Читать книгу Circles of Fate (3). Schicksalskampf - Marion Meister - Страница 12
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Noch immer standen ihr Tränen in den Augen, als sie sich von Serena abwandte und den Blick durch den Eispalast gleiten ließ. Das Orakel erfüllte sich – auch wenn der Untergang der Welt nicht damit begann, dass alles zu Asche wurde, sondern zu Eis. Schon jetzt war es bei Weitem schlimmer, als sie es sich in ihren düstersten Albträumen jemals vorgestellt hatte.
Bitte lass es Lita gut gehen!, schickte sie in Gedanken ein Stoßgebet an Faine. Seit sie die Weberinnen verlassen hatte, stand er ihr hilfreich zur Seite. Er machte ihr Mut, hatte ihr aber auch schon oft den Kopf zurechtgerückt, wenn er meinte, ihre Paranoia wegen dem Orakel ginge zu weit.
Plötzlich erschütterte ein heftiger Knall den Turm. Eine Explosion! Sie war so stark, dass die Druckwelle die eisigen Blätter klirren ließ und Eiszapfen von den Ästen brachen und in die Tiefe stürzten, wo sie auf dem Boden zerschellten. Serena schwankte durch die Wucht der Erschütterung. Misano hatte sie mitten im Laufen auf den Stufen eingefroren und nun drohte sie zu kippen. Hanna selbst verlor ebenfalls das Gleichgewicht und mit rudernden Armen versuchte sie, nicht zu fallen, und in derselben Sekunde wurde ihr bewusst, dass Serena kippte.
»Nein!«, schrie sie, warf sich vor und bekam die Eisstatue gerade noch zu fassen. Mit Serena im Arm klammerte sie sich ans Geländer. Von unten drang eine riesige Dampfwolke zu ihr herauf. Die winzigen Wassertröpfchen verwandelten sich in der Luft in Schneekristalle und schwebten als funkelnde Flocken zu Boden.
Hanna konnte durch die Schneewolke nicht erkennen, was unter ihr vorging, doch … irgendetwas Grauenvolles war passiert. Ihr Herz verkrampfte sich bei der Vorstellung, dass Lita etwas zugestoßen war.
Vorsichtig bettete sie Serena auf die Stufen, in der Hoffnung, dass es keine weitere Explosion gab und Serena nicht wieder ins Rutschen kam. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was mit ihrem gefrorenen Körper passieren würde, wenn er einen heftigen Schlag bekäme.
Fröstelnd zog sie den Mantel enger um sich. Die Kälte war ihr bis in die Knochen gekrochen. »Ich komme wieder«, flüsterte sie Serena zu und eilte hinunter zum Weltenraum.
»Du fackelst nicht unseren Turm ab, Misano!«, murmelte sie wütend. Sie schlitterte mehr, als dass sie lief, und ihr Herz galoppierte um sein Leben vor lauter Sorge um Lita.
Am liebsten hätte sie nach Lita gebrüllt. Aber ihre Angst, Misano könnte Eis auf sie feuern, war zu groß.
Als sie die Plattform erreichte, watete sie durch knöcheltiefen Schneematsch. Misano musste mit dieser Explosion jede Menge Eis geschmolzen haben. Durch den feinen Schneefall erkannte sie drei Schemen.
»Er hat uns überhaupt erst in Gefahr gebracht!«, brüllte eine Weberin.
Hanna ging auf sie zu und erkannte Rukar unter den dreien. Die Weberin, die ihn angeschrien hatte, schien kurz davor, ihn angreifen zu wollen, doch er wandte sich ab und schritt auf den Weltenraum zu.
»Warte!« Hanna eilte zu ihm. Die junge Frau, die so wütend auf ihn war, kam Hanna bekannt vor. Vermutlich war sie ein paar Jahre älter als Lita. Das glatte schwarze Haar, durch das sich eine breite lila Strähne zog, die schmalen Augen … das musste Tegan sein. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Sumi war unverkennbar. Hanna hatte oft mit Sumi in den Zweigen gewesen und Früchte geerntet. Sie war gestorben, als Lita noch nicht ganz ein Jahr alt war. Tegan musste damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein.
»Einen Moment.« Hanna hielt Tegan zurück, die Rukar nachsetzen wollte. Die zweite Weberin – Hanna schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn – wirkte ziemlich verängstigt. Sie nickte Hanna kurz zu. »Er ist auf unserer Seite«, sagte sie zu Hanna mit einem bittenden Unterton.
Vermutlich, dachte Hanna und warf Rukar einen prüfenden Blick zu. Immerhin hatte er Lita und ihr geholfen, als sie von Misano bewusstlos geschlagen worden war. Und er war … Hanna maß ihn erneut mit Blicken. Das musste warten.
Aufgebracht gestikulierte Tegan. »Er ist an all dem hier schuld! Er hat Misano reingelassen.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Hanna überrascht.
»Er hat mich betäubt, ausgeraubt und sich mithilfe meiner Klamotten und meinem Spiegelschlüssel Zutritt zum Turm verschafft.«
Skeptisch hob Hanna die Augenbrauen. So leicht konnte man nicht in den Turm kommen. Es brauchte mehr als nur den Mantel einer Weberin und einen gestohlenen Schlüssel. Sie wandte sich Rukar zu. »Du hast dich als Tegan verkleidet, um in den Turm zu gelangen?«
»War ’n Auftrag«, nuschelte er und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen.
Ein Auftrag also. Langsam setzten sich für Hanna die Puzzlestücke zusammen. Faine hatte ihr einmal von einem Halbblut erzählt, das für die Unsterblichen illegale Jobs erledigte. Sie betrachtete Rukars schwarzes Haar, das widerspenstig in alle Richtungen stand. Aber … Nein. Das war unmöglich.
»Rukar hat uns gerettet. Das Schmelzwasser hätte uns sonst in die Tiefe gerissen.« Nervös klammerte sich das Mädchen an ihre Tasche.
Tegan verdrehte genervt die Augen. Es war unverkennbar, dass sie Rukar am liebsten sofort in der Luft zerfetzt hätte. Rukar selbst reagierte nicht. Stattdessen beobachtete er besorgt den Weltenraum. Was beunruhigte ihn so sehr?
Seinem Blick folgend, bemerkte Hanna Elaine im Durchgang. Ihre Mutter lehnte an einer der Säulen. Jede Faser in Hanna versteifte sich und ihr wurde bewusst, dass sie nicht bereit war, Elaine gegenüberzutreten. Vor wenigen Stunden hatte ihre eigene Mutter ihr noch nach dem Leben getrachtet. Hatte sie sich Misano entgegengestellt? Sie schien verletzt zu sein. Nervös blickte Hanna zu den Schicksalsfäden. Wo war Lita? Hatte Elaine sie an Misano verraten? Sie geopfert, um sich selbst zu retten und zugleich Äons Strafe abzuwenden?
Bei jedem Atemzug stach ihr Herz. Wenn Lita zu Eis erstarrt war … Sie musste sicher sein, dass ihre Tochter am Leben war. »Ist Lita im Weltenraum?«, fragte sie Rukar.
»Ich wollte sie da rausholen.« Leise Verzweiflung schwang in seiner Stimme. »Aber sie hat sich geweigert. Und nach Misanos Abgang hat sie Elaine zum Tor gebracht und ist dann zurück.«
Alarmiert blickte Hanna sich um. »Ist Misano noch hier?«
Rukar nickte Richtung Treppenabgang. »Was immer er erreichen wollte, es scheint ihm gelungen zu sein. Er ist unten.«
Unwillkürlich atmete Hanna auf. Dennoch hielt sich ihr Verdacht, dass Rukar mehr wusste, als er preisgab, denn er wich ihrem Blick aus. Aber wenn der Unsterbliche den Baum bereits verlassen hatte, waren sie vorerst sicher.
»Haben Sie Äon gesprochen?«, wollte er wissen.
Tegan und die junge Weberin kamen näher.
»Sie haben Äon kontaktiert?«, fragte das Mädchen beeindruckt.
»Ich habe es versucht. Es hat mir nicht geantwortet.« Ihre Stimme klang verletzter, als sie wollte. Mit großen Augen sah das Mädchen sie an. Hanna wurde bewusst, dass die Weberinnen keine Ahnung hatten, was los war. Und … dass es kein Happy End gab. »Es ist weg«, sagte sie leise. »Dieses Chaos ist alles, was es uns hinterlassen hat.«
Das Mädchen zuckte zusammen und presste die Tasche, aus der eine Prophezeiung herauslugte, noch fester an sich. In ihrem Blick lag Entsetzen und doch schien sie nicht überrascht, dass Äon Misanos Angriff gewollt hatte.
»Ich bin übrigens Hanna. Und du …?« Sie streckte ihr die Hand hin.
Das Mädchen hielt ihre Tasche weiterhin umklammert. »Ich weiß. Sie sind Elaines Tochter und Litas Mutter. Jemand hat Sie entführt. Und es war nicht Rukar, sonst wären Sie nicht so nett zu ihm.« Für einen Augenblick hielt das Mädchen ihren Blick fest, so als wollte sie ihr etwas sagen, das niemand hören durfte. »Ich bin Winnie«, murmelte sie schließlich.
Tegan hatte sich neben Winnie gestellt und damit Abstand zwischen sich und Rukar gebracht.
Der wartete angespannt, die Hände noch immer tief in die Taschen seiner altmodischen Marinejacke vergraben, und spähte immer wieder in Richtung Weltenraum. »Sie meinen, diese Prophezeiung wird eintreten?«
Warum klang er so beunruhigt? Sorgte er sich tatsächlich um das Schicksal der Menschen? »Lita hat dir davon erzählt?« Wieso hatte sie das getan? Einem Halbblut! Lita hatte keine Ahnung von den Regeln der Weberinnen, sie kannte nur die Welt der Menschen. Sie hätte niemals mit jemand anderem als einer Weberin darüber reden dürfen. Noch einmal musterte sie ihn. Echte Angst spiegelte sich auf seinen Zügen, sein ganzer Körper war angespannt, als warte er nur auf ein Zeichen, um loszustürmen …
»Klingt übel«, murmelte er.
»Welche Prophezeiung?«, fragte Winnie zittrig.
»Äon hat das Ende der Welt beschrieben. Und es sieht ganz so aus, als würde sein Orakel sich gerade erfüllen.« Sie wandte sich ab, zum Weltenraum. »Ich muss zu Lita.« Es gab nichts weiter zu besprechen. Das Ende war gekommen. Und das Einzige, das für Hanna noch Bedeutung hatte, war Lita.
Plötzlich versperrte ihr Tegan den Weg. »Ich weiß, dass Ihnen die Regeln der Weberinnen nicht viel bedeuten.«
Erstaunt hielt Hanna inne. Was wollte Tegan damit andeuten?
»Aber Sie dürfen ihn nicht mit zu den Fäden nehmen. Er ist ein Halbblut.« Mit abgrundtiefer Verachtung sah Tegan über Hannas Schulter.
Rukar war ihr gefolgt. Noch immer die Hände tief in die Taschen gestemmt, als würde er so einen Panzer erschaffen, der ihn vor allem beschützte. Doch sie konnte auch sehen, dass er sich zur Ruhe zwang, obwohl in ihm ein Sturm tobte. Etwas machte ihm Angst. Etwas, das im Weltenraum … Lita. Hanna schnappte nach Luft, als ihr die Tragik bewusst wurde. Seine einzige Sorge galt Lita! Er hatte Gefühle für Lita! Am Tag des Weltuntergangs. Und Lita … Hanna versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Ihre Tochter hatte diesem Halbblut nicht nur das Orakel anvertraut. Sie hatte ihn in den Turm gebracht. Sie vertraute ihm. Er ist ein Freund.
»Er hat … Fähigkeiten«, meinte sie schließlich leise zu Tegan. »Falls uns noch irgendetwas helfen kann, dann vielleicht er.«
»Das ist nicht Ihr Ernst! Halbblutfähigkeiten?«, brauste Tegan auf. »Er ist Misanos Handlanger! Er wird uns mit seiner Unsterblichenmagie niemals helfen.«
»Wir alle sind Äons Handlanger.« Damit schob sie sich an Tegan vorbei. Sie spürte Rukars forschenden Blick in ihrem Rücken und sah sich zu ihm um. Schon als sie den Turm betreten hatten, meinte sie, sein wahres Geheimnis erkannt zu haben. Auch wenn sie es kaum glauben konnte … schließlich war es wider die Natur der Dinge. Hanna war bisher keine andere Erklärung eingefallen, um das Rätsel zu beantworten, das Rukar umgab. Wusste Äon von ihm?
Hanna nickte ihm zu und sofort setzte er sich in Bewegung, um ihr zu Lita zu folgen. Sie trat an den Torbogen. Die Fäden leuchteten wie immer. Ihr Blick glitt durch den Raum: keine Eisstatue ihrer Tochter! Für einen Moment fühlte sie sich leicht und glücklich. Aber wo war Lita? Vielleicht im Spindelwerk?
»Wo ist sie?«, wandte sie sich an Elaine. Sie erschrak, als sie nun sah, wie stark deren Verletzungen waren. »Was hat Misano dir angetan!« Elaines Gesicht war geschwollen, getrocknetes Blut bedeckte die Stirn und war über Wange und Kinn den Hals hinabgelaufen.
Elaine hielt die Augen geschlossen. Ihr Atem ging flach und schnell.
»Mutter?« Obwohl sie Elaine noch vor wenigen Stunden die Krätze an den Hals gewünscht hatte, standen ihr nun Tränen in den Augen. Was, wenn Elaine starb? Die Weberinnen brauchten die Oberste Weberin. Und sie selbst?
Zitternd kniete sie sich neben sie und legte ihre Hand auf Elaines. »Halte durch.« Sie konnte ihr nicht verzeihen, dass sie beabsichtigt hatte, Lita umzubringen. Doch ihre Mutter so zu sehen, brach ihr das Herz. Elaine war in ihrer Kindheit für sie da gewesen, auch als sie erwachsen geworden war und sich verliebt hatte. Bis zu jenem verdammten Tag, an dem Hanna hätte sterben sollen.
»Lita hat den Tod zu den Lebenden gebracht.« Elaines Stimme war nur ein Hauch.
»So war es Äons Wille.« Hannas Blick glitt wieder zum Gespinst. Keine Spur von Lita. Alles wie immer. »Du hast all die Jahre gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Niemand entrinnt dem Schicksal.«
Elaine öffnete die Augen und starrte über Hannas Schulter hinweg zu Rukar. »Er! Er hat uns alle auf dem Gewissen!«, zischte sie.
Hanna erhob sich seufzend. Tegan, die ihnen zusammen mit Winnie zu Elaine gefolgt war, murmelte etwas Unverständliches. Offensichtlich war sie mit Elaine einer Meinung, während Winnie sich am liebsten in ihrer Umhängetasche verkrochen hätte.
»Dieser Junge?« Abschätzend wandte Hanna sich ihm zu. »Ich glaube nicht, Elaine. Wir alle sind nur unserem Schicksal gefolgt.«
Elaine versuchte zu lachen, allerdings brachte sie nur ein Husten zustande. »Er hat mich an Misano ausgeliefert. Wäre ich hier gewesen, hätte ich all das hier verhindert!«
Wütend blickte Hanna auf ihre Mutter herab. »Natürlich. Du hättest Lita und mich aus dem Gespinst entfernt.« Sie hörte, wie Winnie erschrocken die Luft einsog. Sie hatten keine Ahnung gehabt. Geheimnisse waren jetzt nicht mehr von Bedeutung. Äon hatte beschlossen, dass alles endete. »Aber Überraschung, Mutter: Offensichtlich hat Äon nie gewollt, dass du deinen angeblichen Fehler wiedergutmachst. Misano wäre trotzdem hier aufgetaucht!« Sie ignorierte den wutentbrannten Blick von Elaine und wandte sich an Rukar. »Misano hat dich benutzt, um sich an Elaine zu rächen?«
Irgendwie gelang es ihm, die Hände noch tiefer in die Taschen seiner Spezialjacke zu vergraben. Er stand wie ein Schulkind da, das man an der Keksdose erwischt hatte. »Ich wusste nichts davon. Ich hatte auch keine Ahnung, was er mit dem Totenfaden vorhatte.«
Hannas Blick glitt zu den Schicksalsfäden. »Dann hat es sich also wirklich erfüllt«, murmelte sie. »Ohne Schicksal bringt die Welt zu Fall. Der Tod kommt zu den Lebenden.« Jetzt wusste sie, wo ihre Tochter war. Sie hatte Misano gehorcht und den Faden der Toten, die unten in der Sänfte lag, zurück in das Gespinst gebracht. Und vermutlich dachte Lita – naiv, wie sie in Bezug auf die Mechanismen des Schicksals war –, dass sie den Faden nun einfach wieder herauszupfen konnte.
»Lita hat uns verraten!«, zischte Elaine. »Sie hat sich Misano gefügt.«
Hanna zog scharf die Luft ein. Gefügt. Wohl kaum. Weder Misano noch Äon – Lita war niemand, die sich Angst machen ließ und sich fügte. Lita glaubte auch nicht daran, ein Schicksal zu haben. Vermutlich hatte sie gedacht, einen Ausweg zu sehen. »Ich gehe sie suchen. Winnie? Kümmerst du dich um Elaine?«
Die Weberin nickte und wollte Elaine aufhelfen, doch die schlug ihre Hand weg. Unsicher sah Winnie zu Hanna. Sie wagte es nicht, Elaine ein weiteres Mal Hilfe anzubieten.
Noch immer wirbelten kleine Flocken durch die Luft. Hinter ihr stand der mit dickem Eis bedeckte Baum. Die Weberinnen, die zu funkelnden Statuen erstarrt waren, starben in ihrer eisigen Hülle. Hanna sog tief Luft ein. Sie hatte keine Zeit für Elaines Machtspielchen, den Weberinnen lief die Zeit davon. Sie musste Lita finden und wissen, dass es ihr gut ging. Und irgendwie mussten sie dem Schicksalsbaum helfen. Es gab niemanden, der Elaines Platz einnehmen konnte. Hanna betrachtete den Trupp, der sich um sie geschart hatte. Wie viel konnte sie Winnie zumuten? Sie war angehende Archivarin, wie Hanna an ihrer lilafarbenen Kleidung erkannte. Tegan würde bei nächster Gelegenheit versuchen, Rukar auszuschalten. Sie konnte sie nicht mit ihm allein lassen und Rukar selbst … Er war erstaunlich. Hanna musterte ihn. Er war etwas, das niemand auf dem Plan hatte. Weder Elaine noch Äon. Und vermutlich nicht mal Jin, der wahrscheinlich gerade alles daransetzte, die Prophezeiung vollends zu erfüllen. Aber vielleicht konnte sie Rukars Talente für sich nutzen.
Diese drei mussten nun den Turm wieder in Gang bringen.
»Elaine! Du lässt dich von Winnie zu den Heilerinnen bringen«, befahl Hanna. Dann sah sie zu Tegan und zögerte. Sie musste wissen, dass es Lita gut ging. Sie in die Arme schließen und bei ihr sein, wenn die Welt zu Ende ging. Noch einmal sah sie Rukar an.
Lita hatte keinen Faden und er war jemand, der gar nicht existieren konnte. Vielleicht gab es doch eine Chance, Äons Willen zu untergraben.
»Tegan«, befahl Hanna, »geh und such Lita! Hol sie aus den Fäden raus. Sag ihr, es ist sinnlos. Sie kann den Totenfaden nicht mehr finden. Er hat keinen Pfad. Er ist wie ein Fussel im Wind.« Zu ihrer eigenen Überraschung klang sie wie ein Marschall. Tegan wirkte zwar von ihrem harschen Befehlston überrumpelt, dennoch nickte sie. Ihr Blick glitt zu Rukar, der noch immer wie das personifizierte schlechte Gewissen bei ihnen stand.
»Und er? Er ist verantwortlich für den Überfall«, sagte Tegan mit Nachdruck.
»Keine Sorge. Ich kümmere mich darum.« Hanna wandte sich an die junge Weberin. »Winnie, wenn du Elaine zu den Heilerinnen gebracht hast, dann such nach Überlebenden. Kontrollier das Spindelwerk und ob die Neugeborenen ihre Fäden erhalten haben.«
»Wird gemacht.« Winnie schob ihre Tasche nach hinten und trat auf Elaine zu. Erneut hielt sie ihr die Hand hin, um sie auf die Füße zu bringen.
»Kannst du laufen?« Hanna half mit, Elaine hochzuziehen. Doch die entwand sich ihr ruppig und stützte sich nur auf Winnie.
»Was hast du vor, Hanna? Verstehst du immer noch nicht, dass es zu Ende ist?«
»Ich streite nicht mehr mit dir, Mutter! Und bitte sei nett zu Winnie!« Sie sah sie mahnend an. Elaine begegnete ihrem Blick mit Starrsinn, Hochmut und Zurechtweisung. Aber Hanna trotzte ihrer Mutter. Sie trotzte der Obersten Weberin. Elaine, du bist schwach. Verletzt. Und du siehst nur, was du sehen willst. »Geh und werde gesund«, flüsterte sie ihr zu. »Ich bringe das Chaos in Ordnung.«
Elaine wollte auflachen, doch stattdessen krümmte sie sich unter Schmerzen. Winnie legte sich Elaines gesunden Arm um die Schulter.
»Schaffst du das?«, fragte Hanna besorgt.
»Natürlich.« Winnie pustete sich eine ihrer roten Haarsträhnen aus der Stirn und bugsierte die Oberste Weberin sanft, aber nachdrücklich in Richtung der Unterkünfte.
Elaine wandte sich noch mal zu Hanna um. »Du bist keine Weberin mehr. Du hast uns verlassen.« Ihre Stimme klang wie Gift.
»Ich wurde vertrieben, Elaine, aber nun bin ich zurück. Und der Turm hat seine Führung verloren.« Sie straffte die Schultern und gab dem drohenden Blick ihrer Mutter nicht nach. Hanna wollte nicht urteilen, ob und wie es zu diesem schrecklichen Tag gekommen wäre, wenn Elaine nicht davon ausgegangen wäre, selbst der Mittelpunkt der Prophezeiung zu sein. Vielleicht war es sogar ihre eigene Schuld, weil sie als besorgte Mutter Lita ihre Abstammung und die Wahrheit verschwiegen hatte. Genau wie Elaine hatte sie nur ihre Tochter schützen und sie aus Äons Plänen raushalten wollen.
Doch so wie es aussah, hatte Äon all ihre Schachzüge geplant.
Schließlich senkte Elaine den Blick, wandte sich ab und ließ sich von Winnie führen.
»Gut.« Mit einem Seufzen drehte sich Hanna zu Rukar um.
»Sind Sie jetzt die Chefin?«, fragte er.
»Es ist momentan niemand anderes da. Außerdem hat Elaine die Prophezeiung vor den Weberinnen geheim gehalten, sie wissen nicht, was der Welt bevorsteht. Also, ja, das bin ich. Und ich habe einen Auftrag für dich.«