Читать книгу Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 1 - Mario Covi - Страница 3
1. VOM SALZGESCHMACK DER FERNE
ОглавлениеWir lagen vor Madagaskar…
Seefahrt... Na? Geht es da nicht gleich los mit den Klischees? Den blauen Jungs und den Mädels in jedem Hafen? Den tätowierten, Shantys singenden braungebrannten Matrosen in ihren blauweißen Ringelhemden? Ist es da nicht höchste Zeit, dass endlich einer aus dem maritimen Nähkästchen plaudert? Aus der übervollen Seemannskiste Döntjes, Schnacks und Anekdoten auspackt? Aus dem salzwasserverkrusteten Seesack die boshafte Bordkatze herauslässt?
Die folgenden Episoden, Storys, Gespräche, Lieder und Fotos über die christliche Seefahrt passen nicht ganz in das Bild, das uns die marineblaue und traditionsbeflissene Ahoi-Literatur weiszumachen versucht. Seefahrt als Abenteuer oder Beruf wird meistens von Nicht-Seeleuten geschildert. Lothar-Günther Buchheim sagt in seinem Buch 'Der Luxus-Liner' „... Wenn mehr Seeleute über ihren Beruf schrieben, müssten höchst interessante Geschichten zutage kommen. Sie tun es nicht. Wahrscheinlich hindert sie daran das Gefühl, so etwas schicke sich nicht ..."
Vergessen wir die Schicklichkeit. Wir leben längst in einer Gesellschaft, in der Tabubrüche fast langweilig geworden sind. Also werde ich offen vom kolumbianischen Sündenpfuhl "Schanker Hill" oder über die bizarre Liebesbeziehung eines Seemanns zu seiner Sexpuppe berichten. Auch über wüste Besäufnisse, rassistisches Gelaber, oder die ärgerliche Unaufrichtigkeit manch imagegeilen Kapitäns will ich keine zurückhaltende Verschwiegenheit mehr gelten lassen. Allerdings muss ich dann auch ehrlich das Schweigen über die eigene Unzulänglichkeit brechen. Ehrlichkeit tut immer irgendjemandem weh!
Vermutlich werde ich manches Klischee bedienen. Ich hoffe aber auch, dass einige schablonenhafte Vorstellungen und Bilder über die Seefahrt zurechtgerückt werden. Deshalb habe ich an Bord Gespräche mit Fahrensleuten auf Tonband aufgezeichnet, habe Geschichten und Schnacks aus vielen Seefahrtjahren gesammelt und niedergeschrieben. Manches ist derb, mag unbeholfen sein. Auch die Unfähigkeit, sich auszudrücken, kann beredt sein.
Subjektiv ist diese Schreibe, mitunter zornig, vielleicht sogar wehleidig. Vor allem dann, wenn ich Aufzeichnungen aus alten Tagebüchern so übernehme, wie ich sie vor vielen Jahren niedergeschrieben habe. Viele Namen von Personen habe ich deshalb geändert. Die Namen der Schiffe und Reedereien allerdings unverändert gelassen. Es gab eine Zeit, da schwiegen wir auf See lieber, um den Mächtigen der Handelsschifffahrt nicht auf die elitären Schlipse zu treten. Denjenigen, die als Reeder und Kaufleute, als gestrenge Inspektoren und Kapitäne ein gewichtigeres Wort in diesem Metier mitzureden hatten. Doch welcher dieser Sesselfurzer, welche Landratte interessierte sich damals eigentlich wirklich, wie es Hein Seemann dort draußen auf See erging? Klar, unser Verhalten weit hinterm Horizont an fremden Küsten war für die Daheimgebliebenen auch nicht immer nachvollziehbar...
Mittlerweile bin auch ich eine Landratte. In meinem Beruf als Schiffsfunker könnte ich nur noch als maritimes Museumsstück ausgestellt werden. Funker gibt es längst nicht mehr. Die Satelliten, Handy, Smartphone u. Co. haben übernommen. Gleichwohl scheinen die Zeiten von einst gerade erst gestern gewesen zu sein. 28 Jahre Seefahrtzeit, von 1962 bis 1990, lassen sich nicht einfach so wegheften!
Vom Salzgeschmack der Ferne will ich erzählen. Von der Weite unseres vom Meerwasser umflossenen Planeten... Ich weiß, Sie meinen, die Welt sei klein geworden. Irgendwie stimmt das sogar. Im Internet lässt sich fast jedes Abenteuer aus dem Katalog bestellen. Jeder, der es sich leisten will, kann sich dort auf der Suche nach Extravaganz den absolut ober-geilen ultimativen Kick andrehen lassen. Doch, macht Massentourismus die Welt wirklich kleiner? Er verwässert nur den Reiz des Fremden, wenn man am anderen Ende der Welt ausschließlich auf andere Urlauber – und nicht auf die erwartete fremde Kultur stößt.
Zugegeben, manchmal bin ich ein arrogantes Lästermaul. Natürlich ist das Reisen kein Privileg der Seeleute! Aber ich bin überzeugt, auch Sie können sie nicht sonderlich leiden, diese Last-Minute-Lemminge, die unsere aufregende Erde breittreten, Exotik konsumieren wie Cola Light, nicht viel begreifen von der Faszination der Fremdartigkeit, und hinterher behaupten, es sei eigentlich überall wie auf 'Malle' gewesen. Das Reisen sollte ein Akt des Entdeckens sein, und nicht nur des Konsumierens. Oder ist das eine längst überholte Weltanschauung?
Ich erinnere mich an eine Zeitungsnotiz. Da beklagte das Corps Touristique, dass durch die Vermarktung der Tourismusindustrie die kulturelle Identität vieler Urlaubsländer bedroht sei. Den großen Konzernen gehe es darum, einzelne Länder in Marken zu verwandeln, die jede Eigenständigkeit "einfach platt walzen". Wenn sich die Länder erst ähnelten, könnten die Touristen ihren Urlaub ebenso gut unter der "Käseglocke eines Freizeitparks" verbringen, kritisierte der Verband.
Also, bevor unser Globus zu einem Freizeitpark verkommt, fahren Sie mit, kommen Sie an Bord, vergessen Sie den dämlichen Schnack, dass die Welt klein geworden sei! Lassen Sie sich vom Salzgeschmack der Ferne erzählen. Von Ländern, die uns jungem Seemannsvolk noch abenteuerlich fremd und aufregend erschienen, die wir noch selbst entdecken wollten. Auch wenn viele Seeleute es nicht zugeben, die meisten von uns wären gerne Kolumbus gewesen. Lassen Sie sich von Traumtrips erzählen, die jeder Seemann irgendwann erlebte. Aber auch von Rattendampfern, von vergeblichen Träumen und der Einsamkeit, die uns dort draußen zu schaffen machte. Von den Verführungen, denen wir ausgesetzt waren, von den freizügigen Mädchen, vom Teufel Alkohol, vom Schmuggel und manch bösem Erwachen.
Und stellvertretend für die Fahrensleute von einst – wir waren schließlich einmal 70.000 - möchte ich die Frage stellen, ob es die Jahre wert waren, auf so allerlei im Leben verzichtet zu haben. Für die Illusion, ein kerniger Macker zu sein? Für ein bisschen Abenteuer? Oder war es doch das großartige Gefühl der Freiheit, die wir dort hinterm Horizont suchten?
Vor der Pazifikküste Mittelamerikas