

„Ich hab‘ halt geguckt… Und da sah das alles sauber aus. Also sauber genug. Und da hab‘ ich gedacht, alle zwei Tage fegen reicht dicke.“

„Vielleicht solltest du neben deinen Muskeln zur Abwechslung mal dein Hirn trainieren.“ Dass Klara zu zimperlich war, konnte ihr keiner nachsagen. „Erstens: Wenn ich dir eine Aufgabe gebe, wird sie erledigt. Zweitens: Es ist mein Hotel, das heißt, ich entscheide, wie sauber hier der Boden zu sein hat. Und drittens: Hier geht es nicht nur um Sauberkeit. Was wäre gewesen, wenn ich Sandalen angehabt hätte? Oder später ein Hund in die Scherben getreten wäre? Oder ein kleines Kind sie in den Mund gesteckt hätte? Dann könntest du jetzt Blut aufwischen und ich hätte eine Klage am Hals!“

„Aber das hat er doch nicht gewollt“, kam Stina Patrick zur Hilfe.

„Davon gehe ich aus, das ändert aber nichts am Sachverhalt. Hätte er hier gefegt, wäre ihm dieser Scherbenhaufen aufgefallen. Und selbst Patrick wäre dann wohl auf die Idee gekommen, ihn zu entfernen.“ Spätestens jetzt war Klara unter der Gürtellinie angekommen. Aber in solchen Momenten war ihr das egal. „Patrick, fegen. Jetzt, heute Abend und die nächsten zehn Abende.“ Hätte Patrick ihr vor fünf Minuten noch zu gerne vorgehalten, dass er schon jetzt nicht wusste, wie er alle seine Aufgaben in einer Schicht schaffen sollte, blieb ihm der Widerspruch jetzt im Hals stecken.

Klara drehte sich um, stürmte in ihre Wohnung, schnappte nach ihrer Handtasche, stürmte vorne aus dem Gebäude und schwang sich auf ihr Fahrrad. Als sie sich entfernt hatte, löste sich die Schockstarre über Idas Haus. Julia begann die Tische einzudecken. Patrick suchte fluchend nach Handfeger und Schaufel. Die Spatzen schilpten, die Möwen krächzten. Nur Stina stand noch immer da, die goldfarbene Packung in der Hand. Kaffee würde es heute Morgen wohl vorerst nicht geben.

~

Klara radelte zügig Richtung Inseldorf. Die braunen Reifen ihres weißen Fahrrads mit dem braunen Ledersattel, den passenden braunen Griffen und einem geflochtenen Weidenkorb am Lenker surrten auf dem glatten Asphalt. Der frische Wind kam ihr frontal entgegen und machte das Treten anstrengend. Er kühlte aber auch ihr Gesicht und Klara beruhigte sich. Es mussten noch einige Kleinigkeiten für das Mittagsgeschäft besorgt werden, das konnte sie im Dorf gleich erledigen. Die meisten Lebensmittel und Verbrauchsgüter für das Hotel wurden zwar am Festland bestellt, mit dem Frachtschiff geliefert und von einem Fuhrunternehmer per Elektrokarre direkt vor ihrer Tür abgestellt. Trotzdem ging immer mal wieder eine Zutat aus und musste in einem der beiden kleinen Supermärkte nachgekauft werden. Das hatte Klara heute Vormittag sowieso vorgehabt, nur ihr Abgang war so nicht geplant gewesen.

Sie wusste selbst nicht genau, warum sie manchmal so wütend werden konnte. Sie wusste nur, dass es ihr nicht gefiel. Inhaltlich bereute sie die Sache dabei überhaupt nicht. Die Vorstellung, wie ein kleiner Junge eine Glasscherbe in seine patschigen Händchen nahm und Blut zwischen seinen kleinen Fingern hervorrann, ließ sie immer noch erschaudern. Nein, sowas durfte nicht passieren! Aber dass sie wegen so einer Sache so wütend wurde, dass es ihr schwer fiel sich zu beherrschen, war zutiefst unprofessionell.

Trotzdem passierte es immer wieder. Plötzlich war da etwas Dunkles in ihr, das sich rasend schnell ausbreitete und ihr Herz und ihren Kopf besetzte. Versuchte Klara dieses Dunkel zu fassen, fand sie nur ein Gefühl von Angst, das sie in ihr Herz gesperrt hatte und das dort über die Jahre einen hässlichen Fleck hinterlassen hatte. Angst vor dem Unkontrollierbaren. Angst vor dem Unumkehrbaren. Angst vor der Hilflosigkeit. Klara versuchte sich gerne einzureden, dass dieses Gefühl irgendwann einfach da gewesen wäre, irgendeine hormonbedingte Störung. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, wann es angefangen hatte, wusste es auf das Jahr, den Tag, die Stunde, die Minute genau.

Ihr Handy vibrierte. Sie hielt an, zog es aus der Jackentasche und sah Ralphs Grinsen auf dem Display.

„Hi!“, begrüßte sie ihn und rang nach Luft. Sie war von der Fahrt gegen den Wind ziemlich außer Atem.

„Hallo, mein Schatz. Störe ich vielleicht gerade bei irgendwas?“ Sie sah das Grübchen, das sich dabei über seinem rechten Mundwinkel bildete, vor ihrem inneren Auge und musste schmunzeln. Typisch Ralph!

„Nein, du weißt doch, ich schalte mein Handy aus, wenn wir allein sein wollen“, entgegnete sie mit ernster Stimme, aber ihre Augen blitzten fröhlich.

„Jetzt beflügele die Eifersucht deines dich abgöttisch liebenden Ehemanns nicht auch noch! Du weißt doch, was Fernbeziehungen für psychische Belastungen auslösen können.“

„Ach, in Hamburg findest du bestimmt eine nette Therapeutin. Außerdem führen wir keine Fernbeziehung, du bist nur vier Tage die Woche weg.“ Jetzt musste sie doch laut lachen und Ralph lachte sofort mit. Sie liebten diese Neckereien beide.

Plötzlich tauchten die unfreiwillige Einwegflasche und das untrainierte Hirn von Patrick (hatte sie das wirklich gesagt?) aber wieder in ihrem Kopf auf und Klara verstummte. Ralph spürte ihren Stimmungsumschwung sofort. Auch typisch!

„Was hast du denn heute schon erlebt? Es ist doch noch nicht mal 9:00 Uhr!“

„Im Café lagen Glasscherben. Ich hab‘ Patrick ziemlich angefahren.“ Ralph kannte sie gut genug, um zu wissen, was das bedeutete.

„Der Kerl ist Bodybuilder, du solltest wirklich vorsichtig sein, Schatz. Nein, Spaß beiseite, er macht auf mich keinen empfindlichen Eindruck. Er wird es also überleben.“ Klara wusste sehr zu schätzen, dass Ralph sie aufheitern wollte, und es gelang sogar ein wenig. Trotzdem hatte selbst ihr wunderbarer Ralph nur eine vage Ahnung von dem Dunkel in ihrem Herzen.

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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