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5. Greenwich Palace am Morgen des 10. April

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Sie sieht aus wie eine Saatkrähe, dachte der junge Mann im Beichtstuhl. Das spärliche Morgengrau, das durch die Giebelfenster drang, begünstigte sein Urteil nicht. Alles, was er im Kirchenschiff von der jungen Frau erkennen konnte, nahm ihm die Lust auf einen zweiten Blick: Ihre pechfarbene Giebelhaube aus Leinen und Holz verbarg Haar und Gesicht. Der Rest versank in einem formlosen zinngrauen Kleid.

War sie darunter zu üppig oder war sie mager wie ein Gestell zum Trocknen feuchter Wäsche? Zugegeben, die Hände, die sie jetzt zum Gebet schloss, waren hübsch. Von sahnigem Weiß und schmal, wie Madonnenschnitzer sie früher gestaltet hätten. Den Kopf mit der schweren Haube hielt die farblose Kreatur gesenkt. Bewegte sie die Lippen im Gebet? Man konnte sich das nichtssagende Gesicht zu all dem leicht ausmalen oder es genauso gut lassen, entschied Samuel van Berck und schloss den Spalt im Samtvorhang, durch den er die einsame Kirchenbesucherin studiert hatte.

Mit gerunzelten Brauen sank er in die Polster eines ausgedienten Beichtstuhls. Blicklose Engelsgesichter starrten aus einem hölzernen Himmel auf ihn herab. Zimmerleute hatten ihnen die Juwelenaugen herausgebrochen und mit Beilen die Heiligen auf den Schmucksäulen geköpft. So roh und beiläufig, wie sechs Jahre zuvor eine Meute Soldaten seinem Lehrer, dem Mönch Gregorius, den Schädel eingeschlagen hatte. Im Namen von König Heinrich dem Achten und seiner neuen Kirche. Sie hatten ihm auf den Stufen eines Seitenaltars mit der Axt den Schädel gespalten. Vor der Mutter Gottes hatte der Abt für Erhalt und Schutz seines kleinen Klosters nahe Canterbury gebetet. Umsonst.

Noch einmal trampelten in seinem Kopf Heinrichs Schergen über Tote hinweg, jagten die Brüder und Schüler der Abtei wie Treibvieh, schlachteten sie johlend, rissen das Marienbild vom Sockel. Es zerschellte auf den Kacheln. Herrliche Fenster wurden mit Piken in vielfarbige Splitter zerschlagen, das Kruzifix mit dem geschnitzten Leib Christi zerhackt und damit ein Feuer entfacht. Am Ende plünderten sie den Reliquienschrein des Heiligen Dunstan.

Der Mund des jungen Mannes zog sich zu einem harten Strich. Einige Lateinschüler der Abtei hatten eilfertig Heiligenfiguren zum Feuer geschleppt, die Hosen nass vor Angst und in der Hoffnung, den Schwertern der königlichen Mörder zu entgehen. Niemand hatte gewagt, sich ihnen entgegenzustellen. Auch er nicht.

Lord Dudley, damals noch ein Mann ohne nennenswerte Titel, war der Anführer der Mörder gewesen. Hoch zu Pferd und mit unbeteiligter Miene hatte er das Kesseltreiben beobachtet. Samuel van Bercks junges Gesicht verzerrte sich in unversöhnlichem Hass.

Gab es ein einziges Gebot, dass diese Reformer an diesem Tag nicht gebrochen hatten? Ihre Religion war grausamste Blasphemie. Die Kirche, die sie den Gläubigen gebaut hatten, erzeugte Furcht und schenkte weder Trost noch Vertrauen.

Die Reformer hatten den Menschen den Schutz der Abtei und der uralten Rituale genommen, um selber hemmungsloser Gier zu frönen. Freudlos und hässlich war ihre Kirche des neuen Glaubens! Wie das Mädchen im Krähengewand. Cass.

Noch einmal teilte er den Samtvorhang, sah, wie sie still ihre Bibel durchforschte. Mit zitternden Händen zog sie einen Papierstreifen hervor und studierte ihn, als handele es sich um ein neu entdecktes Evangelium. Waren es Anweisungen von Dudley? Wie töricht, sie aufzubewahren und mit sich herumzutragen! Diese Krähe schien zu allem Überfluss dumm zu sein. Und sie war die neue Waffe des Lords im Kampf um seine brüchige Macht? Samuel van Berck schüttelte zweifelnd den Kopf. Sein Dienstherr Jehan Scheyfve musste sich irren.

Aber der spanisch-katholische Botschafter irrte selten. Seine Spitzel am Tudor-Hof hatten die Ohren überall. So wie jetzt er, obwohl ihm die Aufgabe widerstrebte. Wieder sollte er nur zuschauen statt handeln. Ich will endlich offen und mit Leib und Leben für den katholischen Glauben einstehen. Stattdessen sitze ich in einem Beichtstuhl und spähe eine Krähe aus!

Der junge Mann seufzte lautlos. Grimmig wiederholte Samuel im Geist das Wortgefecht, dass er gestern im Schreibzimmer mit seinem Dienstherrn geführt hatte.

»Seid Ihr wirklich bereit, Euren Leib für die heilige katholische Kirche und Maria Tudor einzusetzen?«, hatte das Schlitzohr Scheyfve feierlich gefragt und ein Geheimfach seines Schreibtischs geöffnet, in dem er gewöhnlich eine lateinische Bibel verwahrte. Samuel war dem Bibelschwur vorausgeeilt. »Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist«, hatte er beteuert und war seinem Dienstherrn wie eine Fliege auf den Leim gekrochen. Scheyfve hatte genickt und statt einer Bibel eine Schale mit kandierten Kirschen aus dem Schubfach gezogen.

»Ich weiß aus recht sicherer Quelle, dass König Edwards Tage gezählt sind«, hatte Scheyfve begonnen. »Wenn das stimmt, gilt es unserer geliebten Maria Tudor zu ihrem Recht auf den Thron zu verhelfen. Wir müssen sie weiter im Norden in Sicherheit bringen, sie vor Giftanschlägen der Reformer beschützen und vor allem Dudleys Pläne in Erfahrung bringen.«

Verärgert über Scheyfves Bedächtigkeit, die er gleichermaßen auf Politik, Glaubensfragen und die Wahl der prallsten Kirsche verwandte, hatte Samuel aufbegehrt.

»Es bedarf keiner weiteren Spitzeleien. Dudleys Pläne sind offensichtlich! Zwanzig Kriegsschiffe sind in die Themse eingelaufen, die Geschütze sind aus dem Tower nach Greenwich geschafft worden, und Dudley wirbt Truppen. Er will Maria vernichten, vielleicht noch bevor Edward stirbt. Wir müssen ihre Anhänger für die Verteidigung des Glaubens begeistern. Jetzt schlägt Spaniens große Stunde und die Stunde des wahren Glaubens. Das englische Volk ist auf Marias Seite. Es hat diesen Kronrat der Mörder satt.«

Schweigen und das Ausspucken von Kirschkernen war Scheyfves erste Reaktion. »Sega, sega! Das Volk ist eine wankelmütige Bestie, und Ihr seid zu hitzig, dabei seid Ihr nur ein halber Spanier!«

»Und Ihr ein ganzer Flame – bedächtig wie ein Schnecke!« Und nicht weniger verfressen.

»Ich liebe Schnecken!« Wieder das Klicken von Kirschkernen. »Sie sind – in Wein und Rahm gesotten – recht schmackhaft. Außerdem können sie einem mehr über die Tücken des Weges erzählen und kommen sicherer ans Ziel als voreilige Hasen.«

»Oder zu spät!«

Wieder landete ein Kirschkern auf dem Zinnteller. »Junger Freund, ich bin Diplomat und wie jeder Flame dem Kaiser direkt Untertan. Er ist wie ich in Gent geboren und aufgewachsen. Die Zeit ist unser Acker. Bedächtigkeit hat manch unnützen Krieg verhindert und Flanderns Hafenstädte und Märkte zu den wichtigsten Handelsplätzen für Spaniens Schätze und das Gold aus der Neuen Welt gemacht. Kurz: Meine Heimat blüht.«

»Ihr seid wie mein Vater! Der Glaube muss sich den Geschäften unterordnen.«

Unbeeindruckt hatte Scheyfve eine weitere Kirsche gewählt. »Satte Menschen sind friedliebende Menschen, und Handel lebt vom Geist der Diplomatie, dafür steht Euer Vater wie kaum ein Zweiter. Abgesehen von mir.«

»Er ist lau wie alle unentschiedenen Christen. Sein Glauben beschränkt sich auf Lippenbekenntnisse.«

»Ihr täuscht Euch. Er ist ein beherzter Christ. In seiner Jugend, so sagte mir Eure Mutter, war er ein Hitzkopf wie Ihr. Heute handelt er mit Besonnenheit. Ihr wisst, was er als Gründer der Opal-Bruderschaft für Verfolgte – egal welchen Glaubens – tut. Er versteckt sie oder verhilft ihnen zur Flucht.«

»Er tut es seiner Geschäfte wegen. Seine heimliche Hilfe für englische Katholiken macht ihn bei seinen Kölner Handelspartnern beliebt, seine protestantischen Glaubensbekundungen dienen ihm bei der Kaufmannschaft Londons. Wahrer Glauben ist entschieden, nicht wetterwendisch oder käuflich.«

Bedauernd hatte Scheyfve den leeren Kirschteller beiseite geschoben. »Mit dem Maul ist man schnell ein Held und noch schneller ein Märtyrer. Bedächtigkeit, Verständnis und Geduld sind dem wahren Glauben dienlicher. Übt Euch darin, schließlich wollt Ihr Mönch werden.«

»Die Jesuiten versinken nicht in religiösen Betrachtungen, sie sind Soldaten Gottes.«

»Aber keine eifernden, vorschnellen Kriegstreiber, wie ich hoffe.«

»Zunächst gilt es, den Glauben im Kampf zu verteidigen.«

»Glauben sollte man vor allem leben und den Kampf solange als möglich vermeiden. Darum bin ich Diplomat, und Ihr seid zurzeit meinem Befehl unterstellt – auf Wunsch Eurer Eltern!«

»Wenn Maria erst auf dem Thron sitzt, werde ich die Gelübde ablegen und mich ganz der Mission durch das Wort widmen. Dem Schwert aus der Schrift.«

»Löblich. Und nun zurück zur Gegenwart. Wir haben kaum Soldaten und kein Geld. Die Waffe des Verstandes ist schon jetzt unsere schärfste, dazu kommt Euer hübscher Hintern.«

»Was soll das heißen?«

»Das Ihr – wie gewünscht und beschworen – Euren Leib einsetzen werdet. Die Franzosen haben ihren Frauenbetörer de Selve auf ein junges Ding angesetzt, ein halbes Kind noch, Cass mit Namen. Sie kommt aus Dudleys Haushalt und hat den Marquis seine Favoritenrolle und den Lauscherposten beim König gekostet. Es heißt, sie hat Edward kürzlich sogar bei Nacht besucht. Allein.«

»Wollt Ihr andeuten, dass dieser bedauernswerte Knabenkönig von knapp fünfzehn Jahren noch auf dem Totenbett einen Erben zeugen soll?«

»Unwahrscheinlich, aber sein Vater hat es immerhin mit sechs Ehefrauen versucht, um die Tudor-Dynastie zu erhalten. Mit dürftigem Erfolg. Von der verehrungswürdigen Maria Tudor einmal abgesehen.«

»Aber nicht mit einer hergelaufenen Zofe oder Auf Wärterin!«

»Ist diese Cass das wirklich? Dudley hat sie als Kind in seinen Haushalt aufgenommen. Er allein kennt ihre Herkunft. Man sollte seiner Fantasie nie Schranken auferlegen. Aber ich gebe zu, die Möglichkeit einer Liaison ist zu weit hergeholt, selbst für Dudley. Nun, wir müssen wissen, wozu er diese Cass braucht, wer sie ist und was sie mit Edward treibt!«

»Was hat das mit meinem Hi-, meinem Leib zu tun?«

»Er ist die schärfste Waffe, mit der wir de Selves Versuche parieren können. Ihr wisst, wozu dieser Franzose fähig ist, wenn es um l’amour und Minnespiele geht. Da, wo bei Euch ein richtiger Hintern sitzt, haben meine anderen Sekretäre nur eine Bratpfanne. Sie sind zu lange im Geschäft, verdorrt wie die Estremadura im August. Ihr seid jung, habt das spanische Temperament Eurer Mutter geerbt, und Euer Gesicht ist nicht übel. Es ist Frühling, diese Cass ist ein junges Ding ...«

»Das ist infam, Scheyfve! Und Ihr wisst, dass Frauen mich nicht mehr reizen.«

»Gott behüte! Sie soll nicht Euch, Ihr sollt sie reizen. Nur so sehr, dass sie sich Euch anvertraut. Mehr nicht. Sie ist noch jung, und sie ist fromm. Ihr werdet Eure heilige Keuschheit nicht aufs Spiel setzen müssen. Sie ist ein so empfindliches junges Pflänzchen. Genau wie Euer Hang zum Mönchstum.« Scheyfve spielte gern den Schalk.

»Meine Lebensaufgabe ist die Mission, kein schmutziges Spitzeldasein. Iesum Habemus Socium! «

»Schnickschnack. Zunächst müsst Ihr weltlichen Gehorsam lernen. Seht Eure jetzige Aufgabe als Demutsübung. Die verlangt dieser merkwürdige Baskenritter Ignatius von Loyola doch von seinen Anhängern? Es heißt, dass selbst die vornehmsten Novizen auf sein Geheiß die schmutzigsten Dienste tun müssen, um Ekel und Furcht zu überwinden und sich von allen irdischen Befindlichkeiten zu befreien. Sie teilen freiwillig das Bett mit Sterbenden. Dagegen sollte es eine Leichtes sein, einem Mädchen den Lenz zu versüßen! Bei aller gebotenen Abscheu vor der Sündhaftigkeit der Weiber, versteht sich!«

»Sie ist noch ein halbes Kind, wie Ihr sagt.«

»Tandaradei! Umso empfänglicher wird sie für harmlose Kosereien sein. Eure heilige Unschuld ist nicht in Gefahr.«

Wie gestern ballte Samuel auch jetzt die Fäuste im Zorn. Beim Blute Christi, er hatte das Haus van Berck aus Protest gegen die käufliche Toleranz und den laschen Glauben seines Vaters verlassen. Und nun sollte er im Namen Christi den Verführer spielen? Wieder schob er den Vorhang beiseite. Es musste einen anderen Weg geben. Den des Verstandes.

Die Krähe betete wispernd. Ein englisches Vaterunser, ein zweites, wieder eins. Wollte sie Dudleys Rivalen im Kampf um die Macht und die ihm genehme Thronfolge mit Gebeten außer Gefecht setzen?

Seit König Heinrichs Tod zankten im von ihm eingesetzten Kronrat zwölf geriebene Staatsmänner um jeden Zoll Boden, zur Hälfte Reformer und zur Hälfte heimliche Papisten – ein Abbild von Heinrichs ständig schwankendem Glauben. Lord Dudley spielte alle gegeneinander aus, indem er mal der einen, mal der anderen Seite sein Wohlwollen zeigte.

Eifrig, aber stets vergeblich spannen seine Rivalen Intrigen zur gegenseitigen Vernichtung, dingten Verleumder und Giftmörder, um näher an den Lord und Edward den Sechsten heranzurücken.

Der Kinderkönig war Dudleys Faustpfand. Er bewachte den jungen Tudor wie einen Towerhäftling, nachdem dessen Onkel Thomas Seymour vor vier Jahren versucht hatte, den damals Elfjährigen kurzerhand zu entführen. Wofür er den Kopf verlor, auf Geheiß seines Bruders, Edward Seymour, und natürlich auf Anraten Dudleys. Der Kainsmord am eigenen Bruder war der erste Stolperschritt des ehemaligen Reichsprotektors Seymour gewesen. Das Volk begann ihn zu hassen und der Kronrat schloss sich an, nachdem Dudley Seymour die Schuld für eine Rebellion von Bauern in die Schuhe geschoben hatte. Es war ein katholischer Aufstand gegen den Kronrat gewesen, den der findige Lord durch bezahlte Aufrührer selbst entfacht und dann siegreich niedergeschlagen hatte.

Kein Zweiter beherrschte die Kunst der Intrige wie Dudley. Er verdankte ihr inzwischen die Titel und Reichtümer eines Lord Admirals, eines Earl of Warwick, den des Oberhofmeisters des königlichen Haushalts, das Herzogtum Northumberland und nun die Leitung des Kronrates, den er jedoch nie um Rat fragte. Viele nannten ihn Englands einzigen Herrscher, der dem Thronerben alle Macht abschmeichelte. Dudley nährte in dem Minderjährigen, den schon die Seymours wie eine Puppe geführt hatten, geschickt den Glauben, er regiere selbst und das Kraft göttlicher Weisheit. Jeder Tudor war maßlos eitel. Diese Eitelkeit zu streicheln war das Geheimnis von Dudleys Erfolg.

Dem kränkelnden Edward, der sein Marionettenleben hasste, überzeugte er, dass er ein König Jesaja sei. Jener biblische Knabenfürst, der auserwählt war, sich gegen Habgier und Raffsucht der Vornehmen, gegen falsche Gelehrte und alle Sünden erfolgreich zu empören. Ein kommender Weltenheiler – größer noch als sein Vater, der selbsternannte Tudor-Gott Heinrich. Der Herzog war ein einfühlsamer Schmeichler, vertraut mit den Abgründen der Seele, wendig wie ein Eidechsenschwanz und glatt wie ein seidener Mantel. Wer danach griff, rutschte ab. Sollte Edward tatsächlich sterben, drohte Dudley ein tiefer Sturz.

Das Flüstern im Kirchenschiff gewann an Kraft und ließ Samuel die Ohren spitzen. Die Krähe betete jetzt laut. Erstaunlich! Gott hatte ihr die Stimme eines Singvogels geschenkt. Melodiös, wenn auch einen Hauch zu klagend. Immerhin trug ihre Stimme gut. Er neigte das linke Ohr zum Vorhang.

»Du, mein Gott, hast mich gelehrt zu überleben, als mir mein Leben wertlos, kahl und fadendünn erschien. Dafür danke ich dir ...«

Tat sie das? Es klang nicht danach.

Cass brach ab, ließ die Hände sinken und tastete nach dem verdorrten Leder eines Buches, das in ihrem Schoss lag. Sie setzte noch einmal an. »Herr, du bietest mir nun unverhofft die Aussicht auf Glanz und Fülle.«

Der Mann im Beichtstuhl unterdrückte ein Schnauben. Jetzt kam sie der Sache näher, wobei unverhofft wohl kaum den Tatsachen entsprach. Wer für Dudley arbeitete, tat es aus Gier. Für gute Handgelder, einen Titel, einen Posten bei Hof oder enteignetes Kirchenland. Wer es allerdings erfolglos tat, brauchte von all dem nichts mehr. Ein Totenhemd hatte keine Taschen. Rührten daher Furcht und Zweifel in der Stimme des Mädchens?

»Auch dafür danke ich«, kam es matt aus der Kirchenbank.

Dankbarkeit schien nicht zu den ersten Tugenden dieses Kindes zu zählen.

Cass schüttelte den Kopf. Wieder eine halbe Wahrheit. Sie hatte das Leben bei Hof von Anfang an gehasst. Das tägliche Gedränge auf den Korridoren, in den Präsentations-, Audienz- und Empfangsgemächern, den Kabinetten, den Gärten, in Innenhöfen, auf Stiegen, Treppen und im Abort. Die plötzliche Freundlichkeit ihres Ziehvaters Dudley, der sie vor drei Monaten von seinem Landgut herbefohlen hatte, weckte in ihr weder Zuneigung noch Dank. Sie hatte lediglich ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht, und hier hatte sie nicht einmal mehr das Vorrecht auf Einsamkeit.

Wo immer man sich bei Hof bewegte, war man umgeben von Schwärmen von Höflingen und Menschen, die auf Aufmerksamkeit hofften, um die Protektion eines Verwandten voranzutreiben, um eine Anhörung beim Anwalt des Hofes zu erwirken oder Beschwerde einzulegen gegen die Besteuerung von Dohlennetzen zum Schutz der Saat oder neue Brückenzölle.

Zudem war jede noch so unbedeutende Unternehmung von einem Ritual umgeben. Verlangte ein Mitglied des Kronrates oder der König nach einem simplen Ale, nach Brot oder Käse, versetzte dies eine Heerschar verschiedener Personen in Aufruhr, deren Privileg und Stolz es war, die Anfrage an den zuständigen Obermundschenk zu übermitteln, der wiederum einen speziellen Boten zum haushofmeisterlichen Speisenträger zu senden hatte, welcher jedoch nicht die Küchen betreten durfte, bevor ein Aufseher des Oberhofkochs informiert war. Dieser und andere schwerfällige Vorgänge sorgten für beständiges Gerenne und Tumult. Sie wollte nicht bei Hof bleiben, sie wollte ihm um jeden Preis entfliehen! Endlich frei sein von den Dudleys und ihrer zweifelhaften Protektion.

Und nun gab es einen Weg. Einen lockenden Weg. War es Sünde, ihn beschreiten zu wollen? Sie hatte immer mehr Kraft und Zorn in sich gespürt, als einem Mädchen guttat. Und sie hatte einen Verstand, der ihr sagte, dass sie in dieser Welt einen Mann brauchte, um frei zu sein. Einen Verbündeten, der verwegen genug war, es mit Dudley aufzunehmen und ihn, wenn nötig, zu vernichten.

Ihre Finger befühlten rastlos den gebrochenen Buchrücken, die zerlesenen Blätter, die sich aus der Bindung lösten. Ihr tröstlichster und über lange Jahre auch gefährlichster Besitz. Es war das einzige Erbstück ihrer Mutter. Eine der ersten Ausgaben des Psalters in englischer Zunge und ein Flammenscheit zu ihrem Tod als Märtyrerin des neuen Glaubens.

Unter dem schwankenden Reformer Heinrich Tudor noch verboten, waren Übersetzungen von Pentateuch, Psalter und Neuem Testament am Hof seines Sohnes nun Ausweis höchster Glaubenstreue und als Schmuckstücke so begehrt wie ehemals geschnitzte Rosenkränze. Allerdings in anderer Ausstattung als ihr schäbiges Exemplar. Jede Dame, die auf sich hielt und gefallen wollte, trug inzwischen eine juwelengeschmückte Miniaturbibel am Gürtel. Adelstöchter übten den fließenden Griff nach den Büchlein, um die absichtslose Eleganz ihrer Gesten zu zeigen. Sie probten Demutsblicke unter flatternden Lidern und zartes Stirnrunzeln beim Lesen so eifrig wie die Sprünge von Volta und Galliard. War ihre Mutter dafür gestorben? Für alberne Gänse und ...

»... mannstolle Wachteln?«, entfuhr es ihr. Die Wände der Kirchenhalle verstärkten ihre Stimme zu einem kalten Fauchen.

Wie? Der Mann im Beichtstuhl richtete sich überrascht in den Polstern auf.

Erschrocken schlug Cass die Hand vor den Mund. Selber Gans! Mein elender Zorn ist kein Beweis dafür, dass mein Glauben aufrichtiger ist als modische Frömmelei! Im Gegenteil! War sie denn besser als die Höflinge, die im Glauben nur ihren Vorteil suchten, oder als gefallsüchtige Mädchen, für die Religion nur Zierrat war?

Nervös blätterte sie in ihrer Bibel, begann den 23. Psalm Davids herzusagen. »Der Herr ist mein Hirte, er weidet mich ...« Ihre gehetzte Stimme gab selbst ihren Lieblingsversen einen heuchlerischen Klang.

»Ach, wärest du kalt oder warm. Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde«, brach es wütend aus ihr hervor.

War dieses Mädchen irre? Warum vermengte es Psalter und Offenbarung? Trieb es ein Spiel?

»Verflu-!« Cass biss sich auf die Lippen. Warum fand sie keine Worte, um Ihm zu offenbaren, was ihr Herz beschwerte? Beschwerte? Was es zum Singen brachte!

Ihre Fingerspitzen fuhren über einen mit Parfümöl bedufteten Papierstreifen, der ihr als Lesezeichen diente.

Ein jeder Mensch ist wie der Mond, er hat auch eine dunkle Seite. Ich bin der Schatten, du mein Licht. Du sanfte Taube im Felsennest, erhöre mich und schenke mir deine Gunst, erlöse, heile, liehe mich.

Wenn er es doch nur ernst meinte! Das schöne Gesicht des Marquis de Selve tauchte vor ihr auf, die wie von Künstlerhand gezeichneten Lippen, sein schlanker, muskulöser Leib. Schneidenscharf erinnerte alles an ihm daran, wie sehr es sich lohnen konnte, zu leben – und zu lieben.

Ihr Puls begann zu jagen. Rasch schlug sie das Buch zu, bedeckte es mit einer Falte ihres Wollgewandes. Feige Heuchlerin, beschimpfte sie sich. Deine Mutter ist für die Freiheit gestorben, jederzeit mit Gott zu sprechen, Ihm alles und in jeder Sprache sagen zu dürfen ... und zu müssen.

Aber was, wenn mir nicht der Sinn danach steht, mich ihrem Gott der Tapferen, Duldsamen und Demütigen anzuvertrauen? Was, wenn es etwas gibt, das man nicht Seinem Licht und Seiner Prüfung ausliefern will, weil es meilenweit entfernt ist von dem Himmelreich, dass die Bibelfrommen den Märtyrern und Verfolgten versprechen? Und ganz und gar von dieser Welt. Trotzig holte Cass Luft.

»Herr, ich will endlich leben und hier auf Erden glücklich sein! Hast du die Welt nicht auch darum erschaffen? Verlange ich zu viel?«

Krämerseele! Wenn dir dein Heil nichts wert ist, dürfte der Lohn, den du von Dudley einstreichst, genügen, dachte der Mann hinter dem Vorhang verächtlich.

Das Knarren von Holz ließ Cass zusammenzucken. Ihr Blick huschte zu dem Beichtstuhl. Flüchtig sehnte sie sich in das samtene Dunkel der Holzzelle, nach einem milderen Beichtvater als ihrem Gewissen. Nach einem durchsichtigen, fast körperlosen Mann mit Bart, wie sie sich als Kind einen ewig gütigen Gott gemalt hatte. Der alles verstand, ihren Hang zum Zorn, ihren uralten Schmerz, ihren Drang nach Freiheit und ... Sie holte tief Luft ... ihre Lebensgier. Wie tröstlich jetzt ein Pater wäre, der ihr Gebete wie Medizin verordnen und Absolution erteilen würde.

Du bist schon wieder albern, schalt sie sich. Der Allmächtige gehört nicht den Priestern, die fehlbar sind wie du. Und ist es vor Gott überhaupt eine Sünde, der Sprache des Herzens zu folgen? Sie begehrte de Selve ja nicht nur, um den Dudleys zu entkommen. Sie würde ihn darum lieben. Mehr als je einen Menschen zuvor. Mit Leib und Seele! Ganz gleich, was man sonst bei Hof von ihm hielt, sie wusste, dass sein Herz nicht von Stein sein konnte.

In ihrem Rücken knarrte die Kirchentür in den Angeln. Wieder jagte ihr Puls. Endlich. Sein Bote war gekommen!

»Herr, ich danke dir«, flüsterte Cass voller Inbrunst, als die Tür mit hohlem Seufzen ins Schloss fiel.

Wofür dankst du diesmal? Dass du in die Hölle fahren wirst? Der Mann im Beichtstuhl schüttelte sacht den Kopf. War das die Frucht protestantischer Gewissensprüfung, indem man Gott zum Schweigen brachte?

Cass strich mit fiebriger Eile die raue Wolle ihres Kleides glatt, kniff sich die Wangen, um ihnen Röte zu verleihen, und schob ihre Haube nach hinten. Niemand soll sehen, dass ich mich in Gedanken an ihn quäle. Qual macht reizlos.

Eine Stimme zerriss die Stille und setzte Zeit und Welt wieder in Gang.

»Was hast du erbärmliche Höllenbrut hier zu suchen?«

Das Tarot der Engel

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