Читать книгу Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 1 - Mario Covi - Страница 7
5. VOM REGEN IN DIE TRAUFE
ОглавлениеEinen Monat lang hatten wir im Nigerdelta vor uns hin gegammelt. Nun aber wehte der lang entbehrte Fahrtwind der offenen See in unsere erwartungsvollen Gesichter. Wir fühlten uns frei und erhofften eine neue Reise-Order, die uns dorthin führen sollte, wo Hein Seemanns Träume wenigstens ein bisschen erfüllt würden... Doch leicht geriet man vom Regen in die Traufe, denn unser nächster Hafen hieß – Lagos! Glücklicherweise dauerte die Wartezeit auf Reede nur einige Tage, dann ging’s an die Pier. Dort schlug uns wieder jene Atmosphäre entgegen, die Lagos zum Albtraum werden ließ: Dreck und Gestank, Korruption, Misswirtschaft, Kriminalität. Die altbekannte Litanei!
Ich beobachtete, wie sich eine aggressive Gereiztheit aufbaute, mit der wir uns gegen die erdrückende Gegenwart der schwarzen Menschenmassen stemmten. Da stürmten achtzig bis hundert schweißdampfende Arbeiter an Bord, um den Frachter mit Palmkernen zu beladen: Sack für Sack wurde aufgeschnitten und in die Luke geleert. Da lungerten Jugendliche im Schatten der Schuppen, lauerten auf eine Gelegenheit, rasch etwas zu klauen oder aus einer Hieve zu reißen. Da entleerten sich Schauerleute und die Fahrer lebensgefährlich vergammelter Lastkraftwagen ungeniert vor aller Augen, schissen an die Pier, an Deck, in die Ankerklüsen, zwischen die Leinen, pissten fröhlich palavernd in das Hafenbecken und schlenkerten versonnen ihre schwarzen Pimmel.
Toleranz und Gelassenheit waren nötig, um nicht von selbstgerechter Verachtung gebeutelt zu werden. Unter der anonymen Masse an der Pier von Lagos-Apapa gab es bestimmt ehrenhafte, tüchtige, liebenswürdige Menschen. Die für einen Hungerlohn schwer schuftenden Hafenarbeiter, froh, einen Job zu haben, waren von Erwartungen, Freuden und Sorgen erfüllte Geschöpfe des gleichen Gottes, dem viele von uns Weißen ihre scheinheilige Außergewöhnlichkeit zu verdanken glaubten. Doch hier war kein Raum für subtiles Abwägen. Hier galten hemdsärmelige Kompromisslosigkeit und rigoroses Geschäftemachen als Tugenden, hier zeigte man keine Schwäche, keine Gefühlsduselei. Die Afrikaner? Nun, man brauchte sie leider für die Drecksarbeit. Ansonsten wünschte man sich die "schwarzen Affen" zum Teufel. Und nicht vergessen: immer in den Arsch treten, dem faulen, aufsässigen Pack! So musste man sich aufblähen. Dann war man aufgenommen im Kreise derjenigen, die schließlich wussten, was gespielt wurde!
Der Seemann erfuhr wenig über Hintergründe und Fakten. Für ihn war Tatsache genug, dass ihn jeder Landgang zum Freiwild für zwielichtige Gestalten machte. Für ihn war Hintergrund genug, dass ihn Taxifahrer nachts nicht durch gewisse Stadtviertel befördern wollten, aus Angst vor Raubüberfällen. Für ihn zeigte sich die Wirklichkeit afrikanischer Selbständigkeit in den Millionenwerten, die im Hafengelände verrotteten, während das Volk im Elend verreckte.
Dem Seemann offenbarte sich die Überwindung der kolonialistischen Knute, mit der einst die weiße Hand den schwarzen Rücken züchtigte, als krachender Gewehrlauf, mit dem Afrikaner auf Afrikaner zielte. Hinrichtungen wurden im Fernsehen übertragen. Einmal kam ich zum Essen in die Messe, wo der Flimmerkasten lief. Ein Motorenwärter freute sich: „Mensch Funker, da haste was versäumt! Eben haben sie gezeigt, wie sie wieder sechs Bimbos abgeknipst haben!“
Ein Fahrensmann berichtete, er sei zu einer Hinrichtung ins Fußballstadion eingeladen worden. Ein Deutscher aus Lagos erzählte von Vergeltungsschlächtereien, die nach dem politischen Umsturz auf öffentlichen Exekutionsplätzen stattgefunden hatten, selbstverständlich mit Life-Übertragung im Fernsehen: „Die ballerten volle zwanzig Minuten lang mit Maschinenpistolen auf die Todeskandidaten und zerhackstückten sie regelrecht!“
Mir erschien Lagos wie ein Sammelbecken für die Auswüchse und Gemeinheiten von Gesinnungslosigkeit oder dickköpfiger Ideologien. Barbarei und Arroganz prallten aufeinander. Schwarzafrikanisches Selbstbewusstsein kollidierte mit weißer vierschrötiger Unbildung. Hier wurde genüsslich kolportiert, dass auf den Afrikanermärkten nach dem Biafrakrieg Menschenfleisch verkauft worden sei. Man erzählte sich von grausigen Sitten, barbarischen Medizinmannspraktiken, in deren teuflischen Liturgien orgiastisches Kinderschlachten nicht fehlen durfte. Hier hatte jeder sein eigenes kleines Repertoire an Gemeinheiten, die den Glauben an menschliche Tugenden nehmen sollten. So wurde von Verkehrsopfern berichtet, die auf den Schnellstraßen liegen blieben wie überfahrene Hunde. Denn jeder, der sich um den vielleicht nur Verletzten kümmerte, galt als Verursacher. Oder der Autofahrer wurde vom Mob gelyncht, wie ein weißes Ehepaar, das ein schwarzes Kind angefahren hatte. Als der Fahrer hielt, überschütteten wütende Afrikaner das Fahrzeug mit Benzin und ließen das eingeschlossene Ehepaar verbrennen...
Hier war offenkundig, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer wurden. Hier hassten die Nigerianer die armseligen Fremdarbeiterheere aus Ghana, hasste die schwarze Masse der Arbeitslosen und Entwurzelten die weißen Neokolonialisten, die doch nur ins Land kamen, um mit den Herrschenden den Kuchen aufzuteilen. Und die Weißen hassten die "schwarzen Affen", weil sie ihnen beim schnellen Geldverdienen das Leben zur Hölle machen konnten. Das war es, was wir Seeleute an der vordersten Front von Lagos so mitbekamen, aufschnappten, erfahren konnten...
Unsere zehntägige Liegezeit, während der Sack für Sack ölhaltiger Palmkerne in die Laderäume geleert wurde, bekam noch einen letzten üblen Erinnerungsakzent verpasst. Eines Tages schwamm ein Toter neben dem Vorschiff, ein Afrikaner. Arbeiter hatten ihn mit einer Schlinge an der Pier befestigt. Keiner wusste, ob der Schwarze einfach ertrunken oder ein weiteres Opfer dieser von Gewalt beherrschten Stadt war. Da der Leichnam in der Tropenhitze bereits kräftig in Verwesung überging, band ihn ein geruchsempfindlicher Zeitgenosse nach zwei Tagen heimlich los, in der Hoffnung, dass Strömung und der Zahn der Zeit Barmherzigkeit üben mögen.
Am folgenden Tag trieb die Wasserleiche wieder zwischen Schiff und Kaimauer. Abermals wurde sie eingefangen und an einem Poller der Pier festgebunden. Direkt neben dem Achterschiff, nur wenige Meter von der Kombüsentür entfernt - stinkend, aufgedunsen, von Fliegen umschwirrt. Wir beschwerten uns. Man bedauerte und räumte ein, dass dies ein unhaltbarer Zustand sei, einfach "disgusting" – ekelhaft. Aber die zuständigen Behörden seien selbstverständlich informiert worden...
Von unseren Messen aus beobachteten wir den langsamen Zerfall eines menschlichen Körpers. Die Strömung hatte dem Toten die Kleidung vom Leib gespült, die üblichen Fetzen eines afrikanischen Stadtbewohners. Aus der Unterhose quollen kokosnussgroß aufgedunsene Hoden. Die schwarzbraune Hautfarbe verblasste, wurde zu einem widerlichen Käsegelb, getreu der erbarmungslosen Killerphilosophie des berüchtigten Söldners "Kongo-Müller", der sich damit gebrüstet hatte, aus jedem Schwarzen einen Weißen zu machen: Töten – und liegen lassen!
Währenddessen ging an der Pier der gewohnte Betrieb weiter. Im Hafenwasser von Lagos-Apapa treibende Tote waren schließlich nichts Außergewöhnliches. Auch wir gewöhnten uns an den menschlichen Kadaver, überspielten das Entsetzen mit dummen Witzchen, nannten den Toten schließlich "Willi" und mussten immer wieder hinschauen, aus einem inneren Zwang heraus. Trotz des grässlichen Anblicks, den wir von den Messen aus hatten, nahmen wir unsere Mahlzeiten ein ohne besonders intensiv zu schlucken. Nur wenn sich eine Fliege auf eine frisch gestrichene Brotscheibe setzte, nein, dann verging einem der Appetit!
Es ist kein Seemannsgarn: der Tote lag noch am nächsten und am folgenden Tag im trüben Hafenwasser. Mittlerweile hatten Fische ihr Werk begonnen. Als die Grenze der Erträglichkeit erreicht und der Tote bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt worden war, wurde die Leiche geborgen: ohne Hände, ohne Eingeweide, Kopf und Gesicht ein zerfranstes Bündel aus Sehnen. Ein menschlicher Körper, würdelos der schaulustigen Masse des Hafens preisgegeben...
Die makabre Pointe der ganzen Angelegenheit war, dass den Behörden zwar eine Wasserleiche gemeldet worden war. Aber mit Datum 28.11.1978. Es war jedoch erst Oktober. Wie solle man da eine Leiche bergen, die erst für November angesagt sei!
Fairerweise muss ich anfügen, dass Lagos auch eine Reihe schöner Erinnerungen hinterließ. Zum Beispiel ein Bootsausflug mit einer Clique deutscher Freunde durch die "Creeks" und Küstenkanäle nach Badagry, vorüber an malerischen Palmenhainen, an lieblichen Yorubadörfern mit freundlichen, unverdorbenen Menschen, die alle bitterbösen Erfahrungen und Vorurteile Lügen straften. Oder Claudia, die junge Frau eines Deutschen, der in Nigeria für eine große Baufirma tätig war. Sie soll stellvertretend für jene Weißen genannt werden, die nicht des schnellen Geldes wegen in Afrika weilten, sondern Land, Leuten, Geschichte und Zusammenhängen Interesse und Anteilnahme entgegenbrachten. Claudia formulierte ihre Weltanschauung einmal sinngemäß: „Es kommt immer wieder der Augenblick, wo ich entscheiden muss, ob das, was ich jetzt tun werde, gut oder böse ist. Und das menschliche Gewissen weiß ganz genau, was gut oder böse ist. So einfach ist das.“ – Sie war eine kritische und nachdenkliche junge Frau mit allen erfreulichen Attributen ihres Geschlechts. Etwa ein halbes Jahr nach diesem Gedankenaustausch erfuhr ich von ihrem tragischen und plötzlichen Tod durch Leukämie.
Westafrikanische Dorfidylle