Читать книгу Soziale Arbeit in der Suchthilfe - Marion Laging - Страница 12
1.4 Sucht als ein Phänomen der Moderne
ОглавлениеDem übermäßigen Konsum von psychoaktiven Substanzen einen »Krankheitswert« zuzuordnen, ist ein Phänomen der Moderne. Auch wenn es in vormodernen Zeiten übermäßigen und schädlichen Substanzkonsum gegeben hat (z. B. die legendären mittelalterlichen Trinkgelage), so ist eine Verknüpfung von einem bestimmten Konsumverhalten mit einer Krankheitszuschreibung eine neuzeitliche Idee, weswegen auch von der »Erfindung der Sucht « gesprochen wird (Groenemeyer und Laging 2012). Die »Erfindung« der Sucht fand in einem gesellschaftlichen Zusammenhang statt, in dem die gesellschaftlichen Anforderungen an den Menschen in Bezug auf Rationalität und Selbstkontrolle sehr viel stärker wurden. Damit wurde Trunkenheit erstmals als ein Mangel an Selbstdisziplin und als Verlust von Selbstkontrolle erfahrbar. Benjamin Rush (1745–1813) war der erste, der übermäßigen Alkoholkonsumformen einen Krankheitswert zugewiesen hat. Seine Krankheitskonzeption nahm bereits zentrale Merkmale vorweg, die 175 Jahre später mit den Arbeiten von Elvin Morton Jellinek (1890–1963) allgemeine Anerkennung erlangten ( Kap. 3). Rush ging davon aus, dass der Liebe zum Alkohol zunächst eine willentliche Entscheidung vorausgeht, die über ein gewohnheitsmäßiges Trinken dann allerdings zu einer Notwendigkeit wird. Diesen Zustand bezeichnet Rush dann als eine »Krankheit des Willens«. Aus diesem bereits als Sucht bezeichneten Verlangen nach Alkohol wird von Rush der ökonomische Ruin und der soziale Abstieg der betroffenen Individuen abgeleitet; eine soziale Komponente findet sich dementsprechend von Beginn der Auseinandersetzung an um das Phänomen Sucht (ebenda).
Aber erst im Juni 1968 stellte das Bundessozialgericht in Deutschland fest, dass Sucht als Erkrankung anzuerkennen sei und damit die Krankenkassen und die Rentenversicherungsträger für die Kosten von Behandlung und Rehabilitation einzutreten haben. Doch ungeachtet dessen gibt es weiterhin Thematisierungen auf unterschiedlichen Ebenen (Fachöffentlichkeit, medial, unter Betroffenen, z. B. Anonymen Alkoholikern) zu der Frage, ob und inwieweit Sucht tatsächlich eine Erkrankung ist, die einen Menschen »treffen« kann, wie beispielsweise Rheuma oder Parkinson, oder ob es sich bei der Sucht nicht doch zum großen Teil um eine Art moralisches Fehlverhalten handele. Beide Modelle – Sucht als eine Erkrankung im medizinischen Sinne und Sucht als ein Fehlverhalten – sind aber nicht die einzigen diskutierten Modelle, Vorstellungen bzw. Denkstile zu dem Phänomen Sucht (vgl. Wolf 2003). Sie sollen aber hier herausgestellt werden, da sie in einem engen Bezug zu der Frage stehen, inwieweit ein suchtkranker Mensch für seine Sucht persönlich zur Verantwortung zu ziehen ist und dementsprechend auch, welche Haltung suchtkranken Menschen im Kontext der jeweiligen Modelle zuteilwerden sollte.