Читать книгу Das Tarot der Engel - Marisa Brand - Страница 14
9. Greenwich Palace Dienstag, 9. Mai am Morgen
Оглавление»Mon Dieu! Haltet endlif ftill!«, presste der Gewandschneider Dupois zwischen Nadeln hervor, die aus seinem Mund spitzten.
»Aber das sticht, und der starre Stoff nimmt mir die Luft zum Atmen«, protestierte Cass, in deren Taille Dupois die Nähte einer Schnürbrust absteckte. Was lag ihr an einem Kleid, das solche Zutaten verlangte. Selbst wenn es im Auftrag des Marquis entstand. Cass lächelte versonnen und schlich sich in Gedanken zurück in die letzte Nacht.
»Ich will, dass du heute Nacht glänzt wie eine Königin, auch wenn unsere Hochzeit im Geheimen stattfinden muss. Goldene Schmuckkettchen wollen wir dir machen mit Perlen aus Silber.«
»Du versündigst dich schon wieder am Lied der Lieder!«
»Du hast alle Zeit der Welt, um mich zu läutern, wenn du meine Frau bist. Siehe, du bist schön, meine Freundin, deine Augen sind Tauben. Du hattest recht. Liebe ist etwas Heiliges, ma petite.«
»Nicht, wenn sie dich zum Lügner macht.«
»Ich lüge nicht, du bist schön. Mein Schneider Dupois wird dir ein Gedicht auf den Leib schneidern, genau wie ich es dir vor unserer ersten gemeinsamen Nacht versprochen habe.«
Und – was wichtiger war – auch danach.
»Fluff mit dem Fappeln!«, schimpfte Dupois. Mon Dieu. Eine einzige Anprobe! Wie sollte er nur je fertig werden? Zumal die Maße, die er diesem Ding vor einem Monat flüchtig abgenommen hatte, nicht stimmten. Widerspenstiges, ungeduldiges Ding! Selbst Herzoginnen zeigten Ehrfurcht und Geduld, wenn er Hand anlegte.
Cass schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu stehen. Es fiel ihr schwer, denn alles in ihr war Jubel. Es gab einen gnädigen, unfassbar gütigen Gott! Einen, den ihre Mutter nie gekannt hatte. Was am Hof über den Verführer de Selve getuschelt wurde, war falsch! Unvorsichtigerweise hatte sie sich ihm nach dessen Antrag vor einem Monat ganz geschenkt und war in ein Paradies der Wonne eingetreten. Mit Ambra hatte de Selve den Spalt zwischen ihren Brüsten bestrichen, um sich dann mit kundigem Mund und Händen daran zu ergötzen. Ihr Körper hatte seine Lust ohne Widerstand beantwortet.
Die Leichtigkeit ihrer Vereinigung hatte sie überrascht. Genau wie der Ansturm ungezügelter Lust, die den reißenden Schmerz übertönte, als Antoine ihr Hymen durchstieß und ihr Jungfrauenblut sich mit seinem Samen vermischt hatte. Seither hatte er ihr nicht mehr beigewohnt.
»Ich will bis zu unserer Hochzeit warten. Warten, bis du dich mir ganz öffnest und mir auch deine Seele schenkst! Wirst du das tun?«
Ja. Ja! Er verehrte sie, er liebte sie, er begehrte sie zur Frau. Was lag ihr an dem Kleid! Sie würde der Macht Lord Dudleys bald auf immer entzogen sein. Sie würde nicht nur von ihrem verhassten Ziehvater freikommen, sie würde wahrhaftig lieben und nie mehr Geheimnisse haben. Es würde herrlich sein, die Vergangenheit auszulöschen. Als Madame de Selve! Diese Anprobe allerdings war eine Plage.
Sehnsüchtig glitt der Blick des Mädchens zu den schmalen Fenstern, die auf den Fluss gingen. Eben stieg im Osten die Sonne über der Themse auf, sie schwamm in Blut und Gold und verkündete nach den Regenfällen der letzten Tage einen herrlichen Maibeginn. Staubkörner tanzten auf ihren Strahlen durchs Zimmer. Wenn nur schon Mitternacht wäre!
Wieder fuhr ihr eine Nadel in die Haut. »Au!«
»Verflucht!« Dupois spuckte die Nadeln in seine Hand und wischte sich die Stirn. »Hat man Euch noch nie eine Schnürbrust angemessen?«
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich danke meinem Schöpfer, dass ich davon bislang verschont blieb.«
»Verschont? Barbarisch! Wozu seid Ihr bei Hof, wenn Ihr Euch wie ein Bauerntrampel aufführt? Und anzieht!«
Cass’ Miene verschloss sich.
»Ich bin nur die Vorleserin der alten Lady Margaret, die dem Damenhof vorsteht. Und das«, sie wies mit der Hand auf ihr zinngraues Kleid, das in wirren Falten über einer Truhe lag, »ist mein bestes Kleid. Es war mein letztes Weihnachtsgeschenk von Lord Dudley.« Bei Gott, ihr allerletztes!, jubelte sie.
»Das soll ein Geschenk sein?« Ungläubig wühlte Dupois in dem Berg aus Wolle. »Das fühlt sich an, als sei es aus der Sterblingswolle verendeter Tiere gemacht. Und dazu diese Haube!« Mit Abscheu betrachtete er Cass’ Kopfputz. »Ihr seid ausgestattet wie ein Bettelnönnchen. Ich dachte, die seien in England nicht mehr à la mode?«
In der Tat, dachte Cass. Wäre der katholische Glaube noch in Mode, hätten ihre Zieheltern sicher auf einem härenen Büßerhemd aus Rosshaar und Sackleinwand für sie bestanden. Erst recht, wenn sie ahnen würden, was sie heute Nacht tun würde.
»Man sollte meinen, dass die Herzogin von Northumberland die Mitglieder ihres Haushaltes nicht wie Vogelscheuchen herumlaufen lässt, selbst wenn sie nur Vorleserinnen halb tauber Schachteln sind.«
»Bei Arbeiten in Haus und Garten wäre eine Schnürbrust kaum nützlich gewesen.« Spitzbübisch fügte sie hinzu: »Außer vielleicht bei der Honigernte oder beim Stutzen der Brombeerhecken.«
Monsieur reagierte prompt: »Impossible! Lady Dudley hat Euch gezwungen, Gesindearbeit zu verrichten?«
»Sie verabscheute mein Zappeln genau wie ihr. Ich sitze ungern den ganzen Tag beim Fenster und stichele Hemdsäume oder sticke Stuhlkissen. Also schickte sie mich möglichst häufig in die Gärten.«
Den einzig erträglichen Ort des herzoglichen Anwesens, fügte Cass insgeheim hinzu. Oh, sie würde bald wieder einen Garten haben. Ihren eigenen. Einen französischen Garten. De Selve hatte ihn ihr in allen Farben geschildert! Die Blumenbeete, die Springbrunnen, die zu Figuren gestutzten Hecken. Nur noch ein paar Monate, dann wäre die Zeit seiner Geiselhaft abgelaufen. Sie würden nach Frankreich gehen, wo sie offen als Mann und Frau leben konnten. Nur für sich und die Liebe.
»Ein Stickrahmen ist eine Zierde in Frauenhänden, und gerade Hemdsäume sind ein frommes Werk«, schimpfte Dupois.
Cass verzog die Lippen. »Mag sein, aber was beweisen dann krumme Säume? Ich überlasse die hohe Kunst der Schneiderei lieber begnadeten Männerhänden wie den Euren, Sir! Bauerntrampel wie ich taugen mehr für die Arbeiten außer Haus.«
Dupois’ Augen wurden schmal. Machte dieser vorlaute Blassschnabel sich über ihn lustig?
»Wie alt seid Ihr?«
»Achtzehn.«
»Also mehr als alt genug, um ...«, er wedelte mit der Hand in Richtung ihrer Brust, »eure Wölbungen einzudämmen. Sie verderben den Gesamteindruck meines Ensembles. Euer Oberkörper muss einen flachen, nach unten spitzen Kegel bilden. Mein Brustvorsatz aus Seidenbrokat hat eng anzuliegen. Ich arbeite nach den göttlichen Gesetzen der Geometrie. Auch wenn weibliche Körper sich diesen Gesetzen in bedauerlichster Weise widersetzen. Ihr scheint ein wenig fülliger geworden zu sein, als meine Maße vorgeben. Ich werde vorn einen Blankscheit in die Schnürbrust einnähen, dann kann man sie enger schnüren.«
»Noch enger?«, begehrte Cass auf. »Dann ersticke ich.«
Sie hatte lange genug an der Giebelhaube zu tragen gehabt. Sie wollte die eine Fessel nicht gegen eine andere eintauschen. Seufzend rückte sie das Ungetüm gerade, bald würde sie wenigstens die Haube für immer ablegen. De Selve liebte es, wenn sie ihr Haar offen trug.
»Ich habe lediglich Reetstäbchen verwandt«, stöhnte Dupois. »In Spanien unterfüttert man die Mieder jetzt mit Bleiplatten. Keine üble Idee, aber man verdirbt dann alles durch halshohe Kragen und Krausen. Non, non, non! Da bleibe ich Franzose. Ein Dekollete mit juwelengefasstem Bogen ist unverzichtbar. Der Marquis möchte, dass man Eure Reize unter dem Brustvorsatz zumindest erahnen kann. Ich pflege mit Draht und Leimbinden alles ein wenig anzuheben. Das hat Zukunft.«
»Leim und Draht!«, rief Cass entsetzt und legte die Arme um ihren Oberkörper.
»Bei Euch wird wenig genügen. Eure Formen sind jung wie grüne Äpfel. Dennoch, ein Mieder ist unverzichtbar. Und dazu der mit Weidenruten gespreizte Reifrock.«
»Ich will keinen Reifrock!«
»Was tragt Ihr denn gewöhnlich unter diesem, ehm, Sack?«, fragte Dupois und hob mit spitzem Finger Cass’ Wollkleid an.
»Natürlich mein Flachshemd!«, Cass schaute an sich hinab. »Es ist weit und bequem.«
Monsieur setzte zu einer weiteren Tirade an und und vergaß die Stichelei. Cass lockerte verstohlen die Nestelbänder der Schnürbrust, die ihr Übelkeit verursachten. Sie holte erleichtert Luft.
»Wisst Ihr überhaupt zu schätzen, was ich hier für Euch tue? Ich, François Dupois, nähe einer Waisen von zweifelhafter Abstammung das Kleid einer Fürstin! Ich riskiere meinen Rauswurf aus diesen ohnehin bescheidenen Kammern, schlimmer noch: meinen Ruf!«
Der französische Hof, an dem Schneidermeister anscheinend wie Herren leben, muss ein wunderlicher Ort sein, dachte Cass. Jeder englische Page, ja sogar mancher Höfling wäre froh über den Luxus eines so intimen Gemachs. Noch dazu zwei Kammern! Greenwichs halber Hofstaat verteilte sich nachts in Hallen, Korridoren, Alkoven, Wachstuben und Fenstererkern, um auf einer Binsenmatte zu schlafen oder, in den Umhang gerollt, vor den Betten ihrer Herren. Drangvolle Enge war der Preis für die Nähe zur Macht. Sie selbst teilte sich mit vier, oft sogar sechs Kammerjungfern ein Lager – wenn sie es überhaupt aufsuchen konnte! Ihr halbes Leben fand bei Nacht statt.
»Im Palais du Louvre von Paris bewohne ich drei Gemächer. Jawohl. Drei!«
Dupois goss aus einer Kanne mit Wasser versetzten Wein in zwei Becher und reichte einen an Cass. Dankbar nahm sie einen Schluck. Dupois nippte kurz und stellte den Becher angewidert zurück.
»Ah, pauvre de Selve! Der König hat ihm immer noch keinen neuen Burgunder verehrt. Man behandelt uns zunehmend wie Kriegsgefangene! Pah. In meinem Empfangssaal in Paris drängen sich die Vornehmsten des Hofes, um mir ein Gewand abzuschwatzen. «
Cass gähnte verstohlen. Der König verlangte so häufig nach ihr wie de Selve, leider konnte sie dem Ruf des Marquis weit seltener folgen.
Sehnsüchtig glitt ihr Blick zu Dupois’ Bettstatt. Vier Pfosten! Was für ein Traum es wäre, wenn sie sich dort einfach hinstrecken und sich ihren Gedanken hingeben dürfte an das, was er in einem noch prachtvolleren Bett heute Nacht endlich wieder mit ihr tun würde. Als mein Mann! Mein Mann!
»Und hier? Zwei schäbige Löcher. Ohne Luft und Licht.« Dupois plusterte sich auf – in Gedanken an sein Schicksal vertieft – und stolzierte zu den Fenstern der Dachkammern an der Themsefront. Er stieß eins auf. »Direkt über einer Kloake!« Angewidert schüttete er den Inhalt seines Weinbechers hinab. »Dieser Fluss stinkt erbärmlich.«
Unsinn, dachte Cass, er schwillt an vom reißenden Wasser des Frühlings, er bringt neues Leben, spült allen Unrat fort.
Dupois zog mit dramatischer Geste ein Stück Seidenstoff hervor, das er Taschentuch nannte. Mit Leidensmiene presste er es gegen seine beachtliche Nase. »Ich verschwende mich auf dieser Nebelinsel«, sagte er. »Man versprach mir, dass ich für den Obergewandmeister des Königs schneidern dürfe.«
Ah, er hätte diesen Engländern endlich Raffinesse beigebracht. Die Bilder von Edwards Vater zeigten deutlich, dass die königlichen Schneider keinen Geschmack hatten. Auf den Porträts von Meister Holbein erinnerte Heinrich der Achte an ein juwelenbesetztes Butterfass. Ein glitzernder Fettfleck. Er, der unvergleichliche Dupois, hätte Größeres vollbringen können. »Aber was ist? Voilà. Man sagt das Turnier zum ersten Mai ab. Einfach so.« Er schnippte mit den Fingern.
»Der König war zu krank«, warf Cass ein und biss sich sofort auf die Lippen. Niemand, niemand durfte auch nur ahnen, dass sie mit Edward in enger Verbindung stand.
Der Schneider winkte ab. »Ihn plagte wie immer sein leidiger Husten, sonst nichts.« Er streichelte die Stoffballen, die auf einem Tisch beim Fenster aufgetürmt waren, als müsse er sie für ihren verpassten Auftritt trösten. Verdammter Frömmlerhof! Wehmütig versank er in Träumen aus flüsternder Seide und knisterndem Brokat, schnitt in Gedanken Schecken, Wämser, gepluderte Hosen, Prunkroben und Feststaat.
Cass Blick flog zu der Schneiderpuppe bei der Tür, die in ein üppig gepolstertes Wams für den Thronerben gehüllt war. Dünn wie die Zedernholzglieder der Puppe waren die Arme des Königs durch den zähen Husten. Sie sah ihn oft genug, um das zu wissen. Sir Henry Sidney, Edwards Erster Kammerherr, sorgte dafür. »Ihr tut ihm gut. Eure Gespräche beleben ihn.« Obwohl Sidney ein Schwiegersohn Dudleys war, schien er aufrichtig um den König besorgt zu sein. Beschämt senkte Cass die Lider. Anders als ich.
Mit einer Entschuldigung hatte zwischen ihr und Edward eine tastende Freundschaft begonnen. Zumindest für ihn.
»Es tut Uns leid, was mein ... was Unser verstorbener Vater Euch angetan hat«, hatte der Tudor-Erbe an einem Abend mit vom Husten rauer Stimme gesagt. »Am Tag Unserer Volljährigkeit werden Wir Anne Askew zur Märtyrerin des neuen Glaubens erheben.« Eine Ehre, an der Cass so wenig lag wie an Jane Greys kindlicher Verklärung des qualvollen Sterbens.
Dankenswerterweise fiel Jane Greys Name nur noch selten zwischen ihr und dem König, Gedanken an sein Testament und damit an den eigenen Tod schienen Edward wenig erbaulich zu sein. Cass hoffte aufrichtig, dass er gesunden würde und dass sich Dudleys Pläne als unnötig erweisen würden, auch wenn sie sie widerwillig gutheißen musste. Alles war besser als Maria Tudor auf dem Thron, und der junge Herrscher hatte sich rasch bereit gefunden, die Thronfolge zu ändern.
»Käme sie an die Macht«, hatte er befunden, »würden in England bald wieder mehr Menschen als Kerzen brennen. Sie kann ihr spanisches Blut nicht verhehlen und hat die Reform unseres Vaters immer bekämpft.« Edward verabscheute Spaniens Inquisition und, wichtiger noch – er wollte regieren.
Cass straffte den Rücken. Nein, was sie tat, war kein Betrug. An niemandem. Schließlich diente sie dem Tudor-Erben nicht im Bett, sondern als heimliche Gefährtin für religiöse Dispute, die er mit seinen Lehrern und Höflingen nicht zu führen wagte. Edward nannte sie die Stimme seines Volkes, die er hören wollte. In ihrer Gegenwart schmiedete er mit Eifer Pläne für sein Reich Gottes auf Erden, in dem Barmherzigkeit Gesetz sein würde und man wieder über den Glauben diskutieren könne.
Selbst wenn er später nur einen Bruchteil von dem verwirklichen konnte, was er sich leidenschaftlich ausmalte, würde er ein großer König sein.
Rasch wandte Cass den Blick von der bunten Schneiderpuppe ab, die wie zum Hohn an ein Skelett erinnerte. Unsinn! Auch Edwards verstorbener Vater Heinrich, so hieß es, war in jungen Jahren schmal gewesen. Edwards wachsbleiche Haut war genau wie sein schütteres erdbeerrotes Haar ein Erbteil, das er mit seiner neunzehnjährigen Halbschwester Elisabeth teilte. Und die war zäh wie Ziegenleder.
Als wolle er ihre Gedanken bekräftigen, nahm Dupois sein Lamento wieder auf.
»Der junge Tudor hat schon viele Krankheiten überstanden. Die kritischen Jahre liegen hinter ihm, genau wie die kleinen Pocken im vergangenen Jahr. Ein Husten sollte ihn nicht von einem Fest abhalten. Krank, pah! Sagt man darum das Maiturnier mit fünfhundert Gästen ab?«
In Gedanken reihte er wieder die nicht geschneiderten Kostbarkeiten aneinander: Banner, Wimpel, Baldachine, ja sogar die Pferdeschabracken, die weit unter seiner Würde lagen. Immer noch besser, als gar nichts zu schneidern. Es war eine Katastrophe, unter diesem Knabenkönig zu arbeiten. Selbst die vornehmsten Damen wurden nachlässig, weil Edward dunklen Taft bei Frauen vorzog. Dem Allmächtigen sei Dank, dass wenigstens de Selve, der ihn überredet hatte, ihn an den Tudor-Hof zu begleiten, einige Frauen zu mehr Mühe hinriss.
Nur diese Cass nicht! Warum der Marquis Gefallen an dieser Betschwester fand, blieb dem Schneider ein Rätsel. Pah, er, François Dupois, würde es lösen. Mit Nadel und Faden. Mit wieder erwachtem Elan steckte er die Schnürbrust ab. Bon. Das Kind hatte einen schmiegsamen Leib. Die schmalen Hüften würde der Reifrock kaschieren, die gepolsterten Schleppärmel des Oberkleides würden ihr reizend stehen, das Dekolleté den schlanken Hals entblößen und ... Sein Blick prallte an Cass’ Haube ab.
Dupois schüttelte angewidert den Kopf. »Diese plumpe Kopftracht ist unverzeihlich! Wie eine Dachtraufe hängt Euch das Scheusal in die Stirn. Setzt sie endlich einmal ab.«
Cass hob abwehrend die Hände. Tarnung war wichtiger denn je. Modische Veränderungen wurden bei Hof ebenso sorgsam registriert und entschlüsselt wie die codierten Nachrichten von Diplomaten und Spitzeln. »Mein Lord Dudley besteht darauf, dass ich sie immer trage.«
»Warum? Ihr dürft die Haare zeigen, schließlich seid ihr noch Jungf-?«
Cass errötete.
Dupois brach ab. Nein, das anscheinend nicht mehr. »Nun ja, sehr jung eben. Und Euer Lord Dudley ist nicht mein Herr!«
Mit einem Ruck zog er Cass das winkelförmige Gebilde vom Kopf und entfernte den darunterliegenden Haarbeutel. Sie tat einen überraschten Schrei und riss die Hände hoch, während sich ihr schweres Haar löste und über Nacken und Schultern herabfiel.
»Bien! Ein vielversprechender Anfang«, sagte Dupois und betrachtete die glänzenden Wellen in Cass’ Rücken. Er drehte das Mädchen zu einem mit Silber unterlegten Glasspiegel. Cass erschrak über die Schärfe ihres Abbildes. Noch nie hatte sie sich selbst so klar gesehen, sie kannte ihr Bild vor allem als Spiegelbild auf Wasseroberflächen, blank geputzten Topfböden oder Fensterscheiben bei Nacht. Rasch wandte sie die Augen ab.
»Was soll das? Ich habe diese Kostbarkeit extra aus Venedig kommen lassen. Es ist ein dummer Aberglaube, dass in Spiegeln der Teufel hockt.«
Nein, keine Teufel, sondern etwas weit Entsetzlicheres. Ein Dämon ihrer Vergangenheit. Cass meinte zu fühlen, wie eine erbarmungslose Hand ihr ein rotes Seidenband aus den Haaren riss, das sie als Vierjährige voller Stolz hineingeschlungen hatte, um beim ersten Besuch der Dudleys zu gefallen. »Trinke niemals aus dem vergifteten Brunnen der Eitelkeit«, mahnte eine Stimme, »und gehorche den Dudleys, sie werden sich immer um dich kümmern«. Die Stimme von Anne Askew. Cass öffnete rasch die Augen. Die Erinnerung verblasste so plötzlich, wie sie aufgedämmert war.
Über ihre Schulter hinweg unterzog Dupois Cass’ Gesicht zum ersten Mal einer genauen Prüfung. Er war verblüfft, wie reizlos die englischen Hauben machten. Parbleu, dieses Gesicht bot mehr Möglichkeiten als gedacht!
Gewiss, es war nicht ebenmäßig, aber das braune Haar kontrastierte mit sehr hellen Augen, die er zuvor als unbedeutend und farblos abgetan hatte. Mais non, sie waren von erlesenem Grau. Taubengrau? Kieselgrau? Zinngrau? Von allem etwas, und das in beständigem Wechsel. Oh, de Selve hatte einmal mehr seinen Blick für reizvolle Gesichter bewiesen, auch wenn dieses sich den Gesetzen der Geometrie widersetzte. Der Mund war zu breit, die Nase ein wenig schief, der Ausdruck zu lebhaft, aber alles in allem ... Cass wirbelte herum. Faszinierend! Sogar ein grünliches Schillern wie von Kupferspan war im Grau dieser Augen verborgen.
»Wie könnt Ihr es wagen!«, zischte Cass. »So darf ich mich niemals zeigen!«
Dupois straffte kämpferisch den Rücken. »Au contraire. So müsst Ihr Euch zeigen! Diese Haube mordet all Eure Farben. Dazu das Schwarz Eures Kleides.«
»Es ist dunkelgrau und schluckt Flecken«, wandte Cass wütend ein.
»Die Logik eines Waschweibs! Lernt Ihr die aus Eurer Bibel im englischen Gossenlaut?«
»Ich besitze nur zwei Kleider«, entgegnete das Mädchen heftig.
»Farblose Säcke! Wie gut, dass ich für das Unterkleid meergrüne Seide verwendet habe, dazu das Häubchen im gleichen Ton. Wartet.« Dupois eilte zu seinem Schneidetisch, griff nach einem mit Staubperlen besetzten Haarbogen und schob ihn vorsichtig in Cass’ Haar. »Was für eine Stirn!«, murmelte er mit wachsender Begeisterung. »Und Haut wie Perlmutt! Schaut nicht so trist! Benehmt Euch wie eine Schönheit, dann könnt Ihr eine sein!« Beinahe zumindest.
Cass bückte sich und tastete nach der Giebelhaube. François Dupois – obwohl kein Sportsmann – kickte sie durchs Zimmer wie einen der Lederbälle, die Englands alberne Höflinge gern in Manier ihrer Bauern über die Rasenflächen der Schlossgärten traten.
»Monsieur! Ich sagte doch schon, Die Dudleys schätzen es nicht, wenn ich den Eindruck von Eitelkeit erwecke oder mich über meinen Stand erhebe.«
»Tatsächlich? Gerade die Dudleys hätten Grund zu mehr Nachsicht. Die Eitelkeit der Lady ist so konkurrenzlos wie der Ehrgeiz ihres Gatten! Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so viel Federn zur Schau stellt. Dieser Pfauenkragen beim Dinner für unsere Gesandten! Und dazu Perlen in der Größe von Hühnereiern! Mich hätte nicht verwundert, wenn diese Bruthenne und Mutter neun missglückter Küken laut gegackert hätte.« Dupois zwinkerte Cass verschwörerisch zu, sie lachte wider Willen auf. »Seid froh, dass Ihr das Kukucksei im Nest wart.« Energisch schnürte François Dupois das Mieder zu.
»Hier«, sagte er und reichte ihr das fertige Untergewand aus Muschelseide, das später durch einen Schlitz im mantelartigen Obergewand blitzen würde. Cass streifte das Kleid über Schnürbrust und Flachshemd, der Marquis nestelte lose Ärmel aus gepufftem weißen Batist durch die Ösen in den Schulternähten. Ah, darüber die damastenen Schleppärmel der Robe und der Brustvorsatz!
»Magnifique! Die Farbe trifft es genau. Wartet, ich hole das Oberkleid. Es ist fast fertig. Und später versuchen wir es mit dem Reifrock.« Pfeifend eilte er in den angrenzenden Raum.
Cass warf einen schnellen Blick zum Spiegel. Trinke nicht aus dem vergifteten Brunnen der Eitelkeit! Verärgert runzelte sie die Stirn. Schmücke dich nicht um der Bewunderung willen. Gottes Liebe allein ist unwandelbar.
Schluss mit diesem Unsinn! Sie wusste sehr wohl, dass sie keine Schönheit nach höfischem Geschmack war. Blond und sanft, aber ... Sie wagte es kaum zu denken: Jesus Christus! Sie konnte – auf ihre Weise – hübsch sein! Hatte Antoine de Selve sie schon immer so gesehen? Ihr nicht nur geschmeichelt?
Hör nicht auf die, die sagen, alles an dir sei grau wie von Stein. Du bist meine Taube, die Makellose!
Sie fühlte eine Welle unbändiger Freude in sich hochsteigen. Wie so oft in den letzten Tagen wurde ihr fast übel vor Glück. Fast? Verfluchtes Mieder! Cass drehte sich vom Spiegel weg, wollte noch die Hand vor den Mund schlagen. Zu spät. Sie erbrach sich in hohem Bogen auf die Truhe und ihr Wollkleid.
Sie keuchte, rang nach Atem, würgte noch einmal, spie Erbrochenes aus. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sterbenselend und ausgeliefert gefühlt. Diese plötzliche Übelkeit ... Cass stockte der Atem. Rührte sie von ... Gift? Sie meinte ersticken zu müssen, als ein trockenes Würgen ihre Kehle verschnürte. Angstvoll rang sie nach Atem, krümmte sich, biss die Zähne aufeinander, zwang den Anfall nieder.
Sie wischte sich zitternd die Stirn. Langsam richtete sie sich auf. Es hieß, ein weißes Pulver rufe genau diese Art des Erbrechens hervor, gefolgt von entsetzlichen Durchfällen. Schon unter Heinrich dem Achten war es mehrfach eingesetzt worden – damals gegen katholische Bischöfe und meist von bestochenen Köchen. Edwards Vater hatte eigens ein Gesetz über die Bestrafung von Giftmördern erlassen. Seither wurden sie bei lebendigem Leib in Öl gesotten. Vergebens! Die Giftmischerei blieb ein beliebtes Mittel der unblutigen Vernichtung.
Edward argwöhnte seit Kurzem, dass die Spanier oder Katholiken seines Kronrates ihm diesen Tod in kleinen Dosen verabreichten. Der ganze Hof schwirrte von dem Gerücht, seine Gegner wollten den Machtwechsel herbeizwingen. Der junge König hatte ihr einige seiner früheren Vertrauten aufgezählt, die aus unerklärlichen Gründen erkrankt und gestorben seien. Hatte sie sich verraten?
Aber sie war doch nur Cass, eine Ketzerwaise, die Ziehtochter von ... Sie starrte in den Spiegel. Nackte Todesfurcht starrte zurück.
Dudley!
Er würde nicht zögern, sie zu töten, falls er ihren Verrat entdeckt hatte!