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2. Greenwich Palace zur selben Stunde
ОглавлениеGreenwichs Schlossgärten und die nahe Themse schwammen silbern im Mondlicht. Vom Meer kommend, strich eine salzige Brise über den Fluss, durchflüsterte die Apfelbäume und pflückte erste Blüten. Eine Nacht, wie gemacht für die Liebe.
Und die Lust, dachte Marquis de Selve. Selbst auf die Betschwester, die er in dieser Nacht erwartete. Eine spröde Jungfer Rührmichnichtan des neuen Glaubens.
Er wandte sich vom Bogenfenster ab und nahm von einem Mohrensklaven, um den ihn der halbe Hof beneidete, einen Becher entgegen. Er trank einen Schluck, verzog das makellose Gesicht und spie aus.
»Sacre du nom! Dieser Wein ist eine Beleidigung für den Gaumen. Die Engländer verstehen nichts von Genuss. Ist der erträgliche Burgunder aus dem Keller des Königs schon verbraucht?«
Sein Diener hob bedauernd die Schultern. »Seine Majestät hat seit Tagen keinen neuen geschickt. Und Lord Dudley ...«
»Würde mir höchstens eine Kanne vergiftetes Ale aus der Spülküche zukommen lassen. Ihn beunruhigt, wie sehr König Edward mir zugeneigt ist.«
»Es heißt, er liegt krank zu Bett.«
De Selve hob spöttisch die linke Braue. »Wer? Der Donnerkeil der Reformation, der Wahrer des Reichssiegels, Englands erster Minister, Seine Gnaden der Herzog von Northumberland. Und Graf von Warwick? Kurz: unser geschätzter Speichellecker Lord Dudley?«
Der Mohr schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, der junge König natürlich.«
Natürlich. Das war nichts Neues, aber woher rührte die Krankheit? Und wie schwach war der fünfzehnjährige Thronerbe wirklich? Der Hof und halb Europa schwirrte vor Gerüchten. Die Ordnung der halben Welt – vielleicht der ganzen – hing vom dünnen Lebensfaden dieses Knaben ab. Zwei Halbschwestern standen bereit, um sein Erbe anzutreten. Die erzkatholische Halbspanierin Maria Tudor, Tochter von Heinrichs erster Frau Katharina von Aragon, und die undurchschaubare Protestantenfreundin Elisabeth, Tochter der zweiten Königin Anne Boleyn. Beide waren keine Freundinnen Frankreichs, und beide waren Frauen.
Nach der Geburt seines Sohnes Edward hatte Heinrich der Achte beide Töchter, die verschieden waren wie Tag und Nacht, zu Bastarden erklärt. Auf dem Sterbebett hatte er sie und ihre möglichen Nachkommen jedoch wieder in die Thronfolge eingesetzt. Er hatte jedoch nicht mit dem frühen Ableben Edwards gerechnet. Was, wenn dieser Fall nun einträte? Welche der beiden Töchter würde der Kronrat und allen voran Lord Dudley favorisieren? Wichtiger noch: Galt es nun, Maria oder Elisabeth zu umwerben und rechtzeitig für einen französischen Gatten zu gewinnen?
Er würde es herausfinden. Er musste es herausfinden. Von dieser Betschwester. Von Dudleys neuem Liebling Cass. Ein Lächeln umspielte de Selves vollendet schönen Mund, während er Patchoulikraut und Benzoeharz über einer Räucherpfanne zerrieb. Knisternd kräuselten sich die Blätter, zischend begann Harz zu vertropfen. Er würde einen Rosenkranz der Lust mit der Schwester beten!
»Bring noch etwas Styrax«, wies er seinen Leibdiener an und deutete zu einem kostbar gearbeiteten Kasten. »Und versetze den verfluchten Wein mit Honig und einer Messerspitze Schlafmohn.« Was den Heiden in der Schlacht über alle Schmerzen hinweghalf, würde die eiserne Jungfrau in einen Himmel entführen. Zweifellos würde sie ihn nach dieser Nacht als ihren neuen Gott in Erinnerung behalten. Oder als den Teufel.
Im Krieg wie in der Liebe war alles erlaubt, erst recht wenn beides untrennbar miteinander verbunden war. Nachdem sie ihren Leib hingegeben hatte, berauscht vom Duft der Begierde und vom Opium, würde die kleine Engländerin ihre letzten Geheimnisse preisgeben. Vielleicht gar aus Liebe? Das gefährlichste Rauschmittel für Weiber. De Selves Lächeln verwandelte sich in Verächtlichkeit.
Lieber hätte er diese Schlacht der Erzfeinde auf dem Feld als im Bett ausgetragen, aber ein Ritter Frankreichs hatte zu kämpfen, wo man ihn hinstellte.
Seit einem Jahr tat er das als Englands vornehmste Geisel. Man hatte ihn als Unterpfand eines fragilen französisch-englischen Bündnisses gegen den spanischen Weltherrscher, Kaiser Karl V, aus Paris hergeschickt. Der Fünfundzwanzigjährige hatte den Tudor-Hof im Sturm genommen. Alles in allem ein vergnüglicher Handstreich. Und so simpel im Palast eines unmündigen Königs, der sein jugendliches Feuer an Frömmelei verschwendete und seinen Hofstaat zu Tristesse und Gebet verdammte.
Der Marquis wusste, dass junge Höflinge ihn um seine Abenteuer als Komtur des Ritterordens des Heiligen Grabes zu Jerusalem beneideten. Die Damen waren berauscht von seiner Galanterie, in der ein Nachhall vom Gesang der Troubadoure mitschwang. Sein größter Coup war die Eroberung des fünfzehnjährigen Edward gewesen. Der Katholik und Ordensritter de Selve hatte den Jüngling von Bibel, Gebetbuch und Lord Dudley weggelockt, hin zu Falkenjagd, Bogenkämpfen, Wildschweinhatz, Fechtübungen und Wettritten. Fad und bleich wie Molke war der Tudor-Sprössling gewesen. Nie zuvor hatte er gewagt, es mit dem Vorbild seines Vaters aufzunehmen. Nur in evangelischer Strenge hatte er Heinrich Konkurrenz gemacht.
Lächerlich!
Er, der Marquis de Selve, stand für Frankreichs Triumph über reformatorische Frömmigkeit und Zucht. Bis Lord Dudley eine neue Schachfigur ins Spiel gebracht hatte. Cass, die der junge Edward ein Vorbild an weiblicher Tugend nannte und die er inzwischen zu privaten Audienzen lud. De Selves Lächeln erstarb. Es war harte Arbeit gewesen, dieses lästige junge Ding herzulocken. Höchste Zeit, dass sich seine Arbeit wieder mit Vergnügen verband.
In milder Erregung strich er sich über den Mund. Wie viel Zeit hatte er auf fabelhafte lettres d’amour verschwendet! Vorübergehend hatte er sogar befürchtet, er müsse von Heirat schwätzen, damit sie zu einer nächtlichen Begegnung bereit wäre. Eine gefährliche Angelegenheit – in England galten selbst formlose Ehegelöbnisse als bindend. Nun, die Gefahr war gebannt, das Ziel endlich in Sicht. Der Rest des Weges war einfach. Für die Betschwester führte er immer nur bergab.
Erfrischt durchschritt de Selve sein Schlafgemach, begutachtete die Vorbereitungen. Der Wein war gemischt, die Laken des Bettes waren glatt gezogen, die Decken und Kissen mit Ambra besprengt, dem weiblichsten aller Düfte.
Ein leises Klopfen. Er bedeutete dem Diener, sich durch die anschließende Empfangskammer zu entfernen, und öffnete die Tür zum Korridor.
Da stand diese Cass vor ihm. Mit gerecktem Kinn und geradem Rücken. Erstaunlich! Mädchenhafte Scheu schien ihr fremd. Nur das Zittern des Wachslichtes in ihrer Hand verriet Unsicherheit. Oder Begierde? Seltsames Ding. Sie war bei Gott kein kokettes Geschöpf, das um die Macht seiner Reize wusste oder sie einzusetzen verstand. Sie trug ihre gräßliche Giebelhaube mit einem Gleichmut, der an Erhabenheit grenzte. Oder an Arroganz?
Sans importance! Es würde ein erlesenes Vergnügen sein, ihr zugleich mit der Haube und dem zinngrauen Kleid die Maske überlegener Tugend abzustreifen, die den jungen König so faszinierte. Was für eine Lust, diese Cass seufzen zu lassen! Ob sie stöhnen würde oder schreien? Der Marquis fühlte, wie er ihr entgegenwuchs.
»Entre, ma petite.«
Feierlich griff er nach der linken Hand der jungen Frau und zog sie über die Schwelle. Mit einem genau bemessenen Hauch von Ergriffenheit ließ er seine Blicke an ihr hinabgleiten. Himmel, war dieses Gewand scheußlich! Die Eichentür fiel mit schrillem Quietschen zu, der Riegel schnappte ins Schloss. Er hätte beides ölen lassen sollen. Cass schien den bedauerlichen Misston nicht zu bemerken.
»Endlich bist du gekommen, meine Taube aus dem Felsennest«, raunte er mit Balsamstimme.
»Das ist Sünde!«
»Comment?« Er hatte doch noch nicht einmal angefangen.
»Missbrauche das Hohe Lied nicht als Lobgesang auf tierhafte Lust.«
Die Aufgabe, die vor ihm lag, schien weniger amüsant zu sein als gedacht.
Der Marquis bemühte sich um Empörung. »Tierhafte Lust? Wie kannst du an so etwas denken?«
»Weil ich aus diesem Grund hier bin oder nicht?«
Das Staunen in ihrer Stimme schien echt. Dieses Mädchen war eine unfassbare Mischung aus Sanftmut, Rebellion – Cass trat an ihn heran, legte ihre Hände um sein Gesicht, sein Blick traf ihre tauben-, nein rauchgrauen Augen – und Verlangen.
Herr im Himmel, er hatte es mit einer Gegnerin zu tun, die ihm gefährlich werden konnte. Sie verbarg mehr als ein paar Staatsgeheimnisse, genauso wie er. Und sie reizte ihn tatsächlich. Er streifte ihre Haube ab, ihr Haar glitt in weichen Wellen über seine Hände. Cass zog sanft seinen Kopf zu sich herab, küsste ihn schmelzend, teilte seine Seidenlippen mit der Zunge. Nicht drängend, sondern kostend. Abrupt unterbrach sie das lockende Spiel.
»Das ist schön«, stellte sie im Ton der Unschuld fest. Flüsternd fuhr sie fort. »Es vergeht keine Nacht, in der ich mich nicht nach dir verzehre.« Dann entriss sie ihm die Haube, schlang ihr Haar zu einem Knoten und setzte sie wieder auf.
Nom de Dieu! Entweder sie war das abgefeimteste Weibstück, das ihm je begegnet war, oder sie war eine ganz und gar neue Erfahrung.
De Selve packte Cass bei den Schultern und drängte sie zu seinem Bett. Geschmeidig wie eine Katze entwand sie sich seinem Griff und winkelte blitzschnell den Ellbogen an. »So nicht, Monsieur!« Der Stoß traf den Marquis genau unter dem Rippenbogen. De Selve krümmte sich jaulend.
»Verzeih«, stieß Cass erschrocken hervor. Schweigen und das Keuchen des Marquis füllten die Stille.
»Das wollte ich nicht. Aber die Wonnen der Lust kann ein Mann wie du von allen Frauen haben. Du solltest wissen, was zu tun ist, bevor ich mich dir hingeben kann«, sagte die Betschwester. Fast feierlich fuhr sie fort: »Mit dem Verblassen der Begierde verblasst gemeinhin auch die Liebe. Versteh mich recht, ich bin nicht ohne Leidenschaft, aber ich wünsche mir Dauer. Alles andere hat keinen Wert.«
Der Marquis verstand durchaus und schwieg, zumal er nach Luft schnappte.
»Ich erwarte deine Antwort wie immer in der Kapelle beim Themsekai.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür, verharrte zögernd auf der Schwelle, sagte mit dem Rücken zu ihm: »Ich möchte dich wirklich lieben, Antoine de Selve, und ich weiß, dass ich es kann. Nichts anderes erwarte ich von dir.«
Die Tür fiel wieder ins Schloss. Diesmal mit höhnischem Kreischen, wie dem Marquis schien.
Noch immer rang er nach Atem. Diese Cass, dieses halbe Kind, war alles andere als lammfromme Demut. Sie war eine Herausforderung. Pas du tout! Er würde sie annehmen und siegen. Was sonst.