Читать книгу Den du nicht siehst - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 12

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Das erste Nachrichtentelegramm lief um 16 Uhr 07 ein. Noch ließen die Informationen zu wünschen übrig.

Visby (TT)

An einem Strand an der gotländischen Westküste wurde eine tote Frau aufgefunden. Laut Polizeiberichten wurde sie ermordet. Wie die Frau ums Leben gekommen ist, teilte die Polizei noch nicht mit. Die Straßen in der Umgebung sind abgesperrt worden. Derzeit wird ein Mann von der Polizei vernommen.

Erst zwei Minuten später entdeckte Max Grenfors das Telegramm auf seinem Bildschirm.

Sofort rief er bei der Polizei von Gotland an.

Er erfuhr jedoch nicht viel mehr. Die Polizei bestätigte, dass eine Frau ermordet an einem Strand bei Gustavs in der Gemeinde Fröjel an der gotländischen Westküste aufgefunden worden war. Die Frau war bereits identifiziert, sie hatte in Stockholm gelebt. Ihr Lebensgefährte wurde soeben von der Polizei vernommen. Eine Hundestreife durchsuchte die Umgebung des Fundorts. Die Polizei befragte die Nachbarschaft und hoffte auf mögliche Zeugen.

In dem Moment klingelte der Apparat auf Johan Bergs Schreibtisch. Er war einer der dienstältesten Reporter der Redaktion. Vor zehn Jahren hatte er beim Fernsehen angefangen. Durch Zufall war er zu Beginn seiner Karriere bei der Kriminalberichterstattung gelandet. An seinem ersten Arbeitstag wurde in Hammarby eine Prostituierte brutal ermordet. Johan war der einzige Reporter, der gerade in der Redaktion herumsaß. Er bekam den Auftrag, und sein Bericht war der Aufmacher der Sendung. Er hatte als Kriminalreporter weitergemacht. Noch immer hielt er dieses Ressort für das spannendste innerhalb des Journalismus.

Gerade war er allerdings in seinen Bericht über den Streik in Österåker vertieft und feilte am Text herum. Der Beitrag sollte bald geschnitten werden, und alles musste fertig sein, ehe er beginnen konnte, Bilder, Sprechertext und O-Töne zusammenzusetzen. Zerstreut griff er zum Hörer.

»Johan Berg, Regionalnachrichten.«

»Auf Gotland ist eine Tote gefunden worden, erschlagen«, zischte eine Stimme in sein Ohr. »Da hat ein richtiger Irrer zugeschlagen.« Der Anrufer informierte Johan über die vermutliche Tatwaffe und das Detail mit der Unterhose.

Er war einer von Johans besten Informanten. Ein pensionierter Polizist, der in Nynäshamn wohnte. Nach einer Kehlkopfoperation atmete er durch ein Röhrchen, das aus seinem Hals herausragte.

»Was sagst du da, zum Teufel?«

»Sie wurde an einem Strand in Fröjel gefunden, an der Westküste.«

»Wie sicher ist das?«, fragte Johan und spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.

»Absolut sicher.«

»Was weißt du sonst noch?«

»Sie stammt von Gotland, ist aber schon vor langer Zeit aufs Festland gezogen. Nach Stockholm. Sie wollte mit ihrem Lebensgefährten ein paar Tage auf der Insel verbringen. Er wird gerade vernommen.«

»Wie wurde sie gefunden?«

»Von irgendeinem Typen, der gerade vorbeikam. Einem alten Kerl, den sie ins Krankenhaus gebracht haben. Er steht sicher unter Schock. Das kannst du ja alles überprüfen.«

»Vielen Dank. Ich bin dir wirklich ein paar Bier schuldig«, sagte Johan, beendete das Gespräch und sprang auf.

In der Redaktion brach fieberhafte Aktivität aus. Johan erzählte Grenfors, was er erfahren hatte, und der beschloss sofort, Johan und einen Kameramann mit der nächsten Maschine nach Gotland zu schicken. Den Bericht über den Streik in Österåker musste jemand anders zusammenbauen. Jetzt galt es, sich um den neuen Fall zu kümmern und schneller als alle anderen zu sein.

Eigentlich hätte Max Grenfors den Chef vom Dienst in der Zentrale, der den Überblick über alle Nachrichtenredaktionen des Senders hatte, informieren müssen, aber das konnte warten. Einen kleinen Vorsprung kann ich uns schließlich gönnen, dachte er, während er Instruktionen erteilte. Die Sendefolge der Beiträge musste geändert werden – wen interessierten denn jetzt noch die Finanzprobleme des Universitätskrankenhauses? Johan sollte all seine Informationen an eine Kollegin weitergeben, die daraus auf die Schnelle eine Meldung zusammenbasteln würde. Außerdem musste sie ein Telefoninterview mit dem Wachhabenden der Polizei in Visby vorbereiten, der ihnen den Mord bestätigen sollte.

Bereits nach wenigen Minuten drängten sich alle Redakteure der großen landesweiten Nachrichtensendungen in der Redaktion der Regionalnachrichten.

»Warum schickt ihr einen Reporter nach Gotland? Ist dieser Mord so Aufsehen erregend?«, wollte der Chef vom Dienst der Nachrichtenzentrale wissen.

Er hatte, wie alle anderen, nur das TT-Telegramm gelesen, aber bereits gehört, dass die Regionalnachrichten zwei Leute nach Gotland schicken wollten. Vier Augenpaare starrten Grenfors fragend an, der schließlich ein Einsehen hatte und seine Informationen preisgab.

Da an diesem Tag in der Welt sonst wenig los war, reagierten die Redakteure elektrisiert. Endlich eine Nachricht, die die Sendungen retten konnte! Da es sich um keinen gewöhnlichen Mord handelte, redeten alle aufgeregt durcheinander. Der Chef vom Dienst beschloss nach heftiger Diskussion, dass es ausreichte, einen Reporter nach Gotland zu schicken.

Sie kamen überein, dass ihr Vertrauen zu Johan Berg bis auf weiteres groß genug sei, um ihm die Story zu überlassen.

Johan sollte Peter Bylund mitnehmen, den Kameramann, mit dem er am liebsten zusammenarbeitete. Ihr Flug nach Visby ging um 20 Uhr 15.

Als er mit dem Taxi nach Hause fuhr, spürte Johan die vertraute Erregung darüber, sich im Mittelpunkt der Ereignisse zu befinden. Der brutale Mord an einer Frau und sein Entsetzen über diese Tat traten in den Hintergrund vor dem Drang, alles herauszufinden und darüber zu berichten. Seltsam, wie man reagiert, dachte er, als der Wagen über die Västerbro fuhr. Er konnte über den Riddarfjärd auf Stadthaus und Altstadt blicken. Man verdrängt alle normalen menschlichen Gefühle, nur der Beruf spielt eine Rolle.

Er dachte zurück an die Nacht, in der die Fähre Estonia gesunken war. Im September 1994. An den Tagen nach dieser entsetzlichen Katastrophe, die über achthundert Menschen das Leben gekostet hatte, war er zwischen den Angehörigen im Hafenterminal in Värtan, den Angestellten der Reederei Estline, den überlebenden Fahrgästen, den Politikern und den Kriseninterventionsteams hin und her gejagt. Er war nur zum Schlafen nach Hause gegangen, um kurz darauf wieder zum Job zurückzuhetzen. Wenn er mitten in einer Sache steckte, nahm er alles in sich auf, was ihm erzählt wurde, behielt aber dennoch Distanz. Die emotionale Reaktion stellte sich erst viel später ein. Als die ersten geborgenen Leichen in Schweden eintrafen, waren sie in einer Prozession vom Flughafen Arlanda zur Riddarholmskirche in der Altstadt gebracht worden. Dort fand eine Andacht statt, ehe die Toten ihren Angehörigen überlassen wurden. Johan verfolgte die Direktübertragung zu Hause, hörte die tiefe, ernste Stimme eines Reporters von Radio Stockholm und brach zusammen. Er ließ sich auf den Boden fallen und konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Alle Eindrücke, die er in sich gesammelt hatte, schienen gleichzeitig an die Oberfläche zu kommen. Vor seinem inneren Auge sah er die im Rumpf der Fähre umherschwimmenden Leichen, sah schreiende Menschen, die unter den umherschleudernden Tischen und Schränken eingeklemmt wurden, sah die Panik, die an Bord ausgebrochen war. Er hatte das Gefühl, zu zerbrechen. Ihn schauderte noch immer bei der Erinnerung daran.

Als er seine Wohnung betrat, wurde ihm bewusst, wie unordentlich sie war. In letzter Zeit hatte er einfach alles stehen und liegen lassen. Die Erdgeschosswohnung lag in der Heleneborgsgatan in Södermalm.

Dass direkt an der Hauswand das Wasser des Riddarfjärds schwappte, war der Zweizimmerwohnung nicht anzusehen. Sie war zum Hinterhof gelegen. Johan machte das alles nichts aus. Er fühlte sich in dieser Gegend wohl; zentral, mit einer Vielzahl an Geschäften und Lokalen in unmittelbarer Nähe, außerdem war die grüne Insel Långholmen mit ihren Spazierwegen und Badefelsen nicht weit entfernt. Besser konnte man doch gar nicht wohnen.

Aber im Moment war die Wohnung wirklich nicht gut in Schuss. Im Spülstein stapelte sich das Geschirr, der Korb mit der schmutzigen Wäsche quoll über, und auf dem Wohnzimmerboden lagen leere Pizzakartons. Die typische Junggesellenbude. Es roch muffig. Johan stellte fest, dass ihm eine halbe Stunde zum Packen und Aufräumen blieb. Wenigstens den ärgsten Dreck musste er noch beseitigen. Zweimal klingelte das Telefon, während er in der Wohnung hin und her rannte, spülte, lüftete, den Tisch abwischte, Müll wegwarf, die Blumen goss und packte. Er machte sich nicht die Mühe, den Hörer abzunehmen.

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und er hörte zuerst die Stimme seiner Mutter, dann die von Vanja. Obwohl sie sich vor über einem Monat getrennt hatten, wollte sie sich nicht damit abfinden.

Ein Ortswechsel würde ihm wirklich gut tun.

In der Ferne läuft ein einsamer Mann durch den Wald. Sein Blick ist wild und haftet am Boden. Er trägt einen schwarzen Müllsack auf dem Rücken. Die Haare hängen ihm feucht in die Stirn. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wirklich nicht. Er ist erregt, aber zugleich erfüllt ihn eine innere Ruhe. Er steuert einen bestimmten Punkt an. Jetzt sieht er das Meer. Gut. Er ist fast dort, wo er hinwill. Da liegt das Bootshaus. Grau und morsch. Von Unwettern gezeichnet. Von Sturm und Regen. Daneben liegt ein flacher Kahn. Im Boden klafft ein Loch. Das wird er demnächst reparieren. Zuerst muss er sich von seiner Last befreien. Er macht sich lange an dem rostigen Schloss zu schaffen. Der Schlüssel ist seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Am Ende gibt das Schloss nach, mit einem Klicken springt die Tür auf. Zuerst wollte er den Inhalt des Sacks vergraben. Aber warum eigentlich? Hier kommt ja doch niemand hin. Außerdem ist er noch nicht bereit, sich von diesen Dingen zu trennen. Er will sie hier haben, damit er jederzeit herkommen, sie ansehen, daran riechen kann. Im Bootshaus gibt es eine alte Küchenbank zum Aufklappen. Er öffnet sie. Darin liegen einige alte Zeitungen. Ein Telefonbuch. Er leert den Sack darüber. Klappt die Bank wieder zu. Er ist zufrieden.

Den du nicht siehst - Ein Schweden-Krimi

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